Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Deutschland und Israel aus israelischer Sicht | Deutschland und Israel | bpb.de

Deutschland und Israel Editorial Gesicherte Existenz Israels - Teil der deutschen Staatsräson - Essay Deutschland und Israel aus israelischer Sicht Israel und Deutschland: Emotionen, Realpolitik und Moral Deutsche Israelpolitik: Etappen und Kontinuitäten Rückerstattung und Heimkehr Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland

Deutschland und Israel aus israelischer Sicht

Grisha Alroi-Arloser

/ 13 Minuten zu lesen

Nur wenn Deutsche und Israelis begreifen, dass ein wichtiger Teil ihrer so gegensätzlichen Identitäten in jenen zwölf Jahren der NS-Zeit begründet sind, gibt es Hoffnung auf gesunde "Normalität" in den Beziehungen.

Einleitung

Vieles fällt einem zu diesem Thema ein, Persönliches, Politisches, Historisches. Deutschland und Israel: ein schwieriges, aber gutes Verhältnis, belastet, aber belastbar; nichts vergessen, aber den Blick nach vorn gerichtet. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, habe den größten Teil meines erwachsenen Lebens in Israel verbracht und lebe zur Zeit wieder in Deutschland. Ich habe beide Pässe, spreche beide Sprachen, bin dort und hier daheim und fremd zugleich. Ich will mich auf eine sehr persönliche Sicht der Dinge beschränken, angreifbar und völlig unempirisch.

Gibt es überhaupt eine israelische Sicht auf Deutschland und das deutsch-israelische Verhältnis? Ich glaube schon, und meine damit nicht die amtliche, diplomatische, offizielle. Ich erinnere mich gut an das Jahr 1991, kurz nach dem Beschuss Israels durch irakische Scud-Raketen. Außenminister Hans-Dietrich Genscher war zu Gast bei seinem israelischen Amtskollegen David Levy, und dieser verkündete im Brustton der Überzeugung, dass die deutsch-israelischen Beziehungen "noch nie so gut waren wie heute". In den Straßen Tel Avivs konnte man am gleichen Tag Graffiti in Hebräisch lesen: "Es gibt kein anderes Deutschland!"

Die offizielle Sicht unterscheidet sich oft von der der Menschen, ob sie Fußball schauen, in einen MAN-Bus steigen, sich für eine AEG-Waschmaschine entscheiden oder in abgedichteten Räumen mit ihren Gasmasken sitzen. Die Konnotation von Deutschland und Gas wog schwerer, als viele Diplomaten es sich vorstellten oder wünschten. Das war immer dann der Fall, wenn die Vergangenheit nicht vergehen wollte, in der Imhausen/Rabta-Affäre, im Degussa-Zahngoldskandal, nach der Jenninger-Rede, nach Bitburg und während der Auseinandersetzung zwischen Helmut Schmidt und Menachem Begin um deutsche Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien.

Meine allererste Erfahrung mit der israelischen Sicht auf Deutschland machte ich als 20-Jähriger in Nazareth-Illit. Im Rahmen einer Ausbildung zum Jugendleiter der zionistischen Jugend in Deutschland hatte es mich für einige Monate dorthin verschlagen. Da ich noch sehr wenig hebräisch sprach, sollte ich meinen sozialen Dienst an der Gemeinde als Aushilfslehrer für Englisch in einer 4. Klasse der religiösen Grundschule leisten. Ich hatte mich gut vorbereitet, doch schaffte ich nur einen einzigen Satz: "Ich heiße Grisha und komme aus Deutschland." Der Tumult war enorm. 40 Schüler skandierten: "Nazi, Nazi, Nazi". Sie waren nicht zu beruhigen, und meine Versuche, ein apologetisches "aber ich bin doch Jude" hinterherzuschicken, scheiterten kläglich.

Besonders deutlich wird dieser Reflex im israelischen Verhältnis zur jüdischen Gemeinde im Land der Täter. Dabei ist die Sicht der Israelis auf die Diaspora insgesamt bis heute eine eher bevormundende, überhebliche und in vieler Hinsicht verständnislose. Auch wenn die Verurteilung derer, die dem Ruf des Zionismus nicht Folge leisten mochten, in den vergangenen 15 Jahren in ihrer Rigorosität abnahm, so bleibt der Kern der Kritik bestehen: Wir gestalten jüdische Geschichte unter Einsatz unseres Lebens und ermöglichen euch, in sicherer Distanz zu leben; wir sind souverän, ihr Spielball anderer; wir sind stark, ihr schwach; wir verkörpern Zukunft, ihr Vergangenheit; eure Unterstützung für uns geschieht nicht um unsert-, sondern um euretwillen. Gleichzeitig wurde den großen jüdischen Gemeinden vor allem in den USA, in Frankreich, Großbritannien und Lateinamerika eine gewisse Existenzberechtigung zuerkannt, vielleicht auch aufgrund der Mittlerrolle, die eine steigende Anzahl an Israelis dort übernahm.

Dies gilt jedoch nicht so für Deutschland. Oft hat meine Aussage, in Deutschland aufgewachsen zu sein, bei meinem israelischen Gegenüber Verständnislosigkeit bis Unmut ausgelöst. "Wie konnten Deine Eltern nur ausgerechnet nach Deutschland gehen? Ins Naziland?" Es sei unbegreiflich, dass nach dem Holocaust Juden weiterhin in Deutschland leben, sagte Israels Staatspräsident Ezer Weizman während seines Deutschlandbesuchs im Januar 1996. Wenn dies aber ein Land ist, in dem Juden besser nicht mehr leben sollten, welche Schlüsse lässt dies für die allgemeine Sicht auf dieses Land zu?

Nazismus und Shoah gehören bis heute zu den ersten Assoziationen, die Israelis bei der Erwähnung Deutschlands haben. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man nun selbst oder familiär vom Holocaust in Mitleidenschaft gezogen wurde, ob man europäischer oder orientalischer Abstammung ist, eher links oder rechts wählt, gebildet oder weniger gebildet, religiös oder säkular eingestellt ist. Aber der Umgang mit dieser Assoziation unterscheidet sich, wenn auch nur graduell. Es gibt natürlich noch Totalverweigerer, in erster Linie sind es Überlebende der Konzentrationslager, teilweise aber auch jüngere Menschen, für die diese Assoziation ausschlaggebend für ihre Sicht auf Deutschland, die deutsche Sprache und alles Deutsche ist.

Insgesamt kann aber festgestellt werden, dass es einen relativ entspannten Umgang mit Deutschland gibt, nicht in Ermangelung des erwähnten Assoziationsreflexes, sondern dessen ungeachtet. Deutsche Besuchergruppen, die ich in den achtziger und neunziger Jahren durch das Land geführt habe, waren von der Offenheit und Herzlichkeit überrascht, mit denen ihnen als Deutschen begegnet wurde. Häufig erst bei den Abschlussgesprächen eröffnete man mir, dass man befürchtet hatte, "als Deutscher angefeindet zu werden". Als es nicht dazu kam, war man erleichtert. Israelis nähern sich deutschen Besuchern oft unbeschwerter, als dies Holländer, Dänen oder Polen tun.

Formalisierung ist nicht gleich Normalisierung

Es hat sich so etwas wie Normalität eingestellt. Junge Israelis besuchen in großer und wachsender Zahl das Goethe-Institut, um Deutsch zu lernen, weil sie sich beruflich etwas davon versprechen, weil sie in Deutschland studieren wollen oder bereits geschäftliche Kontakte pflegen, die vertieft werden sollen. Wenn der deutsche Botschafter zum 3. Oktober in die Residenz in Herzliya einlädt, die weit über tausend Gäste auf Deutsch begrüßt und ein gemischter Chor beide Nationalhymnen singt, gibt es kaum noch jemanden, der sich daran stört. (Einer der prominenten Gäste sagte mir leise, er hätte es persönlich besser gefunden, wenn die Gesangsgruppe statt des deutschen Textes nur "lalala gesungen" hätte, aber er lächelte dabei.)

Tausende Israelis machen pragmatisch von ihrem Recht Gebrauch, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, da sie so in den Besitz eines europäischen Passes gelangen. Israelische Unternehmen stellen vermehrt auf deutschen Messen aus und gehen Joint Ventures mit deutschen Partnern ein. Israelis investieren mittlerweile doppelt so viel in Deutschland wie Deutsche in Israel. Sie engagieren sich in Deutschlands Hightech-Branche, im Immobilien- und Hotelgewerbe, gründen Niederlassungen und Servicezentren. Das bilaterale Handelsvolumen ist größer als der Handelsumfang der Bundesrepublik mit jedem anderen Land in der Region, einschließlich Iran, Saudi-Arabien und Ägypten.

Die Israelis wissen, dass sie sich im Grunde auf Deutschland verlassen können, und zwar in fast jeder Hinsicht. Die Rolle Deutschlands bei der wirtschaftlichen Festigung des jüdischen Staates ist bekannt. Kaum eine israelische Stadt unterhält keine Städtepartnerschaft in Deutschland. Der Handel blüht, ebenso die Rüstungskooperation. Deutsche Produkte erfreuen sich wachsender Beliebtheit, und wenn es einigermaßen friedlich ist, gibt es einen regen Schüler-, Jugend-, Studenten- und Kulturaustausch. Deutschland vertritt noch am ehesten israelische Interessen in der EU, und 40 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen erweist sich die Formalisierung dieser Beziehungen als überaus gelungen.

Dennoch kann aus israelischer Sicht das F der Formalisierung nicht ohne weiteres gegen ein N der Normalisierung ausgetauscht werden. Israelis stellen sogar ab und an die Frage, ob nicht die verfrühte israelische Bereitschaft zur Formalisierung Tür und Tor geöffnet habe für eine weit weniger wünschenswerte Normalisierung. Sie glauben nämlich, dass es im Grunde keine normalen zwischenstaatlichen Beziehungen geben könne, vor allem dann nicht, wenn Normalität das Ende der Einzigartigkeit dieser Beziehungen bedeutet.

Gerade der Sympathieverlust, den Israel seit der Wiedervereinigung und nochmals verstärkt seit September 2000 in der deutschen Öffentlichkeit erfahren hat, verunsichert die Israelis. Hatte Henryk M. Broder Recht mit seiner provokanten Formulierung "Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen"? Wie sonst sei es zu erklären, fragt man sich, dass Israel gerade in Deutschland mittlerweile als eines der unsympathischsten Länder gilt, dass Deutsche in Israel die größte Bedrohung für den Weltfrieden erkennen und Israel allein für den Konflikt im Nahen Osten verantwortlich machen? Wenn das "Normalität" bedeutet, dann muss man sie ablehnen.

Erinnerung an den Tiefpunkt der eigenen Geschichte

Die große Ambivalenz, welche die Sicht der Israelis auf Deutschland noch immer charakterisiert, kann nicht allein in der deutschen Rolle im finstersten Kapitel jüdischer Geschichte begründet sein. Sie muss zu ähnlich großen Teilen vom Unbehagen der Erinnerung an die totale Macht- und Hilflosigkeit herrühren, der Juden in der Shoah ausgeliefert waren, ein Bild, das zu einer der sinngebenden Koordinaten des israelischen Selbstverständnisses wurde und das man doch am liebsten aus dem nationalen Kollektivbewusstsein ausblenden würde. In den ersten 15 Jahren nach Kriegsende sahen sich Überlebende des Holocaust in Israel herber Kritik ausgesetzt: Warum ließen sich die Opfer "wie Vieh zur Schlachtbank führen, statt zu kämpfen"? Erst nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, vor allem aber nach dem Sechstagekrieg, begann man, die Gesetz gewordene Erinnerung an die Shoah mit der an den beachtlichen jüdischen Widerstand in den Lagern, den Ghettos und im Untergrund zu koppeln.

Nicht nur Deutschland tat sich also schwer mit der eigenen Vergangenheit, auch in Israel wurde 15 Jahre lang lieber geschwiegen; nicht allein ob der Unaussprechlichkeit der deutschen Verbrechen, sondern auch, weil der "neue Jude" nur mit äußerster Beklemmung in die Augenhöhlen seiner entmenschlichten Schwäche zu starren vermochte. Die Auseinandersetzung mit dem Täter ist immer auch eine psychisch belastende mit der eigenen Opferrolle. Oft machte ich diese Erfahrung in Begleitung israelischer Jugenddelegationen nach Deutschland. Jeder Bahnhof, jeder Güterzug, jeder Rentner, jeder Schornstein löste kollektive Erinnerungen und oft physisches Unbehagen aus: Sind auch hier Juden verladen worden? Haben die Deutschen beim Anblick der Züge weggesehen? War das ein Nazi? Gab es Krematorien inmitten der Städte? Angetan von Sauberkeit und Ordnung, von Freundlichkeit und ziviler Effizienz war man doch gleich wieder alarmiert. Haben sich die Deutschen wirklich geändert? Wie gut, dass wir uns unserer Veränderung gewiss sein können! Wie gut, dass es Israel gibt!

Ich glaube, dass es im Grunde nur wenige Jahre in den deutsch-israelischen Beziehungen gab, in denen beide Seiten gleichermaßen der Überzeugung waren, einen geglückten Neuanfang gemacht zu haben. Es war die Zeit vom Vorabend des Sechstagekriegs 1967 bis zum Beginn des Yom-Kippur-Kriegs 1973. Die Jahre davor waren geprägt vom israelischen Misstrauen den Deutschen gegenüber, die Jahre danach von der wachsenden deutschen Enttäuschung, dass Israel der Rolle des David und der eigenen Idealvorstellung des Judenstaates nicht mehr entsprechen wollte. Dabei schien ein Bild als Vorlage zu dienen, welches Israel selbst geschaffen hatte und das von deutscher Seite gern verinnerlicht worden war: Wie Phönix aus der Asche war der Staat aus der Katastrophe erwachsen, hatte eine solidarische und gerechte Gesellschaft geschaffen, Wüste urbar gemacht, sich heldenhaft gegen eine arabische Übermacht zur Wehr gesetzt und letztendlich ein ordentliches Stück Europa im Nahen Osten etabliert.

Was man daheim in Deutschland nicht mehr zu träumen wagte, hier in Israel war es Wirklichkeit geworden: ein funktionierender, demokratischer Sozialismus, Nächstenliebe, Kibbutzim, eine selbstbewusste Gewerkschaftsbewegung. Zur großen Freude sprachen viele der Protagonisten ein makelloses, wenn auch angestaubtes Deutsch. Da diese mit berechtigtem Stolz gerne gerade Gästen aus Deutschland ihre altneue Heimat und die Errungenschaften seiner Menschen näher bringen wollten, ergab sich rasch eine merkwürdig anmutende Kumpanei: Wir zeigen Euch, was Ihr sehen wollt, und Ihr sagt uns, was wir hören wollen.

Unter dem Eindruck der Ölkrise, des Libanonkriegs und der ersten Intifada bröckelte das Bild. Schwermütig wurde von deutschen Freunden die "Orientalisierung" Israels beklagt, die Verrohung der Sitten, der "Verlust der Unschuld". Dann kam die Äquidistanz, die Solidarisierung mit den "Opfern der Opfer" und ein immer häufigeres Kopfschütteln über die offensichtlich fehlende Bereitschaft der Israelis, aus der Vergangenheit zu lernen. "Gerade Ihr müsstet doch wissen", hieß es in hitzigen Diskussionen im Rahmen der "Historischen Seminare" der Gewerkschaftsjugend, und Israelis reagierten trotzig: "Wir sind lieber unbeliebt und lebendig als beliebt und tot!" Oder: "Was soll man machen, die KZs waren eben keine Besserungsanstalten!" Deutsche nahmen in diesen Diskussionen gern einen universalistischen Blickwinkel auf die Shoah, Israelis hingegen bestanden auf dem partikularistischen. Die Deutschen sagten: "Nie wieder Täter, nirgendwo", die Israelis: "Nie wieder wir als Opfer, irgendwo!"

Mit der Wiedervereinigung kam ein neues Stück Deutschland dazu. Eines, das zuvor zu den erbittertsten Feinden gehörte, Israel nie anerkannt hatte, sich nicht zur gesamtdeutschen Verantwortung für den Holocaust bekennen wollte und palästinensische Terroristen ausgebildet und finanziert hatte. Insofern war das Ende der DDR "good news". Andererseits erkannte man in Israel die Notwendigkeit, sich verstärkt den Bewohnern der neuen Bundesländer zuzuwenden, denn es galt, ein immenses Informationsdefizit und viele Vorurteile auszuräumen. Zu Beginn hatte es den Anschein, als ob es ein Replay des deutsch-israelischen Frühlings vom Ende der sechziger Jahre geben würde: Staunen hier, Genugtuung da. Doch musste man rasch feststellen, dass die Halbwertzeiten der Sympathie sich enorm verkürzt hatten, die Sozialisation eine völlig andere war und die Vereinnahmungen der Menschen durch westdeutsche Strukturen und Bedenkenträger in Sachen Nahost bald Wirkung zeigte. Unverständliche Reaktionen auf den 11. September 2001, antiamerikanische Ressentiments, das schrille Nein zum Irakkrieg, fremdenfeindliche und antisemitische Ausfälle, der Einzug der Neonazis in die Landtage - sie alle prägen den Blick der Israelis auf Deutschland.

Kritik aus Deutschland

Die Wahrnehmung Deutschlands in Israel ist und bleibt äußerst selektiv. Rassistische und vor allem antisemitische Vorkommnisse werden sofort zur Kenntnis genommen, deutsche Außenpolitik auf ihre political correctness überprüft, wobei das als richtig gilt, was sich mit Israels Interessen in Einklang bringen lässt, vor allem aber wird genau hingehört, wenn es deutsche Kritik an Israel gibt. Fast immer wird dann die Frage nach der Legitimität solcher Kritik gestellt. Mittlerweile hat man sich zwar daran gewöhnt und ist nicht gleich alarmiert, wenn aus Deutschland verhalten Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Palästinenser zum Ausdruck gebracht wird, aber sobald diese Kritik an den Grundfesten israelischen Selbstverständnisses zu rütteln scheint - der Gedanke an Binationalität; das Rückkehrrecht der Palästinenser; Diskussionen über die Verhältnismäßigkeit der Mittel; Infragestellung des israelischen Gründungsethos -, tritt unausweichlich die Vergangenheit auf den Plan. Solche Kritik steht am schnellsten unter Antisemitismusverdacht, wenn sie von Deutschen geäußert wird, auch wenn ähnliche Positionen in Israel selbst als durchaus legitim, zumindest diskussionswürdig gelten.

Israelis begegnen Deutschen dennoch offener als umgekehrt, weil sie ihnen im Normalfall "nur" Vergangenes entgegenhalten können, sich aber dessen bewusst sind, dass es keine persönliche Verantwortung der Nachgeborenen gibt. Deutsche hingegen sind auch einzelnen Israelis gegenüber zunehmend distanzierter, weil sie ihnen kollektive Verantwortung für Gegenwärtiges aufbürden. Das ist deshalb fatal, weil durch das israelische Zugehen bei gleichzeitigem deutschen Zurückweichen die Distanz gleich bleibt oder sogar größer wird.

Es scheint, als stünden beide Seiten ständig auf dem Prüfstand des anderen: Deutschland muss den Israelis beweisen, dass es unumstößlich zum Judenstaat steht - nach allem, was war. Tut es das vermeintlich auch nur ansatzweise nicht, dann hat man es ja immer gewusst. Und Israel muss sich des deutschen Schuldbekenntnisses würdig erweisen. Tut es das nicht, kann die eigene Schuld so groß nicht gewesen sein. Beide Pathologien machen deutlich, dass auch 60 Jahre nach Kriegsende die deutsch-jüdische Katastrophe die Sicht aufeinander und damit das Verhältnis zueinander bestimmt.

Heinrich Heine wandte sich 1831 mit einem Gedicht an den "Rabbi von Bacherach". Wir wissen, dass das lyrische Ich der Jude ist und Edom der Christ. Aber 150 Jahre nach Heines Tod verblüfft das Poem in seiner Aktualität für das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, mehr noch zwischen Deutschen und Israelis. An Edom! Ein Jahrtausend schon und länger, Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, dass ich atme, Dass du rasest, dulde Ich. Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Ward dir wunderlich zu Mut, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut! Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du.

Nur wenn Deutsche und Israelis begreifen, dass ein wichtiger Teil ihrer so gegensätzlichen Identitäten und unterschiedlichen Schlussfolgerungen in jenen verdammten zwölf Jahren des Tausendjährigen Reiches begründet sind, gibt es Hoffnung auf gesunde "Normalität" in den Beziehungen. "Normal" in einem derart tragisch verstrickten Beziehungsgeflecht ist aber nichts anderes als die Anerkennung des Außergewöhnlichen, die Akzeptanz des Unnormalen und die Bejahung der Selbstpositionierung des anderen als zumindest nachvollziehbar, auch wenn sie der eigenen diametral entgegengesetzt ist.

Der einzige gangbare Weg, dies zu erreichen, ist der persönliche, unvoreingenommene Kontakt. Nur die menschlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis haben die Krisen überdauert. Sie erwiesen sich als verlässlich während des Golfkriegs und in Zeiten offizieller Distanzierung und veröffentlichter Kritik. Es ist bedauerlich, dass die Zahl deutscher Besucher in Israel in den vergangenen Jahren stärker zurückgegangen ist als die aus anderen Ländern. In guten Zeiten machten Deutsche zehn Prozent aller Touristen aus, heute sind es nicht einmal mehr fünf.

Gerade im 40. Jahr der Aufnahme diplomatischer Beziehungen sollten beide Seiten versuchen, mehr Kontaktmöglichkeiten zu schaffen und zu nutzen. In Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Forschung entstehen seit Jahren nachhaltige, enge und schließlich freundschaftliche Beziehungen, die auf Interessengemeinschaft begründet sind. Sie sind lebendig, zukunftsorientiert und belastbar. Auch unter solchen Kooperationspartnern mag es tagespolitische Meinungsverschiedenheiten geben, doch stellen sie den anderen niemals grundsätzlich in Frage und lassen keinen Zweifel an seiner Integrität und Verlässlichkeit aufkommen.

Man sagt, Frauen treten in der Hoffnung vor den Altar, dass ihre Männer sich mit der Zeit verändern, während Männer sich beim Jawort heimlich wünschen, ihre Frauen mögen für immer so bleiben wie an diesem Tag. Vor 40 Jahren war es zwischen Deutschland und Israel wohl ähnlich: Deutsche hofften, dass Israel sich nie verändern würde, und Israelis hegten den Wunsch, dass Deutschland es täte. Es scheint, dass beide Wünsche nicht wirklich in Erfüllung gehen konnten, ganz wie im richtigen Leben. Ist das ein Scheidungsgrund? Wer weiß. Hauptsache, es wird was aus den Kindern, und es geht ihnen gut.

geb. 1956; Bundesgeschäftsführer der Deutsch-Israelischen Wirtschaftsvereinigung e. V. Infanteriestraße 19, Haus 2, 80797 München.
E-Mail: E-Mail Link: alroi@d-i-w.de