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Das Unbehagen an derGesellschaft | Soziologie | bpb.de

Soziologie Editorial Europäisierung - Soziologie für das 21. Jahrhundert Bildung, Kultur und elementare soziale Prozesse Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften Soziologie - Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft Das Unbehagen an derGesellschaft

Das Unbehagen an derGesellschaft

Martin Hartmann

/ 17 Minuten zu lesen

Die gegenwärtig zu konstatierende Krise der Sozialwissenschaft hat mit der Krise der Gesellschaftsidee zu tun. Der Beitrag untersucht die Gründe für das Unbehagen an der Kategorie der Gesellschaft, versucht zugleich aber diejenigen Elemente dieser Kategorie zu benennen, die auch gegenwärtig noch relevant sind.

Einleitung

Spricht man in einem öffentlichen Kontext von der "Krise" der Sozialwissenschaft, so macht man eine interessante Erfahrung: Während sozialwissenschaftlich interessierte Laien der Diagnose eher zustimmend begegnen, reagieren die Vertreterinnen und Vertreter des Fachs ganz unterschiedlich. Drei Reaktionsweisen lassen sich ausmachen: eine gleichgültige, eine verächtliche und eine besorgte.


Die Gleichgültigen verspüren angesichts der Diagnose so etwas wie gelassene Langeweile. Dass sich die Sozialwissenschaft in einer Krise befinde, sei, so sagen sie, "ein alter Topos, der in regelmäßigen Abständen aus einer nicht näher definierbaren Schublade gezogen wird. Aber siehe: Es gibt uns noch!" Die Tatsache, dass die Sozialwissenschaften ungeachtet aller Krisendiagnosen noch existieren - das ist damit wohl gemeint -, zeigt, dass diese falsch sind. Diese Art, mit Krisendiagnosen umzugehen, hat zweifellos etwas Beruhigendes, da sie die Möglichkeit bietet, auf den eingefahrenen Gleisen weiterzufahren. Darüber hinaus fällt es schwer, eine Krisendiagnose aufrechtzuerhalten, wenn diejenigen, auf die sie zugeschnitten ist, ihren eigenen Zustand nicht als krisenhaft erfahren. Zumindest mit Blick auf menschliche Handlungszusammenhänge können wir, so scheint es, erst dann von einer Krise sprechen, wenn bestimmte, von außen beobachtbare Problemlagen subjektiv auf Resonanz stoßen, wenn sie gewissermaßen ein Problembewusstsein erzeugen. Fehlt dieses Bewusstsein, kann nicht sinnvoll von einer Krise gesprochen werden.

Die Verächter der Krisendiagnose reagieren ungleich schärfer. Häufig wird diese Diagnose nämlich nicht unter Verweis auf ihre regelmäßige Wiederkehr diskreditiert, sondern durch Heranziehen empirischer Daten, und diese sprechen tatsächlich eine recht eindeutige Sprache. Mit Blick auf das Fach Soziologie etwa kommt eine Studie des Centrums für Evaluation der Universität des Saarlandes zu dem Schluss, dass "die Zahl der Studierenden und Absolventen (...) in den 90er Jahren deutlich zugenommen" hat. Auch seien die Berufsaussichten für soziologische Abschlüsse keinesfalls schlecht. Einzig nicht zu leugnende Stellenstreichungen an vielen soziologischen Instituten verdüstern das Bild, wobei diese Streichungen nach Auskunft der Autoren nicht auf einen reduzierten Bedarf zurückgeführt werden können (woher sollte der angesichts steigender Studierendenzahlen auch kommen?), sondern auf eine, wie es heißt, "politisch gewollte Verkleinerung des Faches". Dessen ungeachtet schließt der Bericht damit, dass das "Krisengerede" im Großen und Ganzen keine empirische Basis habe. Gleichwohl erleichtere es den politischen Instanzen die Rechtfertigung des Stellenabbaus. Unverhohlen wird das "Krisengerede" selbst als eine mögliche Erklärung der drohenden institutionellen Schwächung des Fachs ausgemacht: "Politiker sind gerade in Zeiten knapper Haushaltsmittel um jeden Hinweis dankbar, der Kürzungsmöglichkeiten legitimiert." Folgt man dem, so gibt es gar keine Krise der deutschen Sozialwissenschaften, sondern nur ein "Krisengerede", und dieses könnte über kurz oder lang - im Sinne einer self-fulfilling prophecy - eine echte Krise auslösen. Die Konsequenz aus diesen Schlussfolgerungen liegt nahe: Schluss mit dem "Krisengerede"!

Die Sorgenvollen räumen ein, dass der Bestand der Sozialwissenschaften von der Zustimmung oder Akzeptanz einer inneruniversitären Verwaltung und eines außeruniversitären Publikums abhängig ist und sehen darin eine gewisse Krisensymptomatik. Es lässt sich tatsächlich nicht länger übersehen, dass an zahlreichen deutschen Universitäten gerade im Fach Soziologie Stellen gestrichen werden. Besonders markant ist der Fall des traditionsreichen Soziologieinstituts der Freien Universität Berlin, an dem fünf von neun Professuren fortfallen. Nicht zu leugnen ist auch das missliche Verhältnis der Sozialwissenschaften zur breiteren Öffentlichkeit. Schon seit langem ertönt die Klage, man werde über die Fachgrenzen hinaus kaum noch wahrgenommen. Tatsächlich scheinen die Sozialwissenschaften in der Öffentlichkeit die "kulturelle Leitfunktion" verloren zu haben, die man ihnen in den fünfziger und sechziger Jahres des letzten Jahrhunderts unumwunden zugesprochen hatte. Demgegenüber stellen sie heute offenbar nicht mehr die Kategorien und Begrifflichkeiten bereit, in denen sich die bundesdeutsche Gesellschaft wieder erkennen kann. Mehr noch, die Kategorie der "Gesellschaft" selbst scheint ihre alte Bündelungskraft verloren zu haben. Diente sie einstmals als begriffliches Passepartout für die Erklärung der wichtigsten sozialen Phänomene - und beanspruchte folglich eine besonders gesellschaftsnahe Disziplin wie die Soziologie den Status einer "Königsdisziplin" -, so bedingt die Krise der Gesellschaftskategorie unmittelbar eine Krise aller Wissenschaften vom Sozialen. In diesem Sinne scheint es unausweichlich, dass das Gewicht der Sozialwissenschaften schwinden muss.

Reaktionen auf die Krisendiagnose

Wie ist nun mit diesen unterschiedlichen Reaktionen auf die Krisendiagnose umzugehen? Die Sozialwissenschaften können sich - entgegen der Auffassung der Gleichgültigen - natürlich auch dann in einer Krise befinden, wenn ihre Vertreterinnen und Vertreter kein Krisenbewusstsein verspüren. Die Verflechtungen aller Wissenschaften mit politischen und bürokratischen Zusammenhängen sind viel zu stark, als dass subjektive Bewusstseinslagen einen entscheidenden Ausschlag für Bestandsgarantien geben könnten.

Den empirisch versierten Verächtern der Krisendiagnose ist zunächst zuzugestehen, dass die studentische Nachfrage nach sozialwissenschaftlicher Kompetenz sehr hoch ist; auch lässt sich nicht bestreiten, dass die universitäre Institutionalisierung der Sozialwissenschaften in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nach 1989 in den neuen Bundesländern äußerst erfolgreich verlaufen ist. Der Behauptung, der gegenwärtig zu beobachtende Stellenabbau sei politisch gewollt, Stellenabbau und "Krisengerede" seien kausal verknüpft, ist jedoch entgegenzuhalten, dass Stellenstreichungen und Mittelkürzungen nur mit mehreren Faktoren zu erklären sind. Das öffentliche Ansehen eines Fachs ist zweifellos ein Faktor, der in diesem Zusammenhang Gewicht besitzt. Aber es wäre albern und naiv zu meinen, es sei der einzige und entscheidende Faktor, wenn es um die Rechtfertigung von Kürzungsmaßnahmen geht.

Die größte Plausibilität besitzt folglich der sorgenvolle Umgang mit der Krisendiagnose. Allerdings reicht es nicht, diese Diagnose nur oberflächlich mit institutionellen und publizistischen Problemen der Sozialwissenschaften in Verbindung zu bringen. Was die vorgebliche "Krise" der Sozialwissenschaften angeht, handelt es sich um ein Phänomen mit tieferen Wurzeln. Der Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften scheint sich so transformiert zu haben, dass es kaum noch möglich ist, die gewohnten Bezugspunkte des sozialwissenschaftlichen Denkens in unveränderter Weise aufrechtzuerhalten. Dieses Entgleiten des traditionellen Gegenstandsbereichs der Sozialwissenschaften soll im Folgenden für ihre gegenwärtige Krise verantwortlich gemacht werden. Die Krise kommt damit nicht so sehr als institutionelle oder publizistische Krise in den Blick, sondern als begriffliche oder konzeptuelle Krise mit möglichen institutionellen oder publizistischen Folgen.

Die Gesellschaft verschwindet

Um die folgende Darstellung übersichtlicher zu gestalten, wird es sinnvoll sein, zwischen den Veränderungen im Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften und der wissenschaftlichen Reflexion dieser Veränderungen zu unterscheiden. Es sieht so aus, als wäre den Sozialwissenschaften der Gegenstand - die "Gesellschaft" im emphatischen Sinne, den das Wort einmal besaß - abhanden gekommen. Wie kritisch es um die Kategorie der Gesellschaft steht, vermag man etwa daran abzulesen, dass sie in vielen theoretischen Kontexten durch die weniger spezifische Kategorie des "Sozialen" abgelöst wird. Stellvertretend sei aus einem neueren Lehrbuch von Hans Joas und Wolfgang Knöbl zitiert, das in die wichtigsten Sozialtheorien der Gegenwart einführen will: "Wir haben uns für den Begriff 'Sozialtheorie' (...) entschieden, weil uns der mehr im Deutschen als im Englischen übliche Begriff der 'Gesellschaftstheorie' Unbehagen bereitet. Mit diesem Begriff wurden oft gegenüber der soziologischen Theorie eher linke, 'kritische' normative Dimensionen annonciert. Doch ist (...) der Begriff der Gesellschaft untergründig so sehr mit dem einer nationalstaatlich verfassten und territorial klar umgrenzten Ordnung verknüpft, dass er immer schon voraussetzungsreich war und heute, da diese Voraussetzungen offen zutage liegen, endgültig problematisch geworden ist." Zwei Dinge kommen in diesem Zitat zum Ausdruck: Zum einen erfüllte der Begriff Gesellschaft ebenso wie jener der Gesellschaftstheorie lange Zeit die Funktion einer kritischen Kategorie. Mit "Gesellschaft" verbanden sich Aussagen über die Ursachen individueller und sozialer Problemlagen und Vorschläge zur deren Lösung. Als Höhepunkt dieser kritischen Aufladung des Gesellschaftsbegriffs muss zweifellos das Jahr 1968 betrachtet werden. Die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie, saßen in dieser Zeit gleichsam auf den Schultern einer Generation, die wie kaum eine andere Nachkriegsgeneration von der Wirkmächtigkeit ihres Handelns überzeugt war. Was immer der Übergang von der Gesellschafts- zur Sozialtheorie sonst bedeuten mag, dieser Übergang markiert die weitgehende Abkoppelung der Sozialwissenschaften von sozialen Bewegungen und die Bereitschaft, dieses Phänomen begrifflich zu kennzeichnen. Frank Nullmeier spricht mit Blick auf die Gegenwart deshalb nicht zu Unrecht davon, dass sich "die bundesdeutsche akademische Theorieproduktion (...) in größerer Distanz zu politischen Kämpfen vollzieht und dadurch selbstbezüglicher" wird.

Zum anderen legt das Zitat von Joas und Knöbl nahe, dass der Begriff Gesellschaft auch deskriptiv unbrauchbar geworden ist, weil er stets auf zumeist nationalstaatlich begrenzte Gebilde bezogen blieb. Diese räumliche Beschränkung muss aus gegenwärtiger Sicht gleich mehrere Probleme nach sich ziehen. So verweist natürlich die gesamte Rede von der Globalisierung auf Phänomene der ökonomischen, kulturellen und politischen Internationalisierung, durch die - so zumindest eine häufig vertretene These - der Handlungsspielraum nationalstaatlich organisierter Instanzen geschwächt oder eingeengt wird. Der Gesellschaftsbegriff scheint in seiner Ausrichtung auf einzelstaatliche Gebilde an seine kategorialen Grenzen zu stoßen, wenn sich beispielsweise Probleme der Ungleichheit, der sozialen Mobilität, der Bildung oder auch der Arbeitslosigkeit gar nicht mehr angemessen ohne Bezug auf transnationale Handlungskontexte explizieren lassen. Diese transnationalen Handlungskontexte müssen dabei nicht einmal global ausgedehnt sein. Das, was man das "nationalstaatliche Vergesellschaftungsmodell" genannt hat, stößt schon beim Blick auf die europäischen Integrationsprozesse an seine Grenzen. Während sich die Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft schon seit längerem mit den Prozessen und Effekten der europäischen Einheit beschäftigen, ist "die europäische Integration für die Soziologie nach wie vor ein Randthema". Die methodisch lange Zeit vorherrschende Konzentration auf Einzelgesellschaften erzeugt eine gewisse Sprachlosigkeit, wenn es darum geht, jene politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Verflechtungen zu beschreiben, die über eine Einzelgesellschaft hinausgehen.

Doch der Gesellschaftsbegriff ist nicht nur aufgrund seiner geographischen Beschränktheit in Misskredit geraten. Ihm wohnen weitere Elemente inne, deren Gültigkeit zweifelhaft geworden ist. So arbeitete die Soziologie in ihren funktionalistischen Ausrichtungen lange mit einem Gesellschaftsbegriff, der Differenzierung und Wertekonsens in sich vereinte. Dieser soziologischen Tradition entspricht, dass sich Gesellschaften aus differenzierbaren Einheiten zusammensetzen (Klassen, Ständen, Schichten, Milieus, Berufen etc.). Deren Vielzahl ist nur deswegen nicht stabilitätsgefährdend, weil die Mitglieder dieser Einheiten über gemeinsame Werte verfügen und dementsprechend über alle sozialen und funktionalen Grenzen hinweg koordiniert miteinander agieren. Moderne Gesellschaften sind dieser Perspektive nach zugleich Gesellschaften und Gemeinschaften oder, in der Formel von Talcott Parsons, "gesellschaftliche Gemeinschaften".

Problematisch sind der Soziologie mittlerweile wesentliche Facetten des Differenzierungs- und des Konsensbebegriffs geworden. Schon ein kurzer Blick auf die differenzierten Einheiten zeigt, dass diese einer kollektivistischen Lesart unterliegen. Vor allem die deutschsprachige Soziologie hat aber seit Mitte der achtziger Jahre den Begriff der "Individualisierung" ins Zentrum gerückt und damit den schwächer werdenden Einfluss kollektiver Bindungskräfte beschrieben. Dieser Begriff hat viele Bedeutungsfacetten, die hier nicht alle ausbuchstabiert werden können. So wie Ulrich Beck ihn in seinem Buch Risikogesellschaft verwendet, steht er für verschiedene Formen der Entkollektivierung sozialen Handelns: "Ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle Lebensformen verblassen. Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst (...) zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen." Wenn Individualisierung in diesem Sinne das Zerbrechen ständischer oder klassenkultureller Lebensformen beschreibt, dann muss es schwieriger werden, kollektive Einheiten zu benennen, deren funktionales Aufeinanderbezogensein - im Zusammenspiel mit allgemein geteilten Werten - Gesellschaften als abgrenzbare Gebilde identifizierbar machen. Individualisierung hinterlässt kein soziales Chaos, aber sie erschwert den Versuch, jene Elemente zu kennzeichnen, die sich zu Gesellschaften integrieren. Erschwerend kommt hinzu, dass auch an der Existenz eines allgemeinen Wertekonsenses gezweifelt worden ist. Dieser Zweifel nimmt eine allgemeine Form an, wenn etwa bestritten wird, dass Gesellschaften überhaupt als Gebilde zu betrachten sind, die durch einen umfassenden Wertekonsens zusammengehalten werden; er kann aber auch historisch spezifischer auftreten und sich auf die unter dem Stichwort des "Multikulturalismus" verhandelte Tatsache berufen, dass sich gerade im Herzen der westlichen Gesellschaften kulturelle Wertegemeinschaften herauskristallisiert haben, deren mehr oder weniger friedliche Koexistenz offenbar nicht auf gemeinsamen Werten beruht.

Mit den bisherigen Überlegungen soll nicht suggeriert werden, der Gesellschaftsbegriff sei aus dem Sprachschatz verschwunden. Natürlich sprechen wir immer noch ganz selbstverständlich von "Gesellschaft" und "Gesellschaften". Unklar ist nur, ob wir mit dem Begriff weiterhin meinen können, was wir in der Vergangenheit damit gemeint haben. Was bleibt, so die Frage, wenn wir den Terminus der Gesellschaft nicht mehr territorial, politisch oder kollektivistisch unterfüttern können? Die skizzierten Phänomene der Globalisierung, Individualisierung und Multikulturalisierung scheinen den Gesellschaftsbegriff auf eine Weise zu untergraben, die seine Verwendung auch in soziologischen Kontexten problematisch erscheinen lassen muss. Und so kann es nicht weiter überraschen, dass sich etwa in der französischsprachigen Soziologie die Rede von der "Krise der Gesellschaftsidee" schon seit längerem mit Überlegungen zur Krise der Soziologie in ihrer überkommenen Form verbindet.

"There is no such thing as society"

In diesem Zusammenhang sind noch weitere Prozesse erwähnenswert, die zur Krise der Gesellschaftsidee beigetragen haben: etwa jene Phänomene, für welche die Wendung zum Neoliberalismus steht. Margaret Thatchers Ausspruch "There is no such thing as society, only individual men and women and their families" fasst im Kern eine Grundüberzeugung neoliberalen Denkens zusammen, zielt sie doch auf die Annahme, es könne soetwas wie individuelle Verhaltensformen geben, die sich unter Bezug auf soziale oder gesellschaftliche Umstände erläutern lassen. Der Einzelne ist letztlich für sein Verhalten verantwortlich, Ungleichheiten zwischen den Individuen sollten auf individuell zurechenbare Entscheidungen zurückgeführt werden, nicht aber auf Effekte sozialer Herkunft oder Lage. Vertreter neoliberaler Positionen leugnen auf diese Weise die Existenz des Sozialen oder der Gesellschaft überhaupt.

Aber auch von einer ganz anderen Seite werden spezifisch soziale Erklärungsmuster individuellen Verhaltens angegriffen. Überall dort nämlich, wo die neueren Lebenswissenschaften ihren Einfluss geltend machen, setzt sich, ob zu Recht oder Unrecht, die Einsicht in die Determiniertheit menschlichen Verhaltens durch. Ob es sich um die Ergebnisse der Hirnforschung oder die Konsequenzen der wissenschaftlichen Genanalyse handelt - stets assoziiert eine breite Öffentlichkeit mit den Ergebnissen dieser Forschungsrichtungen bereitwillig eine Einschränkung individuell oder sozial zurechenbarer Verantwortung. Zwar ist unverkennbar, dass sich die Annahme einer genetischen oder hirnphysiologischen Determiniertheit menschlichen Verhaltens nicht leicht mit dem ideologischen Untergrund neoliberaler Positionen verbinden lässt. Hier interessiert aber einzig die Tendenz sowohl des Neoliberalismus als auch der neueren Lebenswissenschaften, menschliches Verhalten mehr oder weniger frei von sozialen Bezügen zu deuten. Konnte Karl Ulrich Mayer die Schwierigkeiten der Sozialwissenschaften 1996 noch darauf zurückführen, dass ihre wesentlichen Kategorien in andere Fachgebiete "diffundiert" seien, die sich auf diese Weise mit dem Effekt "soziologisiert" hätten, die Soziologie als Fach "zum Verschwinden" zu bringen, so muss für die Gegenwart eher eine breite Tendenz zur Entsoziologisierung der Wissenschaften konstatiert werden.

Weiter oben wurde zwischen den realen Veränderungen im Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften und ihrer sozialwissenschaftlichen Reflexion unterschieden. Mit dem Begriff der Reflexion ist hier zweierlei gemeint. Zum einen sind einige der hier beschriebenen Prozesse natürlich Gegenstand sozialwissenschaftlichen Nachdenkens. Nichts hindert die Sozialwissenschaften daran, die Wandlungen des Gesellschaftlichen selbst zum Thema zu machen. Zum anderen können sich diese aber auch im Rücken der Sozialwissenschaften bemerkbar machen, also ohne direkt thematisiert zu werden. Durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit und eine Neugewichtung der methodischen Ausrichtung etwa können sich Zweifel am Sinn überkommener Gesellschaftsanalysen oder am Sinn von Gesellschaftsanalyse überhaupt manifestieren. So lässt sich etwa, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der soziologischen Forschung der Bundesrepublik eine deutliche Mikroorientierung ausmachen. Im Mittelpunkt der Forschung stehen kleinteilig-übersichtliche Handlungszusammenhänge (etwa Familien oder Betriebe), die mit Ansätzen der verstehenden Soziologie oder mit Rational-Choice-Methoden entschlüsselt werden. In den Augen der Grande Dame der deutschen Soziologie, Renate Mayntz, zeigt sich hier ein zunehmendes "Bemühen um solide Professionalität"; die marxistische Gesellschaftstheorie der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts wird dagegen explizit für den schlechten Ruf der Disziplin verantwortlich gemacht. Andere Autorinnen und Autoren thematisieren größere institutionelle Ordnungen nur noch als Produkt sozialen Handelns, nicht aber als dessen Voraussetzung. Ein weiterer Ansatz verabschiedet schließlich die Gesellschaftskategorie und entwickelt Kategorien einer "nachgesellschaftlichen" Soziologie.

Sowohl mit Blick auf reale Wandlungen als auch auf ihre soziologische Reflexion zeigt sich also, dass die Kategorie der Gesellschaft in die Defensive geraten oder sogar schon ganz verabschiedet worden ist. Wie aber soll man mit diesem Sachverhalt umgehen? Oder, etwas anders gefragt: Wenn wir voraussetzen, dass die Kategorie der Gesellschaft tatsächlich in der beschriebenen Art und Weise geschwächt ist - muss darin ein Problem für die Sozialwissenschaften liegen?

Um auf diese Fragen eine Antwort zu geben, mag es hilfreich sein, anzudeuten, was es (unter anderem) heißt, ein Problem gesellschaftlich zu erklären. Ein Problem "gesellschaftlich" erklären heißt, Faktoren, die jenseits des individuellen Wollens liegen, für dieses Wollen selbst oder für seine Ergebnisse verantwortlich zu machen. Armut beispielsweise ist dieser Perspektive nach nicht einfach nur Ergebnis individueller Fehlentscheidungen oder Schicksalsschläge; um sie zu erlären, bedarf es einer Kenntnis all der sozialen Faktoren, die Armut auch (aber nicht ausschließlich) verursachen: soziale und familiäre Herkunft, Qualität der Bildungseinrichtungen und der staatlichen Unterstützungsnetzwerke, sozialer Stand (allein erziehend, verheiratet, geschieden), Geschlecht etc.

Zusammenhänge erkennen

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei einer solchen Bestimmung der spezifisch gesellschaftlichen Einflusskräfte auf individuelles Verhalten eigentlich um eine absolute Banalität. Gleichwohl wächst aufgrund der beschriebenen Krise des Gesellschaftskonzepts die Bereitschaft, individuelles Verhalten nicht länger unter Bezug auf gesellschaftliche Faktoren zu erläutern. Insbesondere in neoliberalen Argumentationskontexten ist der Begriff "Gesellschaft" wie angedeutet schon seit mehreren Jahren nur noch eine Art Schimpfwort. Aber auch die mikrologische Orientierung eines großen Teils der Sozialwissenschaften versperrt den Blick für die größeren strukturellen Kontexte des menschlichen Handelns, ein Sachverhalt, der noch verschärft wird durch ein ausgeprägtes Desinteresse an makrotheoretischen Deutungsmustern. Gleichzeitig wird kaum daran gezweifelt, dass die Kette der Faktoren, die auf Handlungsverläufe einwirken, immer länger wird. In sozialwissenschaftlichem Jargon heißt das: die Interdependenzen zwischen den Akteuren nehmen zu. Nicht wenige Autorinnen und Autoren verwendet den Begriff der Globalisierung genau in diesem Sinne: "Globalisierung" beschreibt Anthony Giddens als eine "Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen und umgekehrt". Stimmen diese Befunde, haben wir es offensichtlich mit einer paradoxen Gleichzeitigkeit zu tun: Auf der einen Seite fällt es offenbar immer schwerer, individuelles Verhalten unter Verweis auf gesellschaftliche oder schlicht soziale Faktoren zu erläutern, auf der anderen Seite ist weitgehend unbestritten, dass der Bereich der Faktoren, die auf individuelles Verhalten einwirken, immer größer oder umfassender wird.

Wenn diese eigentümliche Gleichzeitigkeit angemessen beschrieben ist, dann kann es nicht Aufgabe der Sozialwissenschaften sein, alle Elemente, die traditionellerweise den Begriff der Gesellschaft ausgemacht haben, fallen zu lassen. Zwar ist es nicht länger möglich, die auf individuelles Verhalten einwirkenden Faktoren territorial zu begrenzen, und in diesem Sinne ist es richtig, den Gesellschaftsbegriff zu modifizieren oder sogar ganz auf ihn zu verzichten. Allerdings wäre es für die Sozialwissenschaften fatal, wenn sie in diesem Zusammenhang das Kind mit dem Bade ausschütten würden, hatte doch der traditionelle Begriff der Gesellschaft - zumindest in seiner linken Lesart - stets mehr im Sinn als die Bezugnahme auf ein territorial begrenztes Gebilde sozialer Ordnung. Wurde eine Gesellschaft etwa als "kapitalistisch" oder "spätkapitalistisch" bezeichnet, zielte der Gesellschaftsbegriff keinesfalls nur auf ein territorial begrenztes Gebilde. Gesellschaft wurde hier vielmehr als ein Gebilde verstanden, das in seiner Gesamtheit eine Prägung durch ökonomische Strukturprozesse erfuhr, die sowohl auf das politische als auch auf das kulturell-lebensweltliche Feld einwirkten. Gesellschaftstheorie war zumeist in dem Sinne kritisch, dass sie die negativen Folgen dieser Einwirkung in den Blick nahm.

Natürlich kann es hier nicht darum gehen, den Sozialwissenschaften eine Rückkehr zu einseitig ökonomistischen Deutungsmustern zu empfehlen. Jede hinreichend komplexe Gesellschaftsanalyse muss weiterhin das Zusammenspiel ökonomischer, politischer und kultureller Faktoren berücksichtigen. Allerdings verlangen einige der gegenwärtig beobachtbaren Entwicklungen eine stärkere Gewichtung des ökonomischen Faktors. Folgt man etwa dem Vorschlag von Luc Boltanski und Eve Chiapello, dann hat das Unvermögen, das eigene Handeln gewissermaßen sozial zu definieren, eine seiner Quellen in einem Netzwerkkapitalismus. Dieser stellt zwar mit Hilfe der Netz-Metapher Verbindungen zwischen einzelnen Netzpunkten her, gibt gleichwohl aber keine Möglichkeit an die Hand, einzelne Handlungen im Netz auf konkrete Punkte oder Personen zu beziehen. Netze sind in diesem Sinne "enträumlicht (...), geprägt von einem Druck zur grenzenlosen Ausdehnung". In äußerster Verkürzung komplexer Zusammenhänge lässt sich sagen, dass auch ein so verstandener Netzwerkkapitalismus dazu neigt, die Kategorie des Gesellschaftlichen zu untergraben. Er tut das aber nicht nur, indem er soziales Handeln "enträumlicht", sondern vor allem, indem er das Vermögen schwächt, Zusammenhänge zu erkennen, wo es diese gibt.

Die Sozialwissenschaften, das ist eine der Schlussfolgerungen der vorangegangenen Überlegungen, sollten es als ihre Aufgabe ansehen, das Denken in Zusammenhängen zu verteidigen oder, wo es bereits abgestorben ist, wieder zu beleben. Zugleich sollten sie sich die Mühe machen, all die Prozesse zu erklären, durch die dieses Denken in Zusammenhängen diskreditiert worden ist. Es ist letztlich erst dieser Schritt, der ein genaues Verständnis der institutionellen und publizistischen Krise der Sozialwissenschaften ermöglicht. Beide Aufgaben erfordern einerseits all das Faktenwissen, das genaue empirische Analysen liefern. Andererseits ist aber auch ein Theorieinteresse nötig, das es ermöglicht, diese Fakten schlüssig auf allgemeinere Prozesse sozialen Wandels zu beziehen. Das Gesellschaftliche oder - wenn man das vorziehen will - das Soziale verpufft nicht, es verändert nur seine Gestalt. Diesen Gestaltwandel in allen seinen komplexen Verflechtungen kritisch zu begleiten, die ihn tragenden Mythen und Ideologien empirisch und theoretisch zu durchdringen - das bleibt Aufgabe einer selbstbewussten Sozialwissenschaft. Wer weiß, in welchem Maße selbst die politische Linke harten sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber unempfänglich geworden ist, dem sollte klar sein, wie groß die Herausforderung ist, die den Sozialwissenschaften damit gestellt wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Martin Hartmann, Lange Narkose, verwirrtes Erwachen. Die deutsche Sozialwissenschaft ist in ihrer Existenz bedroht, in: Die Zeit vom 30. 9. 2004, S. 50.

  2. Vgl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 12.

  3. "Trotz schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen und steigender Absolventenzahlen hat sich die Arbeitsmarktsituation für Soziologen in den 90er Jahren positiv entwickelt. Es scheint, dass es der Soziologie zunehmend gelingt, auch außerhalb der Universität Anerkennung für ihr Qualifikationsprofil zu finden." Thomas Knoll/Wolfgang Meyer/Reinhard Stockmann, Soziologie im Abwärtstrend? Eine empirische Untersuchung zur Situation der Soziologie an den bundesdeutschen Hochschulen, in: Soziologie, 4 (2000), S. 21.

  4. Ebd.

  5. Ebd., S. 22.

  6. Vgl. Hans-Peter Müller, Soziologie in der Eremitage?, in: Eva Barlösius/Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hrsg.), Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in Deutschland, Opladen 2001, S. 41f.

  7. Vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 272.

  8. Vgl. für den Bereich Ostdeutschlands: Rainer M. Lepsius, Zum Aufbau der Soziologie in Ostdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993) 2, S. 305 - 337.

  9. Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt/M. 2004, S. 11.

  10. Frank Nullmeier, Anerkennung: Auf dem Weg zu einem kulturalen Sozialstaatsverständnis?, in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M.-New York 2003, S. 407.

  11. Maurizio Bach, Die Europäisierung der nationalen Gesellschaft? Problemstellungen und Perspektiven einer Soziologie der europäischen Integration, in: ders. (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften (Sonderheft 40 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Wiesbaden 2000, S. 13.

  12. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Weinheim-München 19855, S. 20ff.

  13. Vgl. Martin Hartmann, Eine Münchner Schule ist nicht in Sicht: Kritisches zum Stand der Individualisierungsdebatte, in: Leviathan, 29 (2001), S. 304 - 313.

  14. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt/M. 1986, S. 117. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von U. Beck in dieser Ausgabe.

  15. Vgl. Michael Mann, Geschichte der Macht. Von den Anfängen bis zur griechischen Antike, Frankfurt/M.-New York 1990, S. 13ff.

  16. Michel Wieviorka u.a. (Hrsg.), Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat, Paris 1996.

  17. Vgl. François Dubet, Sociologie de l'expérience, Paris 1994, S. 52ff.

  18. Ich zitiere Margaret Thatcher nach John Urry, Sociology beyond Societies. Mobilities for the twenty-first century, London-New York 2000, S. 5.

  19. Karl Ulrich Mayer, Gefahren drohen weniger von außen als von innen. Ein Kommentar zur Lage der soziologischen Forschung, in: Soziologie, 4 (1996), S. 14.

  20. Vgl. Renate Mayntz, Hauptfach Nabelschau. Sozialwissenschaft hält sich an Themen, nicht an Disziplinen, in: Joachim Fritz-Vannahme (Hrsg.), Wozu heute noch Soziologie?, Opladen 1996, S. 62.

  21. Bernd Giesen, Entzauberte Soziologie oder: Abschied von der klassischen Gesellschaftstheorie, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt/M.-New York 1991, S. 775.

  22. Vgl. J. Urry (Anm. 18).

  23. Vgl. einzelne Beiträge in der Revue du Mauss (Semestrielle), 24 (2004). Der Halbjahresband trägt den Titel: Une théorie sociologique générale est-elle pensable? De la science sociale.

  24. Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 85.

  25. Vgl. Martin Hartmann/Axel Honneth, Paradoxien des Kapitalismus, in: Berliner Debatte Initial, 15 (2004) 1, S. 4 - 17; Martin Hartmann, Paradoxien des "neuen" Kapitalismus, in: Anna Geis/David Strecker (Hrsg.), Blockaden staatlicher Politik. Sozialwissenschaftliche Analysen im Anschluss an Claus Offe, Frankfurt/M.-New York 2005, S. 199 - 212.

  26. Das heißt unter Bezugnahme auf die mit diesem Handeln verbundenen Konsequenzen und auf die diesem Handeln vorausgehenden Handlungen anderer.

  27. Luc Boltanski/Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 421.

Dr. phil., geb. 1968; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Senckenberganlage 26, 60325 Frankfurt am Main.
E-Mail: E-Mail Link: Martin.Hartmann@em.uni-frankfurt.de