Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Mit Dynamit geladen" | Pariser Friedensordnung | bpb.de

Pariser Friedensordnung Editorial Erwartung und Überforderung. Die Pariser Friedenskonferenz 1919 Friedensmacherinnen. Der Frauenfriedenskongress in Zürich 1919 Die Kriege nach dem Krieg. Zum Kontinuum der Gewalt von 1917/18 bis 1923 Krieg gewonnen, Friedensschluss verloren? Frankreichs und Großbritanniens Kolonialreiche nach dem Ersten Weltkrieg "Mit Dynamit geladen". Das Prinzip nationaler Selbstbestimmung und sein globales Vermächtnis Versailler Vertrag: Ein Frieden, der kein Frieden war Verhasster Vertrag. "Versailles" als Propagandawaffe gegen die Weimarer Republik "Schmach" und "Schande". Parlamentsdebatten zum Versailler Vertrag

"Mit Dynamit geladen" Das Prinzip nationaler Selbstbestimmung und sein globales Vermächtnis

Alan Sharp

/ 18 Minuten zu lesen

Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker erhielt zum Ende des Ersten Weltkrieges ein Grundsatz zusätzlichen Anschub, der auch jenseits der in Paris ausgehandelten Friedensverträge weltweit Machtverschiebungen nach sich zog und noch heute Fragen aufwirft.

Im September 1919 machte sich US-Präsident Woodrow Wilson zu einer Vortragsreise durch sein Land auf, um die Vorbehalte gegen den Versailler Vertrag abzubauen und den US-Kongress durch eine entsprechende Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu einer Ratifizierung zu bewegen. Erschöpft von den anstrengenden sechs Monaten in Paris, wo er sich mit dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, dem britischen Premierminister David Lloyd George und dem italienischen Ministerpräsidenten Vittorio Orlando sowie Vertretern weiterer Nationen von Januar bis Juni 1919 getroffen hatte, um ein Friedensabkommen auszuhandeln, erlitt er einen Schlaganfall. Da Wilson nicht zu Kompromissen bereit war, zugleich aber auch nicht genügend seiner republikanischen Gegner, ja nicht einmal seiner demokratischen Verbündeten überzeugen konnte, ging die Abstimmung im Senat am 19. November verloren. Es gab keine Einigung, der Vertrag wurde vom Kongress nicht ratifiziert. Zurück blieben Großbritannien und Frankreich als widerstrebende Hüter eines verwaisten Völkerbundes und als Erben eines Abkommens, auf das sie sich ohne Wilson nicht eingelassen hätten.

Die Ablehnung des Vertrages durch den US-Kongress war ein bedeutender Moment in einem Jahr, in dem ohnehin kein Mangel an solchen Momenten geherrscht hatte. Die bittere Bemerkung des britischen Premierministers Stanley Baldwin 1932, "von Washington bekommt man nichts als Worte, große Worte, aber eben nur Worte", gibt den anhaltenden Unmut wider, den man angesichts des Rückzugs der Amerikaner empfand. In den Augen der anderen hatten sie sich aus der Verantwortung gegenüber der neuen Weltordnung geschlichen, zu deren Gestaltung Wilson so viel beigetragen hatte.

Wilson gestaltet die Debatte

Nach einem über vier Jahre währenden Krieg, von dem man ursprünglich angenommen hatte, dass er an Weihnachten 1914 wieder vorbei sein würde, versuchten die Menschen in allen kriegführenden Staaten, einen Sinn für die furchtbaren Opfer zu finden, und hofften, dass aus dem Gemetzel eine bessere Welt entstehen könnte. Viele fühlten sich 1918 von Wilsons Reden inspiriert, in denen er seine Vision einer Welt nach dem Krieg darlegte. Am 8. Januar stellte er sein "14-Punkte-Programm" für eine Nachkriegsordnung vor, das er am 11. Februar um die "vier Prinzipien" und am 4. Juli um die "vier Ziele" sowie am 27. September um die "fünf Einzelheiten" ergänzte. Er fasste sie wie folgt zusammen: "Was wir anstreben, ist die Herrschaft des Rechts, gegründet auf der Zustimmung der Regierten und gestützt durch die organisierte Meinung der Menschheit."

Als im Oktober 1918 eine Kriegsniederlage für das Deutsche Reich unausweichlich schien und sich immer mehr Verbündete abkehrten, wandte sich die deutsche Regierung mit der Bitte an Wilson, einen Waffenstillstand unter der Zusicherung auszuhandeln, dass ein späteres Abkommen seine 14 Punkte widerspiegeln würde. Dies sagte Wilsons Außenminister Robert Lansing am 5. November trotz einiger Bedenken zu.

Clemenceau spottete über Wilsons überbordenden Idealismus – "Gott der Allmächtige brauchte nur zehn Punkte" –, aber als der erste US-Präsident, der im Amt ins Ausland reiste, nach Europa kam, setzte man in ihn ähnliche Erwartungen wie in einen Heilsbringer. Noch gab es kein Fernsehen, das Staatschefs auf Normalgröße schrumpfen ließ, und so sahen die Europäer Wilson in den Wochenschauen überlebensgroß auf der Kinoleinwand, wodurch sein Image als potenzieller Wunderheiler einer kaputten Welt noch verstärkt wurde. Bereits vor dem Empfang durch begeisterte Menschenmengen in Paris, Rom und London befürchtete der US-Präsident, dass er übermäßige Hoffnungen geweckt habe und der Frieden zu "einer Tragödie der Enttäuschung" werden könnte. Später bemerkte er reumütig: "Was von mir erwartet wird, kann nur Gott leisten."

Sein Versäumnis, die an ihn gerichteten Erwartungen zu erfüllen, sorgte später dafür, dass sich seine einstigen Bewunderer mit großer Bitterkeit von ihm abwandten. Ende 1918 war er es jedoch, der die Debatte prägte. Dass seine Verbündeten die inspirierenden, aber vagen Versprechungen, die unbeabsichtigte Hoffnungen geweckt hatten, nur gezwungenermaßen befürworteten, minderte die ohnehin geringen Erfolgsaussichten, die zusätzlich durch die beispiellos hohen moralischen Standards beeinträchtigt wurden, die sich die Alliierten bei der Friedenskonferenz setzten. Die enttäuschten und benachteiligten Parteien konnten daher leicht eine gewisse Heuchelei in Wilsons Rhetorik erkennen, die sich deutlich von den komplexen Realitäten der Situation nach dem Krieg in Europa und der weiteren Welt unterschied. Das galt vor allem für das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Recht auf Selbstbestimmung

Wilson hatte die Idee eines Selbstbestimmungsrechts der Völker nicht erfunden, sah jedoch eine grundlegende Ursache des Krieges darin, dass dieses Recht einem Großteil der Menschen in Ost- und Mitteleuropa verwehrt worden war. Bereits vor dem Krieg hatte es in Irland und in Österreich-Ungarn Autonomiebestrebungen gegeben, und auch die Polen, deren Staat Ende des 18. Jahrhunderts vom Habsburgerreich, von Russland und Preußen geschluckt worden war, hatten sich als unruhige Untertanen erwiesen. Wilsons Definition, Selbstbestimmung sei kein bloßes Wort, sondern ein unerlässliches Prinzip des Handelns, fungierte nun als zusätzlicher – unbeabsichtigter – Ansporn für den ethnischen Nationalismus, der durch den Krieg gefördert worden war. Wilson setzte Selbstbestimmung mit der Souveränität des Volkes gleich und betonte als Präsident eines Einwanderungslandes den staatsbürgerlichen gegenüber dem ethnischen Nationalismus. Dieses Konzept stand entgegengesetzt zur deutschen und osteuropäischen Tradition, in der die Nationalität nicht selbstbestimmt, sondern durch Abstammung, Sprache und Religion festgelegt war. Nach dem Krieg, in dem multinationale Reiche auf beiden Seiten die potenziell selbstmörderische Politik verfolgt hatten, nationalistische Unzufriedenheit unter ihren Gegnern zu schüren, hatte dieses Konzept einen schweren Stand.

Selbst in Ost- und Mitteleuropa gab es, wie Wilson später eingestand, weit mehr aufstrebende nationale Gruppen, als er sich vorgestellt hatte. Seine Rhetorik fand jedoch bei aufmerksamen Zuhörern weltweit großen Anklang, auch wenn er das nie beabsichtigt hatte. Die vermeintliche Unterstützung durch den Führer des mächtigsten Landes der Welt war eine zusätzliche Ermunterung für die antikolonialen Bewegungen, deren Ambitionen bereits durch Maßnahmen in Kriegszeiten und verschiedene Ereignisse angestachelt worden waren. US-Außenminister Lansing, ein erfahrener Politiker, der von der Friedenskonferenz zunehmend frustriert war, befürchtete, dass Wilson die Konsequenzen seiner Rede nicht bedacht hatte. "Die Formulierung", schrieb er, "ist schlicht mit Dynamit geladen. Sie wird Hoffnungen wecken, die niemals verwirklicht werden können. Ich fürchte, sie wird Tausende das Leben kosten … Was für ein Unglück, dass die Formulierung je ausgesprochen wurde! Was für ein Elend sie bringen wird!"

Eine Grenze in Irland

In Irland, wo die anhaltende Kampagne um die Selbstverwaltung die britische Politik seit über 50 Jahren beschäftigte, weigerten sich die 73 Abgeordneten von Sinn Féin, der revolutionären irisch-republikanischen Unabhängigkeitsbewegung, die bei den allgemeinen Parlamentswahlen im Dezember 1918 ins britische Unterhaus gewählt worden war, ihre Sitze einzunehmen. Stattdessen riefen sie am 21. Januar 1919 die irische Republik aus und installierten ein eigenes Parlament in Dublin, das Dáil Éireann. Wie ihre Kampfgenossen im ehemaligen Habsburger-, Zaren- und Deutschen Reich gaben sie sich nicht länger mit der Autonomie innerhalb einer föderalen Struktur zufrieden, die viele von ihnen vor dem Krieg angestrebt hatten. Zusammen mit anderen aufstrebenden nationalen Gruppen sandten sie Delegierte nach Paris, in der Hoffnung, Wilsons Unterstützung zu gewinnen und in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Doch weder Wilson noch Clemenceau wollten sie empfangen. Dennoch sah sich der britische Premier Lloyd George mit einer massiven Krise konfrontiert, die bereits vor dem Krieg existiert hatte und nur verschoben worden war, als man die Umsetzung des Irish Home Rule Act 1914 für die Dauer des Krieges aufgehoben hatte.

Das Gesetz war erst nach erbitterten Auseinandersetzungen im Parlament verabschiedet worden, bei denen die konservativen Gegner der liberalen Regierung von Herbert Asquith die Forderungen der überwiegend protestantischen Unionisten im Nordosten der Insel unterstützt hatten, weiterhin von Westminster regiert zu werden, selbst wenn es dabei zum illegalen Einsatz von Gewalt kommen sollte. Da sich sowohl die Unionisten als auch die irischen Nationalisten bewaffneten, drohte ein Bürgerkrieg. Doch dann verlagerte sich der Schwerpunkt der Politik aufgrund der Julikrise in Europa, und der Führer der Irish Parliamentary Party, John Redmond, bot die volle irische Unterstützung der britischen Kriegsanstrengungen an. Redmond hoffte, dass die Opfer der Iren, Katholiken wie Protestanten, ein gemeinsames Band schaffen würden, durch das die Umsetzung der Home Rule nach dem Krieg leichter fallen würde. Durch die harsche Reaktion der Briten auf den republikanischen Osteraufstand 1916 in Dublin, der rasch unterdrückt wurde, die anschließenden Hinrichtungen im Schnellverfahren und den Versuch von 1918, die Wehrpflicht auf Irland auszudehnen, schmolz die Unterstützung für Redmond jedoch, während gleichzeitig der Zuspruch für Sinn Féin wuchs. Obwohl die unionistische 36. (Ulster) Division und die nationalistische 17. (irische) Division im Juni 1917 gemeinsam in der Schlacht von Messines kämpften, glaubten beide Parteien, dass nur sie durch das von ihnen vergossene Blut ein Anrecht auf die Unterstützung der Briten bei ihren gegeneinander gerichteten Bestrebungen hätten, wobei die Männer aus Ulster vor allem auf ihre schweren Verluste am 1. Juli 1916 an der Somme verwiesen.

Am selben Tag, an dem die Republik ausgerufen wurde, wurden in Tipperary die ersten Schüsse im Irischen Unabhängigkeitskrieg abgefeuert. Zwei Polizisten, die Sprengstoff bewachen sollten, kamen dabei ums Leben. 1919 und 1920 führte die neu gegründete Irish Republican Army den Aufstand gegen die Truppen der britischen Krone in Irland an. Eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt kam in Gang, mit Terror und Gegenterror. Im November 1920 wurde das Kriegsrecht verhängt. Angesichts des internationalen Drucks und der Kritik im eigenen Land erklärte sich Lloyd George schließlich zu einem Waffenstillstand bereit und handelte den anglo-irischen Friedensvertrag vom Dezember 1921 aus. Dadurch wurde Irland in einen Freistaat im Süden geteilt, der mit einer eigenständigen Regierung Teil des British Empire war, und in ein Gebiet im Norden, das im Vereinigten Königreich blieb und sechs der neun Grafschaften der historischen Provinz Ulster umfasste. Sicher muss niemand an die Bedeutung der Grenze erinnert werden, die aufgrund dieses Abkommens entstand, ebenso wenig wie an die problembeladene Geschichte Irlands und Nordirlands seit 1921.

Imperiale Probleme

Obwohl die Einigung mit dem Deutschen und dem Osmanischen Reich das britische und französische Herrschaftsgebiet enorm vergrößerte – eine Tatsache, die die Mandate des Völkerbundes kaum verschleierten –, gab es Anzeichen, dass dem britischen wie französischen Kolonialreich massive interne Probleme bevorstanden, auch wenn die äußere Bedrohung abgenommen hatte. Die britische Kriegserklärung von 1914 hatte das gesamte Empire gebunden, doch im Laufe des Krieges wuchs aufgrund der Kriegserfahrungen und Opfer das Selbstbewusstsein in den Dominions. König George V. hätte den Versailler Vertrag 1919 einfach auf Anraten seines Parlaments in Westminster ratifizieren können, doch man hielt es für politisch klüger, vor der Unterzeichnung die Zustimmung der jeweiligen Parlamente der Dominions einzuholen. Das war noch erfolgreich, als die Briten 1922 jedoch angesichts erneuter Feindseligkeiten mit der Türkei um Unterstützung aus dem Empire baten, reagierten nur Neuseeland und Neufundland – ein weiteres Anzeichen für die gewaltigen Veränderungen seit 1914.

Beim Versuch, die Kontrolle zu behalten, stützten sich die imperialen Mächte auf Zwang und Zugeständnisse. Bestrebungen zur gütlichen Einigung wurden allerdings häufig durch Zwangsmaßnahmen zunichte gemacht. In Indien gewährten die Morley-Minto-Reform von 1909 und die Montagu-Chelmsford-Reform von 1919 den Provinzregierungen ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. Aber nach den Ermittlungen zu den revolutionären Verschwörungen 1915 in Bengalen und im Punjab empfahl der Vorsitzende des Untersuchungskomitees, Sir Sidney Rowlatt, die Ausweitung der Sicherheitsmaßnahmen aus Kriegszeiten gemäß dem Defence of India Act, durch das Personen, die unter Terrorismusverdacht standen, ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden konnten. Der Indische Nationalkongress, der 1885 ursprünglich als ein Forum gegründet worden war, in dem eine gebildete indische Elite in Dialog mit der britischen Regierung treten konnte, hatte sich zunehmend radikalisiert, unter anderem aufgrund des unglücklichen Versuchs des Vizekönigs Lord Curzon, Bengalen vor dem Krieg zu teilen.

Wilsons Worte gaben den indischen Bestrebungen Auftrieb – wie der nationalistische Unabhängigkeitskämpfer Lajpat Rai nicht müde wurde, die Leser in jeder Ausgabe seiner Zeitung "Young India" zu erinnern: "Europa ist nicht der einzige Ort, wo die Demokratie gesichert werden muss." Frustriert darüber, dass Bal Gangadhar Tilak, der führende Vertreter der swaraj (Selbstregierung) nicht als Delegierter zur Pariser Friedenskonferenz reisen konnte, und erzürnt, weil die indische Unterstützung im Krieg nicht genügend wertgeschätzt wurde, wie sich unter anderem in der Verabschiedung des Rowlatt Act im März 1919 zeigte, begann der Indische Nationalkongress unter Führung eines in England ausgebildeten Juristen namens Mohandas Gandhi eine Widerstandskampagne, um die Briten von einem Abzug aus Indien zu überzeugen. Am 13. April 1919 mündete eine Versammlung in Amritsar in eine Tragödie, als britische Truppen unter General Reginald Dyer ohne Vorwarnung das Feuer auf Demonstranten eröffneten. Mindestens 379 Inder wurden getötet, über 1500 verwundet. Das Massaker von Amritsar wurde zu einem wichtigen Symbol und mobilisierte die Massen für die nationalistische Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich ihr Ziel, die indische Unabhängigkeit, erreichte.

Der "Wilsonsche Moment" 1919 hatte weltweit Auswirkungen. Am 8. März verhafteten die britischen Behörden in Ägypten Saad Zaghlul und drei weitere führende Nationalisten und deportierten sie nach Malta. Daraufhin kam es unter der Führung der ägyptischen Nationalisten, die ohnehin frustriert darüber waren, in Paris kein Gehör zu finden, zu einer Reihe von Unruhen, die sich von Kairo rasch über das gesamte Land verbreiteten: die Revolution von 1919, die zu einem Wendepunkt im Kampf um die Unabhängigkeit wurde. Nach drei Jahren der Gewalt gewährten die Briten eine partielle Unabhängigkeit, bei der jedoch die Landesverteidigung und die Kontrolle über den Suezkanal in britischer Hand blieben.

In Korea riefen Nationalisten am 1. März 1919 die Unabhängigkeit aus. Die Formulierungen in ihrer Erklärung waren stark von Wilsons Sprache geprägt, allerdings bestand die japanische Herrschaft noch bis 1945 weiter. In China war man enttäuscht darüber, dass die chinesische Delegation es nicht geschafft hatte, die "ungleichen Verträge" mit ausländischen Mächten aufzuheben, die die Souveränität des Landes beschränkten. Ebenso wenig hatte sie verhindern können, dass Japan die ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou erhielt. Das führte am 4. Mai zu einem Studentenprotest in Beijing, der als ein Schlüsselmoment in der Entwicklung des chinesischen Nationalismus gilt. China weigerte sich, den Versailler Vertrag zu unterzeichnen, und Wilson, der einstige Held, wurde nun geschmäht. Für einen jungen politischen Aktivisten namens Mao Zedong war jener Sommer von entscheidender Bedeutung. Die Ereignisse prägten sein Verständnis von Chinas Problemen und dessen Platz in der Welt. Vor allem ließ er sich fortan von Wladimir Lenin und dem Bolschewismus inspirieren.

Das Beispiel Maos und des vietnamesischen Revolutionärs Ho Chi Minh, der sich nach dem erfolglosen Versuch, die nationalen Belange seines Landes bei der Konferenz vorzubringen, ebenfalls dem Kommunismus zuwandte, erinnern daran, dass Wilsons Version der Selbstbestimmung nicht das einzige damals verfügbare Modell war.

Herausforderung Bolschewismus

Wilson hatte seine 14 Punkte auch als Entgegnung auf die bolschewistischen Forderungen nach Frieden und Selbstbestimmung formuliert, die nach der Machtergreifung der Bolschewisten im Oktober 1917 in Russland große Anziehungskraft entwickelten. Russland verkörperte ein Dilemma, dem sich die Friedenskonferenz in Versailles nicht ausreichend widmete. Einerseits unternahm man einen erfolglosen Versuch, alle Parteien, die um die Vorherrschaft im postrevolutionären Russland kämpften, auf einer Insel im Marmarameer zusammenzubringen, und es gab halbherzige Bemühungen, Kontakt zu Lenin und weiteren führenden Bolschewiki aufzunehmen. Andererseits hätten einige alliierte Führer, darunter der französische Befehlshaber der alliierten Armeen an der Westfront, Marschall Ferdinand Foch, und der britische Kriegsminister Winston Churchill, es gern gesehen, wenn sich aus den unkoordinierten Interventionen der Alliierten in Russland, mit denen man ursprünglich die Lieferung von Kriegsmaterial nach Deutschland unterbinden wollte, ein gezielter Feldzug gegen die Bolschewisten entwickelt hätte. Doch man konnte sich nicht auf eine klare politische Linie einigen, sodass der Versailler Vertrag das größte Land der Welt in zwei kurzen Klauseln abhandelte.

Für einen Großteil des Jahres 1919 blieb das Schicksal Russlands und der Revolution ungeklärt, das Land war weiterhin gefangen in einem heillosen Durcheinander von Auseinandersetzungen zwischen Nationalisten in den aufstrebenden baltischen Staaten, der Ukraine und dem Kaukasus, Kosaken, verschiedenen konterrevolutionären Gruppierungen, der bolschewistischen Roten Armee und – an den Rändern – diversen Interventionstruppen der Alliierten. Bis zum Herbst schien der wahrscheinlichste Ausgang der Sieg einer oder mehrerer Weißer Armeen, die das bolschewistische Kernland bedrohten, das Lenin zu einem hohen territorialen und ökonomischen Preis für die Revolution gesichert hatte, als er im März 1918 den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich unterzeichnet hatte.

Im Mai 1919 hätte General Nikolai Judenitsch, der Oberbefehlshaber aller Weißen Truppen im Nordwesten Russlands, beinahe Petrograd (Sankt Petersburg) eingenommen. Nachdem Admiral Alexander Koltschak, der selbsternannte Oberste Regent Russlands, beeindruckende Siege in Sibirien vorweisen konnte, wurde seine Regierung von den Alliierten de facto anerkannt, doch im Juni wurde er vernichtend geschlagen. Den Sommer über erweiterte General Anton Denikin seine Machtbasis in der Don-Region, errang die Kontrolle über einen Großteil der Ukraine und eroberte im September Kursk und Woronesch. Am 14. Oktober nahm er Orjol ein, das nur 400 Kilometer von Moskau entfernt war, während Judenitsch erneut Petrograd bedrohte. Es sah ganz danach aus, als ob eine der beiden Weißen Armeen den Wettlauf nach Moskau gewinnen würde. Aber dann zwang Leo Trotzkis Rote Armee Judenitsch zum Rückzug und besiegte anschließend Denikin. Anfang 1920 hatten die Bolschewiki ihre wichtigsten Gegner geschlagen.

Der Sieg war auf eine Kombination aus der wachsenden Stärke der Roten Armee und der Unfähigkeit der Weißen zurückzuführen, deren interne Streitereien, reaktionäre Sozialpolitik und Entfremdung potenzieller nationalistischer Verbündeter durch ihr Beharren auf der Integrität des Zarenreiches eine potenziell starke Position untergruben. Nun musste die Welt entscheiden, ob sie es mit einem Staat zu tun hatte, dessen Ziele und Politik sich an der Realpolitik orientierten, oder einer tausendjährigen Einheit, die von einer eschatologischen Ideologie getrieben wurde – ein Dilemma, das schon bald noch durch das faschistische Italien und später durch das nationalsozialistische Deutschland verschärft werden sollte. Allerdings sollte die Sowjetunion beide überleben und erst im Dezember 1991 ihr Ende finden.

Wenn 1919 das Jahr war, in dem in Russland nicht die Weißen siegten, dann war es auch das Jahr, in dem sich in der übrigen Welt, vor allem in weiten Teilen Europas, nicht die Roten durchsetzten. Die Niederlage im Krieg, Revolutionen und Auflösungserscheinungen hatten Jahrhunderte alte politische Gebilde wie das Zarenreich, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich zerstört. Dadurch entstand in Ost- und Mitteleuropa ein Machtvakuum, das, wie die Ausrichter der Friedenskonferenz befürchteten, vom Kommunismus ausgefüllt werden könnte. Dadurch erhöhte sich der Druck für einen raschen Abschluss der Verhandlungen zusätzlich. Am 4. April notierte Lansing: "In Mitteleuropa wüten die Flammen der Anarchie; die Menschen sehen keine Hoffnung; die Roten Armeen Russlands marschieren westwärts. Die Revolutionäre haben Ungarn fest im Griff; Berlin, Wien und München wenden sich den Bolschewisten zu." Auch in den erst kürzlich vom Zarenreich unabhängig gewordenen baltischen Republiken schienen die Bolschewisten auf dem Vormarsch.

Am 21. März 1919 entstand mit der Ausrufung der Ungarischen Räterepublik der zweite kommunistische Staat weltweit, auf die am 7. April schon bald ein dritter folgte: die Münchner Räterepublik. Entgegen Lansings Befürchtungen bestanden sie nicht lange. Lenin konnte angesichts der existenziellen Bedrohung seines Regimes nur Ratschläge, aber wenig handfeste Unterstützung bieten. Die deutsche Reichswehr, verstärkt durch die paramilitärischen Verbände der Freikorps, stürzte die Münchner Räte nach heftigen Straßenkämpfen am 1. Mai. Béla Kuns Regierung in Ungarn hielt sich etwas länger, musste sich jedoch am 1. August, bedrängt von allen Seiten, einer rumänischen Invasion geschlagen geben. Die britische Marine übernahm 1919 die Kontrolle über die Ostsee, doch in der Region, wo später Estland, Finnland, Lettland und Litauen entstehen sollten, rangen Nationalisten, Zarentreue, die Rote Armee und deutsche Freikorps um die Vorherrschaft. Lenins Definition der Selbstbestimmung schloss Gebiete wie Georgien, die Ukraine, Armenien und Aserbaidschan, die erst vor Kurzem ihre Unabhängigkeit gewonnen hatten, nicht mit ein. Dort etablierten die Sowjets nach und nach ihre Herrschaft. Allerdings musste Lenin die Unabhängigkeit der baltischen Provinzen anerkennen und insgesamt eingestehen, dass die Weltrevolution zumindest vorerst verschoben war. Der sowjetische Außenminister Georgi Tschitscherin beschrieb den Friedensvertrag von Dorpat, mit dem die Unabhängigkeit Estlands anerkannt wurde, im Februar 1920 als "das erste Experiment der friedlichen Koexistenz mit bourgeoisen Staaten".

Bleibendes Vermächtnis

Durch die Friedensverträge von 1919 wurde die Zahl der Menschen, die im ethnischen Mosaik Ost- und Mitteleuropas unter einer fremden Nationalität lebten, von 60 Millionen auf 30 Millionen reduziert. Die Vertragsmacher scheuten vor Zwangsumsiedlungen zurück, allerdings gab es brutale Ausnahmen wie den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei 1923 sowie die Vertreibung einiger Deutscher aus Elsass-Lothringen. Nach 1945 hatte man weniger Hemmungen: Millionen Deutsche wurden aus der Tschechoslowakei vertrieben oder mussten Polen für immer verlassen, als dessen Grenzen über 150 Kilometer nach Westen verschoben wurden. Der Holocaust hatte die jüdische Bevölkerung auf winzige Bruchteile reduziert – 0,003 Prozent in Polen und in der Tschechoslowakei. In sieben osteuropäischen Ländern betrug der Anteil der Minderheiten, die in den 1930er Jahren 25 Prozent ausgemacht hatten, 1970 nur noch sieben Prozent. Staaten waren nun deutlich "nationaler", allerdings war das mit Methoden erreicht worden, die die Vertragsmacher von Paris bei all ihren Fehlern streng verurteilt hätten.

Wilson und Lenin gaben einem Prinzip zusätzlichen Anschub, das inmitten eines internationalen, auf Staaten basierenden Systems für Unsicherheit sorgte. Wenn die Souveränität und territoriale Integrität dieser Staaten nicht gesichert war, war das gesamte System in Gefahr. Aber wenn eine ausreichende Mehrheit der Einwohner eines Staates sich abscheiden will, hat sie dann auch das Recht dazu? Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros Boutros-Ghali schrieb in seiner 1992 veröffentlichten "Agenda für den Frieden": "Die Vereinten Nationen haben ihre Türen nicht verschlossen. Wollte jedoch jede ethnische, religiöse oder sprachliche Gruppe Anspruch auf Staatshoheit erheben, käme es zu einer maßlosen Zersplitterung, und es würde immer schwieriger, Frieden, Sicherheit und wirtschaftliches Wohlergehen für alle zu verwirklichen." Allerdings hatte er keine konkreten Vorschläge, wie das von ihm angestrebte Ziel zu erreichen sei: "Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Staaten innerhalb des etablierten internationalen Systems und der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker – beides Grundsätze von großem Wert und großer Bedeutung – in der vor uns liegenden Zeit in ein gegensätzliches Verhältnis zueinander geraten."

Der Widerspruch zwischen diesen beiden Grundsätzen beschäftigt uns noch heute. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung Jugoslawiens tauchten viele der gescheiterten Staaten aus ihrer scheinbaren Unabhängigkeit unter sowjetischer Vorherrschaft wieder auf, und der Balkan war erneut in Aufruhr. Das Streben nach einem eigenständigen Kurdistan, anerkannt in dem mit dem Osmanischen Reich ausgehandelten, jedoch nicht ratifizierten Vertrag von Sèvres, doch im Vertrag von Lausanne, der mit Mustafa Kemals Republik geschlossen wurde, nicht mehr erwähnt, sorgt bis heute für Spannungen. Die Entscheidung der Briten für den EU-Austritt 2016 wurde unter anderem durch den Wunsch motiviert, die nationale Souveränität von einer als Superstaat wahrgenommenen Europäischen Union zurückzuerlangen. 2014 stimmten die Schotten gegen die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich, doch das Thema bleibt aufgrund der Unterstützung seitens junger Wählerinnen und Wähler und der Bedenken hinsichtlich des Brexit nach wie vor aktuell. Der Brexit hat auch die Debatte in Irland über eine mögliche neue Abstimmung zur Wiedervereinigung mit Nordirland neu belebt.

2017 ergab ein nicht genehmigtes Referendum in Katalonien bei denjenigen, die abgestimmt hatten, eine starke Mehrheit für die Unabhängigkeit von Spanien. Spanien weigerte sich, das Referendum anzuerkennen, und unterstellte Katalonien direkt der Regierung in Madrid. Das katalanische Regionalparlament wurde aufgelöst, der Ministerpräsident und seine Minister wurden gerichtlich verfolgt. In Ungarn verurteilen nationalistische Gruppen weiterhin den Vertrag von Trianon und machen sich für die Interessen der drei Millionen in sieben Anliegerstaaten lebenden Ungarn stark. Durch den Untergang der Sowjetunion sind 26 Millionen Russen in den ehemaligen Sowjetrepubliken verstreut. Der russische Präsident Wladimir Putin bietet separatistischen Gruppen militärische Unterstützung in der Donbass-Region und behauptet, seine Annexion der Krim sei lediglich eine Bestätigung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bevölkerung auf der Krim. An Minderheiten, die ein Unruhestifter für seine Zwecke missbrauchen könnte, herrscht kein Mangel.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, doch noch vor den schlimmsten Gräueltaten auf dem Balkan schrieb Karl Meyer, Kolumnist bei der "New York Times", am 14. August 1991, Wilsons Traum von der nationalen Selbstbestimmung sei auch Generationen nach der Pariser Friedenskonferenz topaktuell. "Vom Baltikum bis zur Adria, von der Ukraine bis zum Balkan haben die unterdrückten Völker seinem Imperativ – und oft problematischen Prinzip – neues Leben eingehaucht. Gemessen an den Ergebnissen war Wilson sogar ein erfolgreicherer Revolutionär als Lenin." Wenn ja, dann allerdings zu einem hohen Preis. Wie Wilson dem US-Senat am 19. August 1919 sagte: "Sie kennen und können die Befürchtungen nicht ermessen, die ich durchgemacht habe, weil durch meine Worte Millionen Menschen so große Hoffnungen gemacht wurden." Lansing formulierte es drastischer: "Man stelle sich die Gefühle des Autors vor, wenn er die Toten zählen muss, nur weil er eine Formulierung in die Welt gesetzt hat!"

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für weiterführende Literatur vgl. Seamus Dunn/T.G. Fraser (Hrsg.), Europe and Ethnicity. World War I and Contemporary Ethnic Conflict, London 1996; Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017; Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 1997; David Reynolds, The Long Shadow. The Great War and the Twentieth Century, London 2013; Alan Sharp, Versailles 1919. A Centennial Perspective, London 2018; Zara Steiner, The Lights That Failed. European International History 1919–1933, Oxford 2005.

  2. Geäußert gegenüber Thomas Jones, A Diary with Letters. 1931–1950, London 1954, S. 30.

  3. Woodrow Wilson, Rede von Mount Vernon, 4.7.1918, zit. nach Harold Temperley (Hrsg.), A History of the Peace Conference of Paris, Bd. 1, Oxford 1920, S. 444.

  4. Zit. nach Margaret MacMillan, Peacemakers: The Paris Conference of 1919 and Its Attempt to End War, London 2001, S. 41.

  5. Zit. nach George Creel, The War, the World and Wilson, New York, 1920, S. 161f.

  6. Zit. nach Antony Lentin, Lloyd George, Woodrow Wilson and the Guilt of Germany, Leicester 1984, S. 138.

  7. Robert Lansing, The Peace Negotiations. A Personal Narrative, Boston 1921, S. 97f.

  8. Siehe auch den Beitrag von James Kitchen in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  9. Manela (Anm. 1).

  10. Robert Lansing, Tagebucheintrag vom 4.4.1919, zit. nach David Perman, The Shaping of the Czechoslovak State, Leiden 1962, S. 169.

  11. Zit. nach Richard Debo, Survival and Consolidation: The Foreign Policy of Soviet Russia 1918–1921, Montreal 1992, S. 145.

  12. Robert Lansing, Tagebucheintrag vom 30.12.1918, zit. nach Daniel Patrick Moynihan, Pandaemonium: Ethnicity in International Politics, Oxford 1994, S. 83.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Alan Sharp für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist emeritierter Professor für Internationale Geschichte an der Ulster University in Coleraine, Nordirland. E-Mail Link: aj.sharp@ulster.ac.uk