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Kooperation und Wettbewerb - Essay | Föderalismusreform | bpb.de

Föderalismusreform Editorial Kooperation und Wettbewerb - Essay Föderalismusreform: Weshalb wurde so wenig erreicht? Regieren nach der Föderalismusreform Föderalismusreform und Europapolitik Die Reform der Finanzverfassung Föderale Finanzautonomie im internationalen Vergleich

Kooperation und Wettbewerb - Essay

Roman Herzog

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Demokratie heißt Wettbewerb, Sozialstaat heißt Solidarität. Je mehr autonome Handlungsmöglichkeiten die Länder haben, desto stärker wird das Wettbewerbselement.

Einleitung

Richtige Bundesstaaten entstehen in der Regel durch den Zusammenschluss von Gliedstaaten, die dem Bundesstaat historisch vorausgehen, und nicht durch die Dezentralisierung vorhandener Einheitsstaaten. Deutschland hat diesen Prozess zweimal erlebt, aber unter Umständen, die unterschiedlicher kaum hätten sein können: 1871 als Zusammenschluss souveräner Staaten, geboren aus dem Sieg im deutsch-französischen Krieg; 1949 als Versuch von jeder Souveränität baren Besatzungseinheiten, nach der totalen Niederlage ein Stück deutscher Staatlichkeit zurückzugewinnen. Dazwischen hatten ein beträchtlicher Unitarisierungsschub in der Weimarer Republik und die völlige Zerstörung der föderalen Strukturen im "Dritten Reich" gelegen.


Man hat den Eindruck, dass alle diese Entwicklungsphasen ihre Spuren in unserer heutigen bundesstaatlichen Realität hinterlassen haben. Nicht, dass ich jemandem unterstellen möchte, er oder sie beziehe seine Vorbilder aus der NS-Zeit! Aber unitarischen Neigungen (die schon in der Weimarer Republik wirksam waren und nicht nur deshalb nichts spezifisch Nationalsozialistisches sind) begegnet man heute auf Schritt und Tritt. Man denke nur an die in den Föderalismusreform-Debatten der vergangenen drei Jahre immer wieder zu hörenden, erschreckten Ausrufe: "Aber dann könnten ja die Bayern ..." (andere Bundesländer wären nach Belieben und Neigung - oder Abneigung - einzusetzen.)

Die Frage, warum denn die Bayern (o. a. Bundesländer) nicht können sollen, was der Bund und/oder andere Länder nicht tun, wird zu selten gestellt. Natürlich kommt es entscheidend auf die Materie an, für die eine zentrale oder dezentrale Entscheidung zur Debatte steht, und natürlich kommt in sehr vielen Fällen nur die zentrale, bundeseinheitliche Regelung in Frage (sollten die Bayern - oder sagen wir zur Abwechslung einmal: die Sachsen - etwa selbst entscheiden dürfen, auf welcher Straßenseite in ihrem Bundesland der Verkehr zu rollen hat?). Was mich stört, ist der unreflektierte Reflex, der hinter dem Einwand "Aber dann könnten doch ..." allzu häufig steckt: entweder die unbefragte Annahme, Einheitlichkeit sei ein Wert an sich, oder die ebenso unkritische Unterstellung, der höheren Entscheidungsebene stehe automatisch auch die höhere Weisheit bei ihren Entscheidungen zu Gebote. Beides ist nicht nur grundfalsch - in einem Fall ist sogar das Gegenteil richtig. Natürlich nicht im Falle der Gleichsetzung höherer Entscheidungsebenen mit höherer Weisheit: "Unten" sind Menschen genau so fehlbar wie "oben". Dieser Auffassung kann man nur resignierend ihre Verwurzelung im Untertanengeist bescheinigen und fragen, warum dann nicht gleich alle Entscheidungen auf der Ebene der Vereinten Nationen getroffen werden: Dort müsste nach dieser Logik doch die Weisheit am größten sein. Richtig ist aber das Gegenteil der Auffassung, Einheitlichkeit sei ein Wert an sich. Einheitlichkeit ist manchmal nötig, um uns das Leben durch Verlässlichkeiten zu erleichtern (auf welcher Straßenseite rollt der Verkehr?). Aber produktiv ist sie nicht. Das produktive Prinzip heißt Vielfalt.

Das Prinzip Vielfalt ist das Leitprinzip eines jeden recht verstandenen Föderalismus. Es geht darum, vorgefundener Vielfalt gerecht zu werden: Die Verhältnisse im Saarland sind anders als in Mecklenburg-Vorpommern. Darum werden ihnen Entscheidungen, die in Saarbrücken bzw. in Schwerin getroffen werden, eher gerecht als Entscheidungen, die in Berlin für die ganze Bundesrepublik getroffen werden. Es geht um das vielbeschworene (aber wenig praktizierte) Prinzip der Subsidiarität.

Das Subsidiaritätsprinzip wurde bekanntlich erstmals von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quadragesimo Anno (1931) formuliert, weshalb es bis heute vielfach als eine auf die katholische Soziallehre begrenzte Aussage (die etwa den Zweck habe, katholische Kindergärten oder Krankenhäuser gegen staatliche Zugriffe abzuschirmen) missverstanden wird. In Wahrheit ist es nicht nur in seiner Substanz viel älter, sondern auch in seiner Bedeutung und Anwendbarkeit viel universeller: Es besagt, dass Entscheidungsmacht immer so nahe wie möglich bei den Betroffenen (man könnte auch sagen: bei den Problemen) angesiedelt sein soll. Hier wird gern (obwohl es nicht ganz dem juristischen Sinn des Konzepts entspricht) von einer "Beweislast-Regelung" gesprochen: Wer etwas "oben" oder zentral entscheiden will, muss erst den Nachweis führen, dass es "unten" bzw. dezentral nicht geht. Genau das ist das Muster, nach dem eine föderale Verfassung geschneidert sein muss - wobei "unten" selbstredend nicht bei den Ländern aufhört: Die Gemeinden, die Zivilgesellschaft und ihre Formationen und vor allem die Bürgerinnen und Bürger selbst sollen primärer "Sitz" von Entscheidungskompetenz sein. In einer demokratischen Gesellschaft wird Entscheidungsmacht von unten nach oben delegiert, niemals anders.

Ist Vielfalt damit zum einen Ausdruck und Bedingung von Freiheit, so beruht zum anderen ihre produktive Kraft auf dem Wettbewerb, den sie ja erzeugt, sobald man sie als "Vielfalt der Lösungsansätze" versteht. Geht man davon aus, dass es dem Erkenntnisvermögen nur ausnahmsweise gelingt, auf Anhieb die richtige Lösung eines Problems zu finden, so wird klar: Dass sich unter 16 Lösungsansätzen der richtige findet, ist 16-mal wahrscheinlicher, als dass ein einziger flächendeckender Ansatz die Lösung bringt. Und umgekehrt: Bei einer Vielfalt von Lösungsansätzen ist der Schaden, der durch falsche Antworten in einigen Bundesländern angerichtet wird, wesentlich geringer als bei einer flächendeckend falschen Einheitslösung für die ganze Republik.

Freilich: All das gilt nur, wenn Wettbewerb unter den Bundesländern tatsächlich zugelassen ist. Und das ist leider keineswegs selbstverständlich. Schon der Ausdruck "Wettbewerbsföderalismus" erzeugt reflexartige Abwehrreaktionen: Der deutsche Föderalismus sei ein kooperativer Föderalismus, heißt es dann, gekennzeichnet durch Solidarität und nicht Konkurrenz. Aber stimmt es denn, dass Solidarität und Wettbewerb einander ausschließen? Wenn es so wäre, wäre eine der grundlegenden Bestimmungen unserer Verfassung gegenstandslos: "Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." (Artikel 20 GG). Demokratie heißt Wettbewerb, Sozialstaat heißt Solidarität. Es kommt auf das Mischungsverhältnis an. Je mehr autonome Handlungsmöglichkeiten die Länder haben, desto stärker wird das Wettbewerbselement. Daher wäre ein Föderalismus ohne Wettbewerb einer ohne Autonomie - also überhaupt kein Föderalismus. So gesehen ist der Begriff "Wettbewerbsföderalismus" tautologisch. Trotzdem kann man in der Praxis die Wettbewerbs- und Autonomieelemente so weit herunterfahren, dass der Föderalismus zum Schatten seiner selbst wird. Genau das ist in Deutschland in den vergangenen fünfeinhalb Jahrzehnten geschehen. Das Grundgesetz von 1949 gab - auch unter dem Einfluss der Besatzungsmächte, die keinen starken deutschen Zentralstaat wollten - den Ländern erhebliche Handlungsspielräume. Die Art, wie diese Autonomierechte nach und nach eingeschränkt und aufgegeben wurden, ist ein Paradebeispiel für einen falsch verstandenen "kooperativen Föderalismus".

Das Kooperative an diesem Föderalismus war nämlich nicht so sehr die Zusammenarbeit unter den Ländern. Zwar gab und gibt es Einrichtungen wie die Kultusministerkonferenz, von denen böse Zungen behaupten, sie seien dazu da, die letzten den Ländern noch verbliebenen Eigenständigkeiten auf dem Altar der freiwilligen bundesweiten Vereinheitlichung zu opfern. Was es kaum gibt, sind verwaltungsstrukturelle Kooperationen zwischen den Ländern, die Dinge wie gemeinsame Universitäten oder Kliniken, grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit oder gemeinsame Raumordnungen zum Gegenstand haben. Der Grund ist eine juristische Grauzone: Mit solchen Kooperationen werde eine dritte Ebene eingezogen, die mit der vom Grundgesetz gewollten Zweigliedrigkeit des deutschen Föderalismus unvereinbar sei. Das kann man dann auch anders sehen, wenn solche Kooperationen nur zwei oder drei Länder umfassen und keine bundesweite "dritte Ebene" einziehen. Wenn man solche Kooperationen gewollt hätte, dann hätte man die nötigen Klärungen notfalls im Grundgesetz selbst herbeiführen können. Offenbar wollte man aber nicht. Das ist bemerkenswert, weil hier eine gute Gelegenheit für freiwillig praktizierte Solidarität zwischen den Bundesländern gewesen wäre. Stattdessen wurde der "kooperative Föderalismus" fast ausschließlich in vertikaler Richtung, zwischen Bund und Ländern, praktiziert. Die Kooperation sah im Wesentlichen so aus, dass die Länder ihr Erstgeburtsrecht autonomer Kompetenzen Stück für Stück gegen Mitspracherechte auf der Bundesebene eintauschten. Die waren allerdings kein Linsengericht: Im Ergebnis hatte sich der Anteil der Gesetze, die nur mit Bundesratszustimmung erlassen werden können, versechsfacht (1949: ca. 10 %, 2005: ca. 60 %). "Kooperativer Föderalismus" hieß: Ohne Länderzustimmung läuft auf Bundesebene fast nichts; eigenverantwortlich bestimmen können die Länder auch fast nichts. Das Ergebnis: programmierter Stillstand, ganz besonders dann, wenn Bundestags- und Bundesratsmehrheit parteipolitisch unterschiedlich gefärbt waren.

Die "Föderalismusreform I" vom Sommer 2006 hat einen Teil dieser Fehlentwicklungen korrigiert und den wildwüchsigen Kompetenzdschungel zwischen Bund und Ländern wenigstens ein Stück weit entflochten. Die Länder haben Kompetenzen zurückerhalten, und wenn die Prognose stimmt, dass der Bund in Zukunft wieder deutlich mehr als die Hälfte seiner Gesetze ohne Länderzustimmung erlassen kann, dann ist das ein Fortschritt. Ob damit auch eine Korrektur der hoffnungslos aus dem Gleichgewicht geratenen Balance zwischen Wettbewerb und obendrein falsch verstandener Kooperation im deutschen Föderalismus eingeleitet wurde, bleibt abzuwarten. Denn das Hauptstück der Entflechtungsarbeit steht noch bevor, die wichtigste Wettbewerbsbremse ist vorderhand noch fest angezogen.

Gemeint ist die Finanzverfassung, die bei der Föderalismusreform I ausgeklammert wurde und in einem Reformschritt II entflochten werden soll. Dass das unbedingt geschehen muss, steht außer Frage, denn bei dem gegenwärtigen, ähnlich wie die Kompetenzverflechtung in Jahrzehnten gewachsenen Verflechtungszustand können sich vor allem die Länder finanziell kaum bewegen, ohne dass der Bund sie lässt. Das heißt: Die gewonnene Autonomie bei den Sachfragen ist ziemlich wertlos, wenn die Autonomie im Finanziellen nicht bald dazukommt. Das gilt hinsichtlich Ertrag und Regelungskompetenz bei den Steuern; aber es gilt ganz besonders beim Finanzausgleich. Der ist angeblich der Sitz der Solidarität im kooperativen Föderalismus. Ein bisschen verwunderlich ist das schon, denn hier findet zwangsweise Umverteilung statt (kann es erzwungene Solidarität geben?), während die Möglichkeiten freiwilliger Solidarität ungenutzt bleiben. Vor allem aber erstickt der Finanzausgleich in seiner heutigen Form jeden auch noch so kleinen Ansatz zum Wettbewerb unter den Ländern. Sein Nivellierungsgrad ist so groß, dass für niemanden mehr ein Anreiz übrig bleibt, sich anzustrengen: Den Geberländern wird jedes zusätzliche Einkommen nahezu restlos abgeschöpft, die Nehmerländer werden auch ohne eigene Anstrengungen in die Nähe des Durchschnittsniveaus hoch subventioniert.

Ist es da unzulässig radikal, wenn man die Frage stellt: Wozu eigentlich noch ein horizontaler Finanzausgleich? Wenn schon die Solidarität unter den Ländern nur par ordre fédéral funktioniert (das Erfordernis der Bundesratszustimmung ist bei fünf Geber- und elf Empfängerländern eigentlich nur eine Veränderungsbremse), warum macht dann der Bund nicht gleich das Ausgleichsgeschäft selbst? Er müsste nur im Steueraufkommen entsprechend ausgestattet werden, und der Ausgleich inakzeptabler Unterschiede ist eine genuine Bundesaufgabe. Die Länder aber wären der Strangulierung durch eine perverse (im Wortsinne!) Anreizgestaltung ledig und könnten im positiven Sinne miteinander in einen stimulierenden Wettbewerb um die beste Pflege ihrer Steuerquellen, um Unternehmensansiedlungen, um Studenten treten und dabei ihre komparativen Vorteile ungehindert ins Spiel bringen.

Eine utopische Vorstellung? Vielleicht. Aber so viel ist sicher: Ohne eine gehörige Portion mehr Wettbewerb wird es nicht gehen. Das muss nicht zu Lasten richtig verstandener Kooperation und Solidarität gehen. Vielleicht werden von ihren Fesseln befreite, erfolgreiche Länder sogar zu einer gewissen Dosis an freiwilliger Solidarität bereit sein. Und noch etwas, ohne das es nicht gehen wird: ein Stück Umdenken. Mit dem Pochen auf "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" werden wir die Wende zur lebensnotwendigen Reformfähigkeit unseres Landes nicht schaffen. Im "Konvent für Deutschland" haben wir das auf eine Formel gebracht: Mut zum produktiven Unterschied.

Dr. jur., geb. 1934; Professor, Bundespräsident a.D.; Vorsitzender des Konvent für Deutschland e.V., Dorotheenstraße 35, 10117 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: jane.uhlig@konvent-fuer-deutschland.de