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Die Föderalismusreform zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Rainer-Olaf Schultze

/ 17 Minuten zu lesen

Die angestrebte Grundgesetzmodernisierung ist weit hinter den von der Politik selbst gesteckten Reformzielen zurückgeblieben. Gescheitert ist die Kommission an den strukturellen Faktoren der bundesrepublikanischen Politikverflechtung.

Einleitung

Trotz 13 Monate intensiver Verhandlungen scheiterte die gemeinsame Föderalismus-Kommission von Bundestag und Bundesrat in ihrem Versuch der "Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung". Dabei schienen die beiden Kommissionsvorsitzenden, Franz Müntefering und Edmund Stoiber, in ihrem Vorentwurf vom 13. Dezember des vergangenen Jahres auf verschiedenen Reformfeldern für die Länder- wie Bundes-Seite annehmbare Kompromissvorschläge erarbeitet zu haben. Folgt man der öffentlichen Wahrnehmung, waren es die unüberbrückbaren Gegensätze in Sachen Bildungs- und Hochschulpolitik, die eine Einigung verhinderten, so dass die Kommission am 17. Dezember ihre Arbeit unverrichteter Dinge beendete.

Entgegen dieser Einschätzung soll im Folgenden gezeigt werden, dass die angestrebte Grundgesetzmodernisierung weit hinter den von der Politik selbst gesteckten Reformzielen zurückblieb. Ursächlich für das Scheitern der Reformbemühungen sind strukturelle Faktoren der bundesrepublikanischen Politikverflechtung, nicht der Streit um die Kompetenzabgrenzung in der Bildungs- und Hochschulpolitik; allerdings lieferte er - und zwar beiden Seiten bzw. verschiedensten Akteuren - einen willkommenen Anlass, den Reformprozess scheitern zu lassen und am Status quo festzuhalten. Einen Erfolg versprechenden Ausweg aus den Reformblockaden verspricht nicht die Wiederaufnahme und Modifizierung der erarbeiteten Vorschläge, sondern allein die Rückbesinnung auf die Reformziele und die Verfolgung innovativer Reformwege.

Die Reformziele, die der Kommission vorgegeben wurden, waren weitreichend. Laut Einsetzungsbeschlüssen sollten die Kommissionsmitglieder Vorschläge erarbeiten mit dem Ziel, "die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern", "die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen" sowie "die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern". Zu diesem Zweck sollten vor allem "die Zuordnung von Gesetzgebungszuständigkeiten auf Bund und Länder, die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte der Länder in der Bundesgesetzgebung und die Finanzbeziehungen (insbesondere Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen) zwischen Bund und Ländern" überprüft und die Frage der Modernisierung des Föderalismus vor dem "Hintergrund der Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Situation der Kommunen" beleuchtet werden.

Die Aufgabenstellung trug damit in verschiedener Hinsicht den Reformforderungen Rechnung, wie sie seit geraumer Zeit beständig von Wissenschaft und Politikberatung angemahnt werden, um den allzu offenkundigen Reformblockaden und Effizienzmängeln der Politikverflechtung und den damit verbundenen Legitimationsverlusten des politischen Systems zu begegnen: den Notwendigkeiten der klaren Zurechenbarkeit von Verantwortung durch Entflechtung, der Durchschaubarkeit der politischen Strukturen und Entscheidungsprozesse, der verbesserten Beteiligungsmöglichkeiten durch Subsidiarität, der Stärkung der Parlamente gegenüber den Exekutiven sowie des solidarischen Wettbewerbs bei Wahrung der Gemeinschaftlichkeit.

Allerdings fehlte in den Einsetzungsbeschlüssen der explizite Hinweis auf den Grundsatz des solidarischen Wettbewerbs. Ebenso wurden zentrale Kernbereiche einer jeden Föderalismusreform aus der Kommissionsarbeit ausgeklammert: die Frage der Länderneugliederung und die Hauptelemente des Finanzföderalismus, des Steuerverbundes, des horizontalen Finanzausgleichs und des "Solidarpakts 2019" für die neuen Bundesländer.

Position der Bundesregierung

Die Bundesregierung - an der Kommissionsarbeit formal nur beratend beteiligt - setzte von Beginn an andere Prioritäten. Sie formulierte zwar auch die Notwendigkeit der Entflechtung von Gesetzgebungszuständigkeiten zum Zwecke der Effizienzsteigerung; ihre primären Modernisierungsziele sahen indessen anders aus. Sie hielt an der Bewahrung des kooperativen bzw. (in ihrer Formulierung) "solidarischen Föderalismus" fest, der insbesondere im Interesse der neuen Bundesländer liege, und betonte die Reformnotwendigkeit der "Europatauglichkeit bei der Vertretung deutscher Interessen in der Europäischen Union". Konkret ging es der Bundesregierung vor allem um vier Reformaspekte, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.

Gegenwärtig unterliegen ca. 60 Prozent aller Bundesgesetze - und mit ihnen insbesondere auch alle finanzwirksamen Gesetze - dem absoluten Veto des Bundesrates. Normativ ist dies vor allem eine Folge der grundgesetzlich garantierten Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der Rechts- und Wirtschaftseinheit des Gesamtstaates (Art. 72 GG); institutionell wird das Vetorecht des Bundesrates durch die Art. 84 GG (Beteiligung der Länder bei der Verwaltungsorganisation und Implementation von Bundesgesetzen) und Art. 104a GG (Finanzierungsregelung und -leistungen bei Bundesgesetzen) sowie die Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG) und die Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 GG) gewährleistet. Zusammen mit der "Usurpation" der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG) durch den Bundesgesetzgeber führte dies in der Vergangenheit zu einer beständigen Ausweitung der Zustimmungspflichtigkeit und damit zum Aushandlungszwang von Bundestags- und Bundesratsmehrheit wie zur informellen Mitregierung der "Landesfürsten" (Steffani) über den Bundesrat - und dies insbesondere, aber nicht nur bei gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Die Bundesregierung zielte deshalb verständlicherweise zum einen auf die Entkoppelung des Gesetzesinhaltes der Bundesgesetze von der Landeszuständigkeit in Verwaltungs- und Implementationsregelungen durch Reform des Art. 84 GG, um dadurch die Zahl der Zustimmungsgesetze deutlich zu reduzieren, zum zweiten auf die Veränderung der Mehrheitsanforderungen bei Abstimmungen im Bundesrat, indem sie die Abkehr von der absoluten und die Einführung der relativen Mehrheit forderte, so dass die Stimmenthaltung von Landesregierungen - eine häufige Praxis bei Koalitionsregierungen, sofern diese sich nicht einigen können - bei Abstimmungen nicht mehr einem Negativvotum gleichkäme.

Außerdem sollte eine Korrektur des Artikels 23 GG zur Europäischen Union erfolgen. Dieser war im Zuge der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages in das Grundgesetz aufgenommen worden, zugunsten verbesserter Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Bundesregierung auf der europäischen Ebene. Artikel 23 schreibt gegenwärtig ein generelles Informations- und Beteiligungsrecht von Bundesrat und Landesregierungen, bei Politikmaterien ausschließlicher Landeskompetenz die direkte Mitwirkung und Vertretung der deutschen Position in den europäischen Institutionen durch die Länder vor.

Im Interesse der Bundesregierung lag auch die Einbindung der Landesregierungen in die Haushaltsdisziplin des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der Europäischen Union und der Maastricht-Defizitkriterien entsprechend der Empfehlungen des Finanzplanungsrates von Bund und Ländern. Damit sollte nicht nur erreicht werden, dass sich die Landesregierungen in ihrer Haushaltspolitik an diese Kriterien halten, sondern dass auch die Länder im Falle von Sanktionen durch die EU an den Sanktionsauflagen und -leistungen beteiligt sind.

Schließlich verfolgte die Bundesregierung das Ziel, die bisher konkurrierende Gesetzgebung durch die Verlagerung gewisser Gesetzesmaterien auf den Bund (u.a. Umwelt-, Verbraucherschutz, Vereinsrecht, Arbeitsrecht, Meldewesen, Raumordnung) und auf die Länder (u.a. Beamten- und Dienstrecht im öffentlichen Dienst der Länder; Presserecht, Versammlungsrecht) sowie durch Teilentflechtungen auf anderen Feldern (u.a. im Gewerberecht, in der Gerichtsorganisation, bei den Gemeinschaftsaufgaben) zu reformieren.

Im Kern zielte die Bundesregierung damit weniger auf Reföderalisierung; es ging ihr vielmehr um die Stärkung des Gesamtstaates durch Effizienzsteigerung und um Entflechtung nur insofern, als dadurch die Zustimmungspflichtigkeit und damit die faktische Mitregierung der Ministerpräsidenten und Landesregierungen wie der bundespolitischen Opposition nachhaltig reduziert sowie zudem die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung in der EU verbessert würden.

Als Kompensation bot die Bundesregierung Verhandlungen an u.a. über eine effizientere Verteilung der Steuerkompetenzen und den auswirkungsneutralen Tausch in der Ertragshoheit von KFZ-Steuer (Übertragung auf den Bund) und Versicherungssteuer (Übertragung auf die Länder), über einen finanziellen Ausgleich bei den Mischfinanzierungen der Gemeinschaftsaufgaben, über die Aufhebung der Rahmengesetzgebung sowie über Öffnungsklauseln bei - allerdings nur wenigen - Gesetzesmaterien. Verfassungsunmittelbare Zugriffsrechte der Länder hingegen lehnte die Bundesregierung aus Gründen möglicher Rechtszersplitterung ab.

Position der Länder

In dem Positionspapier vom Mai 2004, mit dem die Ministerpräsidenten in die Verhandlungen gingen, spiegelt sich die widersprüchliche und delikate Interessenlage der 16 Bundesländer. Zwar formulierten die Ministerpräsidenten, dass der "Föderalismus (...) - im Gegensatz zum Zentralstaat - von der Vielfalt politischer Konzepte und Lösungsmöglichkeiten" lebe, sie wollten sich aber (was indes in Anbetracht der traditionellen Interessengegensätze zwischen großen, finanzstarken und kleinen, finanzschwachen, zwischen west- und ostdeutschen Ländern, zwischen Flächen- und Stadtstaaten auch nicht verwundert) nicht auf ein Mehr an Wettbewerb untereinander verständigen. Beispielsweise lehnten sie Differenzierungen auf der Einnahmeseite des Finanzföderalismus, etwa Zu- und Abschlagsrechte bei den Verbundsteuern, ab. Einerseits blieben sie damit weit hinter der Reformnotwendigkeit der Abkehr vom Verbund- und der Hinwendung zum solidarischen Wettbewerbsföderalismus zurück. Andererseits jedoch einigten sich die Ministerpräsidenten gegenüber dem Bund auf einen in Anbetracht ihrer Interessenunterschiede überraschend kohärenten Katalog von Forderungen nach einem Mehr an Gestaltungsspielraum für Landtage und Landesregierungen. Dazu zählten die Rückübertragung von Kompetenzen, Entflechtungen sowie Öffnungsklauseln und Zugriffsrechte. Insbesondere ging es den Ministerpräsidenten um vier Reformziele.

Vor allem sollte die Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG) aufgehoben und eine Reform der Gemeinschaftsaufgaben bei finanzieller Kompensation durch den Bund erzielt werden; damit verbunden war eine angestrebte Übertragung der Gesetzgebung auf die Länder, u.a. bei der Organisations- und Personalhoheit, dem Dienst- und Besoldungsrecht im öffentlichen Dienst der Länder sowie im Blick auf die Grundsätze des Hochschul- und des Pressewesens.

Aus Sicht der Länder sollte außerdem eine Abrundung bislang fehlender Kompetenzen in den Politikbereichen Kultur, Bildung, Wissenschaft sowie auch im Ausbildungssektor und in der außerschulischen beruflichen Bildung erfolgen. Weiterhin strebten sie die Möglichkeit an, regionale Lebenssachverhalte auch regional regeln zu können, u.a. auf den Feldern der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sowie der öffentlichen Fürsorge. Ebenso beanspruchten die Länder Zugriffsrechte in vielen der Politikmaterien, die in der konkurrierenden Gesetzgebung verbleiben würden; allerdings konnten sich die Ministerpräsidenten nicht zu der Forderung nach der grundgesetzlichen Verankerung eines generellen Zugriffsrechts durchringen.

Als Kompensation boten die Ministerpräsidenten die Übertragung einiger weniger ausgewählter Zuständigkeiten auf den Bund an (u.a. das Melde- und Ausweiswesen, die auswärtige Kulturpolitik und das Umweltrecht). Die Angebote blieben allerdings weitgehend verknüpft mit der Forderung nach der Gewährung von Zugriffsrechten, insbesondere auch mit Blick auf die Zustimmungspflichtigkeit von Bundesgesetzen durch den Bundesrat und die Entkoppelung von Gesetzesinhalt und Implementation von Bundesgesetzen in Art. 84 GG. In Ansätzen wird hier das Grundmuster der Verhandlungsposition der Ministerpräsidenten sichtbar, das im übertragenen Sinne einem Tauschgeschäft ähnelte: die Bereitschaft zur Reduktion ihrer Mitregierungsmöglichkeiten auf Bundesebene einerseits und die gleichzeitige Erweiterung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten in fast allen zentralen Bereichen der Innenpolitik andererseits.

Ergebnisse

Die Kommission arbeitete mehr als ein Jahr intensiv in Plenum, zwei Arbeits- und sieben Projektgruppen unter Einbeziehung des Sachverstandes der beratenden Mitglieder aus Bundesregierung, Landtagen, kommunalen Spitzenverbänden und Wissenschaft. Letztlich lief die Kompromissfindung allerdings auf die beiden Ko-Vorsitzenden, auf Franz Müntefering für die Koalitionsmehrheit der Bundesseite und auf Edmund Stoiber für die Seite der Ministerpräsidenten und die oppositionelle Unionsminderheit in der Bundespolitik, hinaus. Beide trafen gegen Ende der Kommissionsberatungen mehrfach zusammen und unterbreiteten danach einen detaillierten gemeinsamen Kompromiss-Vorentwurf. Systematisch bedeutsame Veränderungen hätten wohl vor allem die folgenden Vorschläge bewirkt.

Die vorgesehene Entkoppelung in Artikel 84 GG hätte die Zustimmungspflichtigkeit von Bundesgesetzen deutlich, voraussichtlich von ca. 60 auf rund 40 Prozent, reduziert und damit den Handlungsspielraum von Bundestagsmehrheit und Regierung auch auf wichtigen Politikfeldern vergrößert. Dies hätte beispielsweise auch für das so heftig umstrittene Zuwanderungsgesetz gegolten, so dass man sich nicht nur die langjährigen kontroversen Verhandlungen zwischen (Bundes-)Regierung und Opposition bzw. oppositionellen Landesregierungen, sondern auch die bühnenreifen Abstimmungsinszenierungen im Bundesrat und den Gang nach Karlsruhe zum Bundesverfassungsgericht hätte ersparen können. Allerdings hätte sich im Blick auf den Finanzföderalismus, die Rahmengesetzgebung und die Gemeinschaftsaufgaben an der Zustimmungspflichtigkeit und folglich an der Mitregierung der Landesregierungen über den Bundesrat in zentralen Bereichen nichts geändert.

Die Länderseite akzeptierte im Blick auf die "Europatauglichkeit" die Bundesforderung nach Einbindung der Länder in die Haushaltsdisziplin der Maastricht-Kriterien und die Beteiligung der Landeshaushalte an möglichen Sanktionsleistungen im Verhältnis 65 zu 35. In der Frage der Reform der Mitwirkung der Länder auf EU-Ebene nach Art. 23 GG erfolgte jedoch keine Einigung. Das Gleiche gilt für die Kompetenzfelder des Hochschulrechtes und der Bildungsplanung, des Umweltrahmenrechtes sowie die Fragen der Inneren Sicherheit, die von den beiden Vorsitzenden sämtlich aus ihrem Kompromissvorschlägen ausgeklammert wurden.

Mit ihren Forderungen nach Reföderalisierung oder mindestens doch einer substanziellen Erweiterung ihres Gestaltungsspielraumes vermochten sich die Länder - mit Ausnahme des öffentlichen Dienstrechts und der Beamtenbesoldung - nicht durchzusetzen. Nicht einmal Zugriffsrechte enthält das Müntefering/Stoiber-Kompromisspapier in größerem Umfang. Den Verhandlungsführern der Bundesseite ist es im Verlauf der Beratungen offenkundig gelungen, die doppelstrategische Verhandlungslinie der Länderseite zu durchkreuzen. Es gelang ihnen nicht nur, das Primärziel der Länder nach Kompetenzverlagerungen in die Alleinzuständigkeit der Landespolitik - abgesehen von wenigen Gegenstandsbereichen - abzuwehren. Die Länder scheiterten auch mit dem Alternativkonzept umfänglicher Zugriffsrechte bei Fortbestand von Rahmen- und konkurrierender Gesetzgebungskompetenz des Bundes, sollte die Alleinzuständigkeit nicht erreichbar sein, wie beispielsweise bei Umwelt- und Hochschulpolitik. Vermutlich unterstützt von Skeptikern auf der Länderseite, lehnte die Bundesseite mit dem schwachen Argument drohender Rechtszersplitterung die Realisierung solcher Zugriffsrechte ab. Die Länderseite ließ sich - wie im Müntefering/Stoiber-Kompromisspapier dokumentiert - vielmehr auf die Aufspaltung von zusammengehörenden Politikmaterien und deren Übertragung in die geteilte Alleinzuständigkeit von Bund und Ländern ein. Dies betrifft die Aufsplittung u.a. von Versammlungs- und Vereinsrecht, im Gewerberecht und beim Grundstückserwerb, im Wohnungswesen, bei der Lärmbekämpfung sowie nicht zuletzt auch von Straf- und Strafvollzugsrecht. Nicht zu Entkoppelung und Handlungsautonomie der Akteure von Bund und Ländern, sondern zu einem Mehr an Verflechtungen und an Koordinations- und Aushandlungszwang hätten die geteilten Zuständigkeiten in der Praxis geführt - und zwar horizontal zwischen den Ländern wie vertikal zwischen Bund und Ländern. Die Reformziele der Kommission verkehrten diese Regelungen jedenfalls in ihr Gegenteil.

Gründe des Scheiterns

Resümiert man den dann gescheiterten vorläufigen Verhandlungskompromiss, wird man kaum umhinkommen festzustellen, dass die Bundesseite - mit Ausnahme der Reform des Europa-Artikels 23 GG - ihre primären Ziele weitgehend erreicht hätte, von einer Realisierung der übergeordneten Kommissionsziele der Effizienzsteigerung und Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung indessen keine Rede sein konnte. Insbesondere die Länderseite vermochte von ihrem Forderungskatalog im Endeffekt nur wenig durchzusetzen, ganz zu schweigen von ihrem Ziel des Gestaltungsföderalismus durch Entflechtung. Dies umso mehr, als es selbst in den ebenso zentralen wie symbolträchtigen Fragen von Bildung und Hochschule zu keiner für die Länder befriedigenden Einigung kam, sondern die Bundesregierung durch die Einlassungen der Bundesministerin Bulmahn gegen Ende der Kommissionsarbeit sogar "Öl ins Feuer goss". In Anbetracht dieser Ergebnisse verwundert es nicht, dass sich insbesondere CDU-Ministerpräsidenten dem von ihrem Verhandlungsführer Edmund Stoiber ausgehandelten Kompromisspapier nicht anschlossen und das Verhandlungsergebnis ablehnten, zumal der Bund ihnen durch seine Haltung in Sachen Bildung und Hochschule einen wohlfeilen Anlass lieferte. Wichtiger als das aus Sicht der Länder, insbesondere der Landtage, magere Ergebnis dürften indes strukturelle Gründe gewesen sein, welche die beteiligten Akteure, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven und Interessenlagen, veranlassten, die Verhandlungen scheitern zu lassen.

Einmal mehr verhinderten die Interessengegensätze zwischen den Ländern eine machtvolle Vertretung des eigenen Forderungskataloges gegenüber dem Bund. Beispielsweise forderten einerseits die neuen Bundesländer (wenngleich vergeblich) als Sonderrecht die verfassungsrechtliche Absicherung des "Solidarpaktes 2019", andererseits wandten sich verschiedene Akteure aus den Ländern mit dem Argument der Rechtseinheit gegen die Einführung von Wettbewerbselementen und Zugriffsrechten. Sie stützten damit im Verlaufe der Verhandlungen mindestens indirekt die ablehnende Haltung des Bundes.

Entflechtungen "gefährden" sodann die komplexen und eingefahrenen Handlungsmuster im System der Politikverflechtung; sie tangieren damit das politisch-administrative Eigeninteresse der Ministerialbürokratien von Bund und Ländern am Fortbestand des verflochtenen Exekutiv-Föderalismus mit all seinen Bund-Länder-Konferenzen und Fachbrüderschaften. Zugriffsrechte laufen im Übrigen deren juristisch geprägtem Dogma von der Notwendigkeit der Rechtseinheit zuwider, die es auf jeden Fall aufrechtzuerhalten gelte. Sie sind schon allein aus diesem Grunde Entflechtungen und Zugriffsrechten gegenüber höchst skeptisch eingestellt und vergessen dabei, dass die Dynamik föderaler Systeme keine Einbahnstraße in Richtung auf eine Unitarisierung der Rechts- und Lebensverhältnisse sein kann, sondern dass Föderalismus per definitionem vom Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und Einheit bestimmt ist und sich genau dadurch vom dezentralen Einheitsstaat unterscheidet.

Ähnliches gilt für die politischen Akteure. Insbesondere die Spitzenpolitiker aus den Exekutiven der Länder profitieren vom politisch-administrativen Nutzen der Politikverflechtung. Lässt man den Verhandlungsverlauf Revue passieren, drängt sich der Eindruck auf, dass wichtige Akteure der Politikverflechtungsfalle gar nicht entkommen möchten, um nicht die Möglichkeiten ihrer (Selbst-)Darstellung auf der nationalen (Medien-)Bühne und ihres Einflusses auf die Bundespolitik zu verlieren. Mancher von ihnen mag aus diesen Motiven den Status quo der Politikverflechtung den Unwägbarkeiten allzu weitreichender Entflechtungen und Reföderalisierungen vorgezogen und das Scheitern der Reform in Kauf genommen haben.

Wege aus der Sackgasse?

Eine Föderalismusreform, die das Wort Reform tatsächlich verdient, ist in Anbetracht der Reformblockaden der Politikverflechtung dringlicher denn je. Aus dem Scheitern der Arbeit der Reformkommission können dabei wichtige Hinweise für erfolgversprechendere Reformansätze gewonnen werden. Es bedarf dabei zunächst der Rückbesinnung auf die fünf Reformziele: klare Zurechenbarkeit durch Entflechtung, Transparenz, verbesserte Beteiligungsmöglichkeiten, Gestaltungsföderalismus und solidarischer Wettbewerb. Dies folgt aus der Einsicht, dass im Föderalismus Vielfalt und bis zu einem bestimmten Grade Asymmetrien in den Politikergebnissen nicht nur in Kauf genommen, sondern in gewisser Weise auch angestrebt werden. Und es bedeutet notwendig die Einbeziehung des Finanzföderalismus und der Steuergesetzgebung in die Reform mit dem Ziel der Einführung autonomer Steuerkompetenzen der Länder. Fritz W. Scharpf hat in verschiedenen seiner Stellungnahmen als Kommissionsmitglied im Einzelnen dargelegt, welche Steuern dafür in Frage kommen, nämlich solche, die - wie Grundsteuer, Grunderwerbssteuer, Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuer - auf Tatbestände erhoben werden, bei denen die Gefahr der Abwanderung gering ist oder nicht besteht. Möglich sind darüber hinaus Zu- bzw. Abschläge auf die Einkommenssteuer. Dieses so genannte Huckepack-Verfahren hat sich in anderen Föderal-Staaten durchaus bewährt. Und Scharpf hat im Übrigen die Widersprüchlichkeiten in der Position der Länder überzeugend kritisiert: "Wer autonome Steuerkompetenzen der Länder kategorisch ablehnt, der kann autonome Gesetzgebungskompetenzen der Länder nicht ernsthaft wollen."

Will man tatsächlich vom Verbund- zum Gestaltungsföderalismus, spricht im Blick auf die Reform der Kompetenzverteilung viel für den Weg der indirekten Entflechtung durch die Gewährung umfassender Zugriffsrechte für die Länder - und zwar aus sachlichen wie prozeduralen Gründen. Inhaltlich erweist sich, dass es heute aufgrund der Komplexität der Politikmaterien außerordentlich schwierig ist, zu klaren und zudem sachgerechten Kompetenztrennungen zu gelangen. Bestehen sie, wächst die Notwendigkeit der horizontalen Selbstkoordination der Länder mittels Staatsverträgen - ein Ausweg, der unter Effizienzgesichtspunkten ganz sicher nicht zu rechtfertigen ist. Der von der Kommission wohl aus Gründen der Tauschgeschäfte und Kompromissfindung eingeschlagene Weg der Aufspaltung der Politikmaterien in Teilbereiche geht gleichfalls in die Irre; er führt zu erhöhter vertikaler Politikverflechtung. Die sachlich sinnvolle Antwort lautet demnach: bundespolitische Zuständigkeiten beibehalten, sei es als Rahmen-, sei es als konkurrierende Gesetzgebung, den Ländern indessen weitreichende Öffnungsklauseln und Zugriffsrechte einräumen. Experimentierklauseln und Opting-out-Regelungen erhöhen die Innovationsmöglichkeiten im politischen System; die Zersplitterung der Rechtseinheit ist hingegen keine reale Gefahr; die praktischen Erfahrungen in den Föderal-Staaten, die solche Opting-out-Regelungen kennen, belegen dies. Wahrscheinlicher ist der Wettbewerb zwischen höchstens zwei oder drei Ländern um die bessere Lösung, was aus Gründen der Vielfalt wie der Effizienz wünschenswert und auch für die kleinen und finanzschwachen Länder attraktiv ist. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Wirkung von Zugriffsrechten - in der Kommission mit Nachdruck vertreten - gelangt Fritz W. Scharpf: "Am Ende wird sich deshalb das Muster eines asymmetrischen Föderalismus herausbilden, bei dem das einheitliche Bundesrecht zwar in weiten Teilen des Bundesgebietes unveränderte Anwendung findet, aber in manchen Bundesländern durch landesrechtliche Abweichungen ersetzt wird. Dieses Muster entspräche der realen Situation des deutschen Föderalismus besser als die bisher eindeutige Vorherrschaft des einheitlichen Bundesrechts oder als die generelle Verlagerung bisheriger Bundeskompetenzen auf die Länder."

Bleibt abschließend die Frage, warum die Kommission den Weg der indirekten Entflechtung nicht beschritten hat, zumal er sich auch prozedural als Alternative anbietet, wenn die Verständigung auf eine umfassende Föderalismusreform sich als unmöglich erweist. Dies ist umso bemerkenswerter, als er den politischen Akteuren von der wissenschaftlichen Politikberatung mehrfach und während der Kommissionsarbeit von dem gegenwärtig wohl sachkundigsten und juristisch ausgebildeten Politikwissenschaftler auf dem Felde der Föderalismusanalyse nachdrücklich als Erfolg versprechender Reformweg empfohlen worden ist. Verantwortlich dafür sind wohl politisch-kulturelle wie politisch-institutionelle Gründe.

Politisch-institutionell zeigte sich einmal mehr, dass Institutionenreformen, die Besitzstände und/oder tradierte Handlungsmuster in Frage stellen, nur wenig wahrscheinlich sind, wenn allein die Betroffenen darüber befinden. Dies aber war infolge von Zusammensetzung und Geschäftsordnung bei der Kommission der Fall. Und es spricht dafür, derartige Reformprozesse zu öffnen.

Politisch-kulturell erwies sich erneut, wie stabilitätsfixiert und vom Aushandeln bestimmt die Grundeinstellungen der politischen Klasse in der Bundesrepublik sind. Sie zieht fast durchweg das Bewährte, wenn auch in den Ergebnissen offenkundig Suboptimale dem Ungewissen, aber Innovativen vor, und sie hat weder Vertrauen in die Möglichkeiten des "Lernens durch Entflechtung" noch in die kreativen Lösungen des "Lernens durch fairen Wettbewerb".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag analysiert Zielsetzungen und Ergebnisse der Föderalismus-Reformkommission anhand der öffentlich, via Internet (unter http://www. bundesrat.de) zugänglichen Dokumente der Kommission sowie der Berichterstattung in der überregionalen Presse; auf Letztere kann im Folgenden nicht gesondert verwiesen werden. Jörg Broschek und Nina Gerstenkorn sei für die Unterstützung bei der Aufbereitung der Dokumente gedankt.

  2. Die Literatur zum bundesdeutschen Föderalismus ist kaum mehr zu übersehen; zum Einstieg vgl. Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1998; Roland Sturm, Föderalismus in Deutschland, Opladen 2001; Fritz W. Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Frankfurt/M.-New York 1994; Arthur Benz/Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Föderalismus (PVS Sonderheft 32), Wiesbaden 2002.

  3. Die Einsetzungsbeschlüsse sind abgedruckt in: Deutscher Bundestag, 66. Sitzung/16.10. 2003, BT-Drucksache 15/1685; Bundesrat, 792. Sitzung/17.10. 2003, BR-Drucksache 730/03, zit. in: Dokumente (Anm. 1).

  4. Über die zahlreichen Diskussionsbeiträge und Reformvorschläge aus Wissenschaft und Politikberatung vgl. u.a. Rudolf Hrbek/Annegret Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismus-Reform. Eine Dokumentation, Tübingen 2003, sowie die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 53 (2003) 29 - 30, und in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 35 (2004) 3.

  5. Vgl. Bertelsmann Stiftung, Entflechtung 2005, Gütersloh 2000; dies., Eckpunkte für eine erfolgreiche Modernisierung des deutschen Bundesstaates. Ein Maßstäbepapier, Gütersloh, hekt., 19.11. 2004.

  6. Zu Zielsetzung und Verhandlungsposition der Bundesregierung siehe die Positionspapiere: Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung vom 9.4. 2003 (zit. nach http//www.bmj.bund.de/enid/lt.html), dort auch die Zitatstelle, und vom 7.11. 2004.

  7. Im Verlauf der Kommissionsberatungen wurde die Forderung nach Reform der Abstimmungsverfahren vom Bund nicht weiter verfolgt; zur Abstimmungspraxis vgl. R. Sturm (Anm. 2), S. 53ff.

  8. Vgl. Föderalismusreform. Positionspapier der Ministerpräsidenten vom 14.5. 2004, Kommissionsdrucksache 45 (Anm. 1).

  9. Ebd., S. 3.

  10. Vgl. ebd., S. 3 f.

  11. Vorentwurf für die Kommission zur Modernisierung zur bundesstaatlichen Ordnung. Vorschlag der Vorsitzenden Franz Müntefering, MdB, und Edmund Stoiber, Ministerpräsident, vom 13.12. 2004 (hekt.).

  12. Die höchst problematische Aufspaltung der Zuständigkeiten scheint Heribert Prantl in seiner Einschätzung des Kompromisspapiers in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 18./19.12.2004 entgangen zu sein. Nur so werden Diktion und Bewertung seines Beitrages, in dem er die Kompetenzübertragungen auf die Länder in das Zentrum rückt, verständlich.

  13. So sprach sich Edelgard Buhlmann im Gefolge der PISA II-Studie beispielsweise für eine grundlegende Strukturreform der Schulformen und die Abschaffung der Hauptschule aus, vgl. SZ vom 8. 12. 2004.

  14. Vgl. Rainer-Olaf Schultze, Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie - Politikverflechtung und kein Ende: Der deutsche Föderalismus nach der Vereinigung, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 4 (1993), S. 225 - 255.

  15. Der Begriff der Politikverflechtung geht auf Fritz W. Scharpf zurück; vgl. ders. u.a., Politikverflechtung, Kronberg/Ts. 1976.

  16. Vgl. ders., Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26 (1985), S. 323 - 356.

  17. Vgl. Rainer-Olaf Schultze, Wieviel Asymmetrie verträgt der Föderalismus?, in: Dirk Berg-Schlosser u.a., Politikwissenschaftliche Spiegelungen, Opladen 1998, S. 199 - 216.

  18. Vgl. Fritz W. Scharpf, Stellungnahme zur Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, Kommissionsdrucksache 29 vom 4. 3. 2004; ders., Steuerwettbewerb vs. Gestaltungskompetenzen, Kommissionsdrucksache 47 vom 20. 5. 2004 (Anm. 1).

  19. Vgl. Rainer-Olaf Schultze, Bundesstaaten unter Reformdruck: Kann Deutschland von Kanada lernen?, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 2 (2004), S. 191 - 211.

  20. F. W. Scharpf, Steuerwettbewerb vs. Gestaltungskompetenzen (Anm. 18), S. 2.

  21. Ähnlich Fritz W. Scharpf, Anmerkungen zum "asymmetrischen und lernfähigen Föderalismus", Kommissionsdrucksache 80 vom 31. 5. 2004 (Anm. 1).

  22. Vgl. Jörg Broschek/Rainer-Olaf Schultze, Föderalismus in Kanada: Pfadabhängigkeiten und Entwicklungswege, in: Jahrbuch des Föderalismus 2003, Baden-Baden 2003, S. 333 - 366.

  23. Vgl. Rainer-Olaf Schultze, Indirekte Entflechtung: Eine Strategie für die Föderalismusreform?, in: ZParl, 31 (2000), S. 681 - 698.

  24. F. W. Scharpf (Anm. 21), S. 2.

  25. So u.a. auch von der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags, Reform des Föderalismus - Stärkung der Landesparlamente, München 2002.

Dr. phil., geb. 1945; Professor für Politikwissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kanada-Studien, Universität Augsburg. 86135 Augsburg.
E-Mail: rainer-olaf.schultze@phil. uni-augsburg.de