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Weltgeschichte als Geschichte der sich globalisierenden Welt

Hanna Schissler

/ 18 Minuten zu lesen

Welt- oder Globalgeschichte ist Zeitgeschichte im Sinne eines bewussten Nachdenkens über die eigene Geschichte und eines Neupositionierens im Weltzusammenhang. Inwiefern unterscheidet sich etwa die neue Weltgeschichte von älteren universalhistorischen Entwürfen?

Einleitung

Die Diskussion um Welt- oder Globalgeschichte beginnt in Deutschland erst allmählich Fuß zu fassen. Noch lebt diese Diskussion vom Engagement Einzelner. Den Verwicklungen der Globalisierung und der Komplexität der Gegenwart wird man jedoch auch in Deutschland mit nationaler Geschichte und selbst mit einer Ausweitung auf europäische Perspektiven nicht mehr gerecht.

Im Folgenden möchte ich erstens allgemein die Notwendigkeit neuer Orientierungen, dietransnationale und weltgeschichtliche Perspektiven einschließen, skizzieren; zweitens werde ich darauf eingehen, inwiefern sich die neue Weltgeschichte von älteren universalhistorischen Entwürfen unterscheidet; drittens werde ichnicht nur die Frage erörtern, was "realhistorisch" neu ist und inwiefern folglich eine neue welthistorische Orientierung notwendig geworden ist, sondern auch, auf welche Weise Weltgeschichte und neue Globalgeschichte auf diese neuen Phänomene reagieren.

Neue Orientierungsnotwendigkeiten

Die Dominanz der nationalen Geschichte war bis in die 1960er Jahre hinein weitgehend unangefochten. Das entspricht der Tradition der Geschichtswissenschaft, die ihre Professionalisierung im 19. Jahrhundert in engster Anlehnung an den Nationalstaat erreicht hat. Eine Aussage über die "Welt" ist jedoch in jedem historischen Narrativ enthalten, nicht zuletzt auch im " Containermodell" der nationalen Geschichte. Darin interagieren quasi-personifizierte Akteure miteinander, denen selbst Gefühle eigen sind: "Deutschland erklärt Frankreich den Krieg"; "England fühlt sich durch den deutschen Flottenaufbau bedroht". Das Erzählen von Geschichte als nationale Geschichte hat eine große Beharrungskraft. Es ist die Nationalgeschichte, die, wo immer man hinschaut, bis heute im Wesentlichen Geschichte by default, mithin diejenige Art von Geschichte ist, die sich "natürlicherweise" dem Bewusstsein von Menschen aufdrängt.

Die Selbstverständlichkeiten einer politisch ausgerichteten Nationalgeschichte (nicht jedoch die Nationalgeschichte per se) gerieten seit den späten 1960er Jahren zunächst durch die Sozialgeschichte unter Beschuss und büßten in der Folgezeit durch eine Reihe neuer Ansätze zumindest teilweise ihre Legitimität ein: durch die dekonstruktivistische Frauen- und Geschlechtergeschichte, sodann durch die Alltagsgeschichte sowie in den USA vor allem durch die ethnischen Geschichten, mithin durch diejenigen Ansätze, die man heutzutage gerne unter kulturhistorischem Vorzeichen zusammenfasst. In diesem Prozess pluralisierte sich die Geschichtswissenschaft. An die Stelle "der Geschichte" traten "die Geschichten", und aus dem "edlen Traum" von der historischen Objektivität gab es ein unsanftes Erwachen. In der Geschichtswissenschaft ist politische Nationalgeschichte nicht mehr automatisch history by default, also die im Bewusstsein gewissermaßen automatisch "gebootete" Geschichte.

Was nun hat es mit der Weltgeschichte auf sich, undwas kann diese leisten? Orientierungsbedürfnisse, oder besser: Orientierungsnotwendigkeiten, ändern sich im Laufe der Zeit. Sie sind ebenso abhängig von historischen Gegebenheiten wie von persönlichem Erleben. Wird es offenbar, dass sich Phänomene nicht mehr mit herkömmlichen Paradigmen erklären lassen, beginnt die Suche nach neuen Orientierungsschemata. "One generation's 'true' history is the next generations' nonsense", schreibt der amerikanische Historiker Ross Dunn. Nach der Implosion des sowjetischen Einflussbereiches 1989 und nach den Terrorangriffen des 11. September 2001 ist die Notwendigkeit, Geschichte welthistorisch, präziser: als globale Geschichte, neu zu konzipieren, offensichtlich. Aus der Vielzahl von Büchern und Artikeln, die auf die neuen Herausforderungen reagieren, seien einige wenige hervorgehoben, weil sie in besonders produktiver Weise neue Erklärungsansätze vorstellen. "1989" ist der Referenzrahmen für den in Harvard lehrenden Historiker Charles Maier, der im Jahr 2000 in einem bemerkenswerten Aufsatz in der "American Historical Review" neue Konzeptualisierungen der Erinnerungskultur umrissen hat. Auch Eric Hobsbawm hat nicht nur mit seinem Buch "Zeitalter der Extreme", sondern auch mit seiner Autobiografie "Gefährliche Zeiten" auf die welthistorisch veränderten Bedingungen von 1989 geantwortet. In Deutschland hat Dan Diner Neuland betreten und eine globalhistorische Perspektive aus osteuropäischer Sicht vorgeschlagen.

Charles Maier beschreibt die Verschiebungen der Erinnerung an die Gräuel des 20. Jahrhunderts, wie sie sich im letzten Jahrzehnt angedeutet und teilweise auch vollzogen haben. Das Signum "1989" hat den Holocaust in gewisser Weise historisiert. Neben die Erinnerung an den Holocaust ist die Notwendigkeit getreten, die Lager der kommunistischen Regime zu erinnern und aufzuarbeiten. Historisch vergangen, so Maier, seien letztlich beide: der Holocaust wie der Gulag, auch wenn sie für die Erinnerung von Menschen ebenso wie die Erinnerungskulturen von Nationen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Die Zukunft gehöre, so Maier, der postkolonialen Erinnerung mit allem Unrecht und allen bis in die Gegenwart hinein spürbaren Verletzungen, die aus dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts resultieren und die zunehmend stärker als ethnische Proteste sowohl innerhalb westlicher Gesellschaften als auch auf internationaler Ebene artikuliert werden. Eric Hobsbawm und Dan Diner analysieren, was Letzterer den "Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts" mit "seiner lärmenden Rhetorik widerstreitender Universalien" genannt hat, mithin die Weltentwürfe des liberalen Kapitalismus und des Bolschewismus, jener großen Kontrahenten des Kalten Krieges. Hobsbawm fügt sein persönliches Erleben in das katastrophenreiche 20. Jahrhundert ein, ein Erleben, das den Menschen oft wenig Optionen ließ und ihnen gleichwohl wichtige, nicht zuletzt sehr persönliche Entscheidungen abverlangte.

Schließlich sei noch ein weiterer Autor genannt, der zwei Jahre lang um die Welt gereist ist, um die dramatischen Veränderungen, die sich in unserer Lebenszeit vollziehen, zu verstehen: Manuel Castells hat in seinem faszinierenden dreibändigen Werk "The Information Age" nicht nur die Revolutionierung unserer Kommunikationssysteme beschrieben, sondern auch den Charakter neuer Kriege und die neue, lokale wie globale, Armutsdifferenzierung, die er als "Fourth Worldization" bezeichnet. Seine zwischen 1996 und 1998 entstandenen Bücher sind bemerkenswert, nicht zuletzt im Hinblick auf die Weitsicht, mit der der Autor einige Jahre vor dem 11. September 2001 die weltweite Zunahme terroristischer Angriffe prognostiziert hat.

Diese Arbeiten sind gelungene Versuche, auf die neuen Orientierungsnotwendigkeiten der Gegenwart in einem Zeitalter globaler Verstrickungen Antworten zu finden. Für eine Diskussion um Weltgeschichte oder um globale Perspektiven des historischen Verständnisses im europäischen Kontext bieten sie wertvolle Anknüpfungspunkte, die es weiter zu verfolgen gilt.

Konzepte von Welt- bzw. Globalgeschichte

Wenn wir von "Weltgeschichte" sprechen, müssen wir sagen, was wir damit meinen, damit der Annahme vorgebeugt wird, hier handele es sich um eine Anknüpfung an die universalhistorischen Entwürfe der Aufklärung. Mit diesen hat die neue Weltgeschichte wenig gemein. Die europäische Universalgeschichte, deren Prinzipien Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte" von 1789 dargelegt hat, ging davon aus, dass die Geschichte ein zielgerichteter Prozess sei, der notwendig zur Verbesserung der conditio humana führe. Die Universalgeschichte war eine Art säkularisierter Theologie, ein progressiver, nur aus dem Zeithorizont des 18. Jahrhunderts heraus zu verstehender Ansatz. Ihren Wurzeln in der Aufklärungsphilosophie zufolge hatte die Geschichte Ziel, Auftrag und Richtung. Das Ziel lag in der Verbesserung der Gesellschaft; sie verfolgte die Mission, der Welt die Prinzipien westlicher Kultur und Philosophie nahe zu bringen, davon versprach man sich einen allgemeinen, menschheitsgeschichtlichen Fortschritt. In dieser Konzeption war Europa das unbestrittene und klar definierte Zentrum. Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie war für jeden Gebildeten klar definiert, und die Welt präsentierte sich nicht, wie heute, als hoffnungslos dezentriert. Die Frage der agency, nach der Handlungskompetenz in der Geschichte, war ebenfalls eindeutig geklärt: Die Welt bestand aus denkenden, rational handelnden (weißen) Männern, anstatt, wie heute, aus komplex handelnden und unter mannigfachen, sich nicht selten widersprechenden Anforderungen stehenden Menschen, die männlich wie weiblich sein können - von ethnischen Zugehörigkeiten und anderen Differenzmarkierungen ganz zu schweigen.

Diese der Aufklärung verpflichteten Strukturprinzipien lassen sich bis in die Modernisierungstheorien der 1960er Jahre verfolgen, deren entscheidendes Merkmal ihre eurozentrische Ausrichtung war. Die Modernisierungstheorien gingen - am deutlichsten im Stufenmodell von Walt W. Rostow - von einem mehr oder weniger schematischen Modell der Entwicklung aus, das angeblich alle Länder durchlaufen und das notwendigerweise zu Demokratisierung auf der Basis soliden Wirtschaftswachstums führen würde. Bruce Mazlish hat den Unterschied zwischen Modernisierungstheorien und globaler Geschichte so gefasst: "Moderniziation was basically a Western imposition. Globalization, in contrast, is a global process, where a new 'civilization' (...) is being created (for better or for worse) by numerous participants (...)." Die Modernisierungstheorien wurden im Laufe der Zeit von differenzierter angelegten Transformationsmodellen abgelöst sowie von vielfältigen Versuchen, den Prozess der Globalisierung empirisch zu bestimmen.

Zusammengefasst bedeutet das: Was ältere, zumeist in der Aufklärung und in eurozentrischen Weltbildern verankerte welt- oder universalhistorische Entwürfe von den heutigen Bemühungen unterscheidet, sind erstens die Konstruktion des handelnden historischen Subjekts, bzw. handelnder Kollektivsubjekte; zweitens die apodiktische Annahme, dass Europa das Zentrum, der Rest der Welt hingegen die Peripherie sei; und drittens die Vorstellung, dass der historische Prozess mehr oder weniger automatisch auf Fortschritt, Modernisierung, Demokratie sowie eine vernünftige Weltordnung hinauslaufe.

Worin unterscheidet sich die neue Welt- oder Globalgeschichte von den alten universalhistorischen Entwürfen? Die Terminologie ist nicht immer trennscharf, aber viele Autoren machen einen Unterschied zwischen world history und global history. "World history" meint häufig "die ganze Geschichte der ganzen Welt" ("the whole history of the whole world"), eine Form von Weltgeschichte, die Jürgen Osterhammel zu Recht als höhere Form des Wahnsinns bezeichnet hat, die lediglich zu "uninspirierten Datenkollagen" führe. "Global history" konzentriert sich dagegen auf die Beschreibung der Herstellung des Weltzusammenhanges in unterschiedlichen historischen Epochen, also etwa in der Frühen Neuzeit (zu denken ist an Immanuel Wallersteins "Weltsystem"), im 19. Jahrhundert (die Ausbreitung des Kapitalismus und die Kolonisierung), in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der sich herausbildende globale Weltzusammenhang wird von Soziologen unter dem Stichwort "Weltgesellschaft" diskutiert.

In den USA boomt Weltgeschichte. Sie verändert ganze history departments. Ross Dunn unterscheidet zwischen dem "Western Heritage Model", dem "Different Cultures Model" und dem "Patterns of Change Model". Das erste führe in der Regel zu einer "parade of civilizations". Missionarischer Eifer für den American way of life sei ihm eigen. Es ist eng an die "western-civilization"-Kurse angelehnt, ja es stellt einen "western-civ-as-world-history"-Zugang dar, in dessen konzeptionellem Rahmen es dann auch zu dem gefürchteten "clash of civilizations" à la Samuel Huntington kommen kann und wo es darum geht, die einzigartigen universalistischen Werte des Westens gegen andere, vor allem islamische Zivilisationen zu verteidigen und auszubauen. Das "Different Cultures Model" ist aus den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre hervorgegangen. Es ist kulturrelativistisch und integrativ. In der Praxis führt es dazu, dass auch außerwestliche Kulturen berücksichtigt werden, die als prinzipiell gleichwertig konzipiert werden. Die geheime Agenda dieser Art von Weltgeschichte (oder auch ihr erklärtes Ziel) ist es, quantitativ mehr Informationen über Afrika, Asien und Lateinamerika und prozentual weniger über Europa und die USA zu vermitteln, um auf diese Weise dem unserem Geschichtsbild inhärenten Eurozentrismus zu entgehen. Die dritte Zugangsweise, die Dunn "Patterns of Change Model" nennt, ist diejenige, die gegenwärtig die amerikanische Weltgeschichtsdebatte dominiert und der die Größen der Debatte um Weltgeschichte in den USA angehören: William McNeill, Leften Stavrianos, Philip Curtin, Jerry Bentley, Patrick Manning, C.A. Bayly, Peter Stearns, Carol Gluck, Charles Bright und Michael Geyer. Dieses auch von Ross Dunn favorisierte Modell verfolgt den Gedanken, dass soziale und räumliche Felder des historischen Forschens offen und flexibel, nicht jedoch durch konventionelle kulturelle Kategorien determiniert sein sollen: Das "patterns-of-change-model (...) promotes the idea that social and spatial fields of historical inquiry should be open and fluid, not predetermined by conventionally assumed cultural categories". Das Modell ist offen für Fragen der Intentionalität, agency und Kontingenz in globalen Kontexten.

Das Erfassen "emergenter" Phänomene

Sicher ist es für Historiker und Historikerinnen richtig zu betonen, dass das, was heute unter dem Schlagwort der Globalisierung abgehandelt wird, nicht unbedingt neu ist, sondern dass es Weltzusammenhänge oder sogar ein "Weltsystem" (Wallerstein) spätestens seit der Frühen Neuzeit gegeben hat. Es gibt aber durchaus Entwicklungen, die tatsächlich neu für das 20. Jahrhundert, präziser: dessen zweite Hälfte, sind und die einen spezifisch neuen Weltzusammenhang konstituieren. Diese Entwicklungen gehen in allgemeinen Weltzusammenhängen, oder, wie Ross Dunn und William McNeill es nennen, "interactive zones", früherer Jahrhunderte nicht auf bzw. können als solche nicht zureichend erfasst werden. Manuel Castells hat eine beeindruckende Liste dessen, was welthistorisch gesehen neu ist, zusammengestellt: - Neu sind Computer, das Internet und die Revolutionierung der Kommunikationstechnologien mit den sich daraus ergebenden Veränderungen von Kommunikationsmustern. Auf mechanischen Schreibmaschinen getippte Briefe betrachten wir heute als rührende Relikte vergangener Zeiten, und die logistischen Vereinfachungen, die das Internet ermöglicht, führen zu einer Multiplizierung der Aufgaben und zu einer enorm anwachsenden Beschleunigung mechanischer wie geistiger Arbeit. - Neu sind auch die sozialen Bewegungen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die insbesondere die gesellschaftliche Position von Männern und Frauen sowie ihre Beziehungen zueinander nachhaltig verändert haben. - Neu sind ferner grundlegend veränderte Anforderungen an die Arbeiterschaft (von Richard Sennett eindrucksvoll beschrieben) sowie eine sich dramatisch verändernde Zusammensetzung der Arbeiterschaft. Der Charakter von Arbeit hat sich ebenso gewandelt wie das, was man vereinfachend und im Rückblick als "Normalbiografie" bezeichnen könnte. Das Modell des ausschließlich männlichen Familienernährers verliert zunehmend an Bedeutung, und der Anteil von Frauen und Minoritäten an der erwerbstätigen Bevölkerung hat zumindest in den USA, wo die Trends möglicherweise deutlicher ausgeprägt sind als in Europa, auf dramatische Weise und in bislang ungekannten Ausmaßen zugenommen. Der Trend ist jedoch auch in Europa erkennbar. Insgesamt hat sich die Produktivität von Arbeit erhöht, was dazu führt, dass Arbeit (und daraus folgend: Arbeitseinkommen) weltweit ein immer knapper werdendes Gut wird. - Als Konsequenz gewandelter Arbeitsverhältnisse verändern sich auch die Generationenverhältnisse. Das erleben wir derzeit in Deutschland ebenso wie in anderen europäischen Ländern als Um- und Abbau der Systeme sozialer Sicherung. - Eine Kulturrevolution hat in den letzten drei bis vier Dekaden nicht nur herkömmliche und lange Zeit für unantastbar gehaltene Hierarchien relativiert, sondern sie hat auch neue Formen der Wissensaneignung oder dessen, was als (standardisiertes, kanonisiertes) Wissen gilt, befördert. Das unangefochtene kanonisierte Wissen früherer Generationen gerät zunehmend unter Legitimationszwänge. Daraus folgend haben sich die Erfordernisse im Hinblick auf die Erziehung der nachwachsenden Generationen deutlich verändert. Neue Inhalte wie neue Formen der Wissensaneignung nehmen an Bedeutung zu. - Neu ist auch, dass die transnationale Migration in globalem Ausmaß deutlich zugenommen hat. Dabei finden die stärksten Migrationsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent statt, nicht in Europa oder in Nordamerika oder Australien. - Neu ist ebenfalls, dass sich der größte Teil der Weltbevölkerung in Metropolen oder mega-cities konzentriert, mit weiter steigender Tendenz. Bis vor kurzem lebte der größte Teil der Menschheit auf dem Lande und in Dörfern. - Neue Formen regionaler wie globaler Ungleichheit nehmen zum Teil dramatisch zu. - Internationale Handelsbeziehungen und globale wirtschaftliche Verknüpfungen sparen keine Weltregion mehr aus. Die Finanzmärkte operieren global, und weltweit herrscht ein zunehmend ungebändigter Kapitalismus. Die Folgen für die Steuerungskapazität von Politik werden deutlich. - Weltweit lässt sich ein Schrumpfen des öffentlichen Sektors und eine (Re-)Privatisierung vormals öffentlicher Funktionen beobachten. Das zeigt sich am Anwachsen privater Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten) und an der Privatisierung von sozialen Diensten. Selbst Gefängnisse werden in den USA bereits privatisiert, und es gibt weltweit eine stetig wachsende Anzahl moderner Söldner, die der öffentlichen Kontrolle entzogen sind. Wenn das staatliche Monopol legitimer Gewaltanwendung untergraben wird und vormals öffentliche Dienste in private Leistungen überführt werden, führt das zu einer dramatischen Delegitimierung von Politik.

Soweit die Faktoren, die Castells anführt. Auch der Vorstoß ins All, Satelliten in der Stratosphäre, die Nuklearspaltung und daraus folgende Gefährdungen, gegen die Territorialstaaten ihre Bürger nicht schützen können (Atombombe; Tschernobyl), und Umweltprobleme wie Ozonlöcher oder die globale Erwärmung sind historisch Phänomene, die sich nicht mit dem Verweis auf die bereits seit Jahrhunderten zu beobachtende Globalisierung erledigen, sondern die in der Tat historisch gesehen neuartige Phänomene sind. Empirisch werden an den genannten Punkten die Konturen einer sich globalisierenden Welt in der Gegenwart sichtbar. Sie bezeichnen mögliche Themen der zunehmend wichtiger werdenden Welt- oder Globalgeschichte.

Wenn in Deutschland inzwischen von der "einen Welt" gesprochen wird - ein Sprachgebrauch, der die lange Zeit vorherrschenden Vorstellungen von einer Ersten, Zweiten und Dritten Welt abzulösen beginnt -, so ist das als Zeichen einer wachsenden Wahrnehmung der welthistorischen Verknüpfungen und sich daraus ergebender neuer Perspektiven zu begrüßen. In der Vorstellung von der "einen Welt" ist jedoch auch ein Euphemismus enthalten. Ja, wir haben es mit einer zusammenhängenden und sich wechselseitig beeinflussenden Welt zu tun. Aber wir haben es nicht mit einer Welt zu tun, in der die konzeptionell eingebauten Ungleichgewichtigkeiten und Peripherisierungsprozesse des die Welt sich unterwerfenden faktischen und mentalen Eurozentrismus, so wie sie in der Rede von der Ersten, Zweiten und Dritten Welt zum Ausdruck kommt, nun in schöner political correctness durch mehr Einheit und Gleichheit ersetzt würden. Was wir gegenwärtig erleben, ist eine sich refragmentierende Welt entlang von Bruchstellen, für die es nicht nur neue Konzepte zu entwickeln, sondern die es auch empirisch aufzuarbeiten gilt: entlang von Zentren und Peripherien; Bildungschancen und außerordentlich unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu kulturellem Kapital; Alter und Geschlecht; der Wirkungskraft von regionalen wie globalen Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkten.

Auch die Position im internationalen Schichtungssystem, auf die Peter Heintz als bedeutsame Wirkungsmacht hingewiesen hat, ist für die Lebens- wie die Zukunftschancen jedes und jeder Einzelnen von großer Bedeutung. Ob man als Europäerin, Amerikanerin oder Afrikanerin geboren wird, ist alles andere als gleichgültig. Über diesen neu sich herausbildenden Weltzusammenhang schreiben Michael Geyer und Charles Bright: "The world we live in has come into its own as an integrated globe, yet it lacks narration and has no history (...). The central challenge of a renewed world history at the end of the 20th century is to narrate the world's past in an age of globality."

Dieser Wandel ist in der Tat gravierend und zum größten Teil noch unverstanden. Ein Spezifikum der Globalisierung ist es beispielsweise, dass diese keine erkennbar politische Form mehr annimmt. Vielmehr unterminieren die Kräfte der Globalisierung vorhandene politische Organisationsformen, etwa durch die Bedeutung von transnationalenKommunikationsnetzwerken, multinationalen Konzernen und Nichtregierungsorganisationen. Die neue Welt- oder Globalgeschichte beschreibt solche Faktoren, die für den Prozess der Globalität heute bestimmend sind. Das können z.B. solche Prozesse sein, unter denen sich neue Nationen zu bilden und Staaten zu etablieren versuchen; oder Umweltprobleme; oder Krankheiten wie AIDS und SARS, für die es keine nationalen Grenzen gibt. Die Auswirkungen der globalisierenden Kräfte auf Staaten, nationale Wirtschaften und auf unser aller Lebenswelten sind enorm, und wir verstehen sie erst in Ansätzen. Dabei habe ich die Wahrnehmungshorizonte, neuen Sinnstiftungen und Imaginationen dessen, was der Weltzusammenhang uns heute nicht nur ermöglicht, sondern zunehmend auch abfordert, noch gar nicht erwähnt. Das kann im Kontext dieses kurzen Artikels auch nicht geschehen.

Hinter all diesen Problemen verbergen sich veritable Forschungsprobleme, die sich nur mehr als globale fassen lassen und die das Containermodell nationaler Geschichten sprengen. Aus seiner profunden Kenntnis welthistorischer Entwicklungen heraus prognostiziert der Historiker William McNeill den Anbruch eines neuen Zeitalters: "I suspect that human affairs are trembling on the verge of a far reaching transformation." Welt- und Globalgeschichte ist ein Versuch, diese Transformationen nicht nur passiv zu erdulden und in eingefahrenen, zu den heutigen Gegebenheiten nicht mehr passenden kognitiven Rahmen zu begreifen, sondern ihnen mithilfe neuer Paradigmen zu Leibe zu rücken, nicht zuletzt deshalb, weil wir ihnen dann weniger hilflos ausgesetzt sind und weniger fatalistisch in die Zukunft blicken müssen.

Man könnte meinen, dass, nachdem die diskursiven Dekonstruktionen die dominante nationale Geschichtserzählung über mehrere Jahrzehnte hin "von unten" - durch die Frauen- und Geschlechtergeschichte, durch die Geschichte des Alltagslebens und einzelner Gruppen, durch Oral History und eine neue Kulturgeschichte - in Frage gestellt und verändert haben, die Welt- und Globalgeschichte das Gleiche nun "von oben" tue. Weltgeschichte markiert jedoch nicht als Ansammlung transnationaler Geschichtserzählungen einfach nur eine neue Ebene oberhalb der nationalen Geschichtsschreibung. Sie ist ein neuartiges, oder, wie die Soziologen dies nennen, "emergentes" Phänomen: "Die Spezifik emergenter Phänomene liegt darin, dass sie mit dem bisherigen theoretischen Wissen nicht hinreichend zu erklären sind." Wenn man Dinge mit vorhandenen Ansätzen nicht mehr zureichend erklären kann, so bedarf es neuer theoretischer wie empirischer Anstrengungen. Die Sichtweise als solche verändert sich.

Die neue Welt- oder Globalgeschichte ist ein Ansatz, der bislang nicht oder nur unzureichend wahrgenommene Phänomene zu beschreiben versucht. Der religiöse Fundamentalismus und die neue Rolle von Religion in der Politik in Teilen der Welt sind ein Beispiel. Wenn wir in Deutschland und Europa von religiösem Fundamentalismus sprechen, so schauen wir in der Regel auf den islamischen Fundamentalismus. Der christliche Fundamentalismus, der die Präsidentschaft von George W. Bush bestimmt hat, kommt uns dabei seltener in den Sinn. Wer weiß schon, dass den amerikanischen Truppen im Irak nicht nur private Söldner, sondern auch christliche Missionare gefolgt sind und dass damit dort ein Modell implementiert wird, das stark an den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts erinnert?

Angesichts der Notwendigkeit, eine globalisierte Welt anders als mit den herkömmlichen Konzepten nationaler Geschichtserzählungen zu beschreiben, weil die Phänomene, die es zu beschreiben gilt, historisch neu sind, es also um neue empirische Tatbestände geht, darf ein Aspekt nicht übersehen werden: Es geht bei den Diskussionen um Weltgeschichte auch um einen Trend zur neuen Synthesebildung. Das ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Fragmentierung der Geschichtswissenschaft (wie unserer Lebenswelten) in den letzten Jahrzehnten. Tatsächlich ist die Weltgeschichte aus den Dekonstruktionen einer objektivistischen und zumeist auf das Nationale fokussierten Geschichte hervorgegangen, und die Beziehungen zu postkolonialen Ansätzen, aber auch etwa zur Geschlechter- oder Umweltgeschichte sind deutlich vorhanden. Weltgeschichte kann hinter diese Ansätze nicht zurückfallen - sie hatten ja ihren guten Sinn-, sondern sie muss diese in sich aufnehmen und integrieren.

Weltgeschichte als Zeitgeschichte

Welt- oder Globalgeschichte ist immer Zeitgeschichte im Sinne eines bewussten Nachdenkens über die eigene Geschichte und eines Neupositionierens im Weltzusammenhang. Das heißt: Welt- und Globalgeschichte ist in erster Linie der Versuch, sich zur empirischen wie zur imaginierten Welt der Gegenwart in Beziehung zu setzen. Weltgeschichte (wie auch die Diskussion der Soziologen über "Weltgesellschaft") geht von dem Gedanken aus, dass "eine eigene weltweite Dynamik existiert, die den Bezugshorizont für Interaktionen und Kommunikation darstellt". Dabei geht es um eine Ebene, ohne die "die moderne Gesellschaft und ihre Kontingenz nicht hinreichend zu erklären und zu beschreiben wäre". Weltgeschichte ist mithin ganz wesentlich eine Frage der Perspektivierung.

Dabei ist es einerseits irrelevant, das heißt, es spricht nicht gegen ihre Bedeutsamkeit, anderseits jedoch durchaus wirkungsmächtig, dass die weltgesellschaftlichen und welthistorischen Bezüge von den meisten Menschen gar nicht wahrgenommen werden. Peter Heintz ebenso wie Michael Geyer beschreiben diesen Tatbestand sogar als ein Spezifikum des Weltzusammenhangs, in dem wir operieren. Wenn es uns gelingt, Geschichte welthistorisch zu perspektivieren und in der historischen und politischen Bildung ein Bewusstsein zu befördern, das sich den welthistorischen Zusammenhängen nicht verschließt, wenn wir mithin eine "worldization" unserer Geschichte und unserer Gesellschaftsbezüge herstellen können, dann haben wir schon einiges erreicht, und die "emergenten" Phänomene der "Weltgesellschaft" beginnen, sich uns zu erschließen. Wie eine deutsche oder europäische Perspektivierung einer solchen globalen Geschichte aussehen könnte, darüber gilt es in Zukunft nachzudenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Ausdruck stammt von Michael Geyer, World History and General Education: How to Bring the World into the Classroom, in: Hanna Schissler/Yasemin Nohuglu Soysal (Hrsg.), The Nation, Europe, and the World. Textbooks in Transition. New York-Oxford 2005, S. 193 - 210.

  2. Vgl. Peter Novick, That Noble Dream. The "Objectivity Question" and the American Historical Profession, Cambridge 1988.

  3. Ausführlicher dazu: Hanna Schissler, World History. Making Sense of the Present, in: H. Schissler/Y. Nohuglu Soysal (Anm. 1), S. 228 - 245.

  4. Vgl. Ross Dunn, Constructing World History in the Classroom, in: Peter Stearns/Peter Seixas/Sam Wineberg (Hrsg.), Knowing, Teaching and Learning History. National and International Perspectives, New York 2000, S. 122.

  5. Vgl. Charles Maier, Consigning the 20th Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review, 105 (2000), S. 907 - 931; Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 2002; Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999; ders., Konfliktachsen. Zum historischen Profil des 20. Jahrhunderts, in: ders., Gedächtniszeiten, München 2003, S. 16 - 31.

  6. Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture, 3 Bde., Oxford-New York 1996-1998.

  7. Patrick Manning hat die zahlreichen, sich über die Jahrhunderte entwickelnden welthistorischen Ansätze in seinem Buch Navigating World History, New York 2003, beschrieben. Zur europäischen Tradition universalhistorischer Erklärungen vgl. Reinhart Koselleck, Geschichte, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Begriffsgeschichtliches Lexikon, Stuttgart 1975, S. 686 - 691: Von der "historia universalis" zur "Weltgeschichte".

  8. Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums: Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 19672.

  9. Bruce Mazlish, Crossing Boundaries: Ecumenical World, and Global History, in: Philip Pomper/Richard H. Elphick/Richard T. Vann (Hrsg.), World History. Ideologies, Structures, and Identities, New York 1998, S. 41 - 52, hier: S. 49.

  10. Jürgen Osterhammel, "Höherer Wahnsinn". Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert, in: Horst Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hrsg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute (Festschrift für Jörn Rüsen), Köln 1998, S. 277 - 286.

  11. Vgl. die Einführung von Theresa Wobbe, Weltgesellschaft, Bielefeld 2000.

  12. Vgl. M. Geyer (Anm. 1).

  13. Siehe hierzu Gilbert Allardyce, The Rise and Fall of the Western Civilization Course, in: The American Historical Review, 87 (1982), S. 695 - 725; Daniel A. Segal, "Western Civ" and the Staging of History in American Higher Education, in: ebd., 105 (2000), S. 770 - 803; Thomas Davis, Starting from Scratch: Shifting from Western Civ to World History, in: Perspectives, (Dezember 1996).

  14. Vgl. R. Dunn (Anm. 4), S. 128 und S. 135.

  15. M. Castells (Anm.6), Bd. 3: End of Millennium, New York 1998, S. 336.

  16. Richard Sennett Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 20007.

  17. Vgl. B. Mazlish (Anm. 9), S. 47.

  18. Vgl. M. Geyer (Anm. 1).

  19. Vgl. Peter Heintz, Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen 1982.

  20. Michael Geyer/Charles Bright, World History in a Global Age, in: The American Historical Review, 100 (1995), S. 1034 - 1060, hier: S. 1037.

  21. Vgl. Bruce Mazlish, Die neue Globalgeschichte, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 3 (2002) 1, S. 9 - 22, hier: S. 13.

  22. William McNeill, The Changing Shape of World History, in: P. Pomper u.a. (Anm. 9), S. 21 - 40, hier: S. 40.

  23. Th. Wobbe (Anm. 11), S. 75.

  24. Ebd., S. 7f.

  25. Vgl. P. Heintz (Anm. 19), S. 11, und M. Geyer (Anm. 1), S. 203f.

  26. Der Begriff "worldization" stammt von der an der Columbia University in New York lehrenden Japan-Historikerin Carol Gluck: Vgl. Ainslee T. Embree/Carol Gluck, Asia in Western and World History: A Guide for Teaching (Columbia Project on Asia in the Core Curriculum), New York 1997, Einleitung.

Dr. phil., geb. 1946; Professorin für Neuere Deutsche Geschichte an der Universität Hannover, Senior Research Fellow des Georg-Eckert-Instituts (GEI) für internationale Schulbuch- forschung. GEI, Celler Straße 3, 38114 Braunschweig.
E-Mail: E-Mail Link: schissler@gei.de