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Föderalismusreform: Weshalb wurde so wenig erreicht?

Fritz W. Scharpf

/ 15 Minuten zu lesen

Das Ergebnis der Föderalismusreform ist dürftig: Die Zustimmungsrechte des Bundesrats wurden eher vermehrt, die Erweiterung der landespolitischen Handlungsmöglichkeiten blieb weit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück.

Einleitung

Die im Herbst 2003 eingesetzte "Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung" hatte sich das Ziel gesetzt, die deutsche Politik aus der "Verflechtungsfalle" zu befreien - aus einer Situation also, in der die Bundespolitik durch die Vetomacht des Bundesrats gefesselt werden kann, während die Politik in den Ländern weder in der Gesetzgebung noch in der Finanzwirtschaft über autonome Handlungsspielräume verfügt. Gemessen an diesem Ziel ist das Ergebnis dürftig: Die Zustimmungsrechte des Bundesrats wurden in politisch wichtigen Fragen eher vermehrt als vermindert, und die Erweiterung der landespolitischen Handlungsmöglichkeiten blieb hinter dem Nötigen und Möglichen weit zurück.



Weshalb wurde so wenig erreicht? Es kommen drei Erklärungen in Frage: objektive Schwierigkeiten und Hindernisse, die einer problemgerechten Reform entgegenstanden; ein ungeeigneter Ansatz, der erfolgversprechende Reformversuche verhinderte; schließlich eine Interessenkonstellation unter den Vetospielern, die eine Einigung auf problemgerechte Reformen ausschloss. Offenbar haben alle drei Faktoren eine Rolle gespielt: Zum einen kollidieren Versuche einer Entflechtung mit der grundlegenden Architektur des deutschen Bundesstaates, in der dem Bund und den Ländern nicht bestimmte Staatsaufgaben im Ganzen, sondern einzelne Staatsfunktionen zugeordnet werden. Zum zweiten ignorierte der von der Kommission verfolgte Ansatz einer "klaren Trennung" der Aufgaben von Bund und Ländern sowohl den in der Sache begründeten Mehrebenencharakter der Staatsaufgaben als auch die gravierenden Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Länder. Drittens schließlich bestimmten die Vetospieler jeder Verfassungsreform - die Ministerpräsidenten und die Sprecher der Bundestagsfraktionen - nicht nur das parlamentarische Verfahren, sondern bereits die Kommissionsberatungen.

Kaum verminderte Zustimmungsrechte des Bundesrats

Die angestrebte Verminderung des Bundesratsvetos scheiterte am ersten und am dritten dieser Faktoren. Objektiv gesehen lässt die Funktionsverflechtung im deutschen Bundesstaat eine weitgehende Beseitigung von Zustimmungsrechten des Bundesrats von vornherein als unrealistisch erscheinen. Wenn fast alle Bundesgesetze von den Ländern als eigene Angelegenheit und auf eigene Kosten zu vollziehen sind, und wenn die Steuereinnahmen der Länder fast vollständig von Bundesgesetzen abhängen, dann können die Landesregierungen ihren Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes auch nicht aufgeben. In der Kommission hat man deshalb über die Zustimmungsrechte in der Finanzverfassung gar nicht erst geredet.

Die Diskussion beschränkte sich auf Art. 84 Abs. 1 Grundgesetz (GG), der die überwiegende Zahl der Zustimmungsfälle ausgelöst hat: "Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen." Wenn der Bund in die Verwaltungshoheit der Länder eingreifen will, muss der Bundesrat gefragt werden. Zum Problem konnte diese sinnvolle Regel erst werden, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1958 die so genannte "Einheitstheorie" erfunden hatte. Danach beschränkte sich das Zustimmungserfordernis nicht auf die jeweiligen Vorschriften über Behördenorganisation oder das Verwaltungsverfahren, sondern bezog sich auf das ganze Gesetz als "gesetzgebungstechnische Einheit". Die schädlichen Folgen des Urteils zeigten sich in den 1970er Jahren, als der (sozialliberalen) Regierungsmehrheit zum ersten Mal eine oppositionelle Mehrheit im Bundesrat gegenüberstand. Nun konnte das zum Schutz der Verwaltungshoheit nötige Zustimmungsrecht als parteipolitisch motiviertes Veto gegen ungeliebte Gesetzesinhalte genutzt werden.

Diese Konstellation, die Gerhard Lehmbruch zum ersten Mal analysiert hat, entwickelt eine charakteristische Dynamik: In schwierigen Zeiten, in denen die Regierung unpopuläre Maßnahmen durchsetzen müsste und in denen Landtagswahlen als Plebiszit über die Bundespolitik inszeniert werden können, kann die Opposition rasch die Mehrheit im Bundesrat gewinnen. Die oppositionellen Ministerpräsidenten können dann unter drei Handlungsorientierungen wählen: Sie können sich auf die Vertretung der institutionellen Eigeninteressen ihres Landes beschränken, sie können versuchen, die "Policy-Interessen" der Oppositionsparteien durchzusetzen, oder sie können deren "positionale Interessen" fördern, indem sie Erfolge der Regierung verhindern. Im ersten Fall ist eine pragmatische Einigung wahrscheinlich. Im zweiten Fall kann man Kompromisse im Vermittlungsausschuss erwarten, die als Kombination gegensätzlicher Konzepte von keiner Seite verteidigt werden. Im dritten Fall schließlich ist mit Blockaden zu rechnen, deren wichtigstes Ziel es ist, die jeweilige Regierung als inkompetent und hilflos erscheinen zu lassen. Franz-Josef Strauß hat diese Optionen ebenso brillant und zynisch ausgespielt wie später Oskar Lafontaine und dann wieder die Ministerpräsidenten der Union. Die Malaise der deutschen Politik, in der keine Seite in der Lage ist, ein Reformkonzept zu verwirklichen und dann auch zu verantworten, hat ihren wesentlichen Grund in der Möglichkeit parteipolitischer (oder auch innerparteilicher) Blockaden im Bundesrat.

In der Kommission gab es Vorschläge der juristischen Sachverständigen, die das Zustimmungsrecht wieder auf die Organisations- und Verfahrensregeln beschränkt hätten - und die angesichts der neueren Rechtsprechung wohl auch vom BVerfG respektiert worden wären. Aber die Ministerpräsidenten ließen sich auf solche Überlegungen nicht ein. Sie waren nicht mehr bereit, die Möglichkeit parteipolitisch motivierter Blockaden gegen den Inhalt von Bundesgesetzen aufzugeben, und angesichts ihrer Vetoposition im Prozess der Verfassungsreform sah auch die Bundesseite keinen Sinn in weiteren Diskussionen über die Einheitstheorie. Statt dessen verlagerte sich die Diskussion auf Lösungen, die im Prinzip darauf hinausliefen, dass der Bund auf verbindliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens und der Behördenorganisation verzichten und so das Zustimmungsrecht überhaupt vermeiden sollte. Das hätte der Bund allerdings schon immer von sich aus tun können. Aber nachdem die Länder auf das zunächst geforderte Verbot von Organisations- und Verfahrensregelungen verzichtet und sich mit einem Abweichungsrecht zufrieden gegeben hatten, einigte man sich darauf, in Ausnahmefällen doch wieder verbindliche Verfahrensregeln zuzulassen (die dann selbstverständlich wieder der Zustimmung des Bundesrats bedürfen). Wenn man freilich unterstellt, dass der Bund auch bisher Verfahrensregeln nur aus einigermaßen zwingenden Gründen mit dem materiellen Gesetz verbunden hatte, dann könnte die zugelassene Ausnahme auch künftig die Regel bleiben.

Die Länder allerdings sahen in der gefundenen Lösung eine Konzession, die nun ihrerseits kompensiert werden musste: Wenn das Zustimmungsrecht entfiel, weil der Bund auf verbindliche Verfahrensregeln verzichtete, dann konnten sie sich ja auch nicht mehr gegen Bundesgesetze wehren, die ihnen Kosten auferlegten. Am Ende der Beratungen stand deshalb ein neues Zustimmungsrecht für Gesetze, die "Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen" (Art. 104a Abs. 4 GG [neu]). Im Ergebnis wird deshalb die Zahl der Zustimmungsfälle sogar eher zu- als abnehmen.

Kaum erweiterte Handlungsspielräume der Landespolitik

In der Vergangenheit hatten die Landesregierungen auf Kosten ihrer Landtage an der Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bereitwillig mitgewirkt, sofern nur ihre Zustimmungsrechte im Bundesrat gesichert waren. Wenn diese seit Jahrzehnten beobachtete Tendenz zum "unitarischen Bundesstaat" nun durch die Reform umgekehrt werden sollte, so gab es dafür sowohl sachliche als auch politische Gründe.

Sachlich hat mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes die bundeseinheitliche Gesetzgebung die Funktion verloren, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle auf dem deutschen Markt konkurrierenden Unternehmen zu sichern. Was einheitlich geregelt werden sollte, muss heute europäisch geregelt werden. Umgekehrt gewinnen in der europäischen Standortkonkurrenz Spezialisierungsvorteile an Bedeutung, die bei der heterogenen Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik regional differenzierende Lösungen vorteilhaft erscheinen lassen. Wichtiger waren aber wohl die politischen Interessen der leistungsstarken süd- und westdeutschen Länder: Sie waren unzufrieden mit dem Länderfinanzausgleich, wo nach der Einbeziehung der neuen Länder das Umverteilungsvolumen von etwa 1,5 Milliarden Euro 1994 auf mehr als sechs Milliarden 1996 und mehr als acht Milliarden im Jahre 2000 gestiegen war. Besonders dramatisch war die Veränderung für Bayern, das erst seit 1989 zu den Geberländern gehört und dessen Beiträge von sechs Millionen 1993 auf 1,3 Milliarden 1995 und schließlich auf knapp 2,3 Milliarden im Jahre 2001 eskalierten. Der Versuch, über eine Verfassungsklage Entlastung zu erreichen, blieb faktisch ohne Erfolg, und in den Verhandlungen über den "Solidarpakt II" wurde 2001 die West-Ost-Umverteilung sogar bis zum Jahr 2019 festgeschrieben. Sie durfte auch in den Beratungen der Föderalismuskommission nicht mehr in Frage gestellt werden. Überdies sahen sich, je mehr der Verteilungskonflikt an Bedeutung gewann, die leistungsstarken süd- und westdeutschen Länder auch im Bundesrat immer öfter einer strukturellen Mehrheit der wirtschaftlich schwachen Länder gegenüber. Zwar konnten ihre Ministerpräsidenten aus den Zustimmungsrechten immer noch politisches Kapital schlagen, aber für die wirtschaftlichen Belange ihrer Regionen konnten sie nur noch wenig erreichen.

Unter diesen Bedingungen stieg ihr Interesse an autonomen Handlungsmöglichkeiten der Landespolitik. Wenn schon die fiskalische Umverteilung hingenommen werden musste, so wollten sie wenigstens ihre Möglichkeiten in der Gesetzgebung erweitert sehen. Dem entsprach zunächst die rhetorische Hinwendung zur Idee eines "Wettbewerbsföderalismus" - dem liberalen Gegenkonzept zur bisherigen normativen Selbstbeschreibung des "kooperativen Föderalismus". Da der Begriff aber als Aufkündigung der Solidarität zwischen den Ländern verstanden wurde und mehr Ablehnung als Zustimmung provozierte, wurde er in den Beratungen der Kommission durch den "Gestaltungsföderalismus" ersetzt - eine Formel, die sich mit mehr Erfolg als gemeinsames Interesse aller Länder präsentieren ließ.

Im Mai 2004 einigten sich die Ministerpräsidenten in einem gemeinsamen "Positionspapier" auf die Forderung umfassender Gesetzgebungszuständigkeiten für die Regelung "regionaler Lebenssachverhalte", von der öffentlichen Fürsorge über die aktive Arbeitsmarktpolitik, das Umweltrecht bis zum Wirtschaftsrecht. Zugleich sollte sich der Bund aus der Bildungs- und Erziehungspolitik ("von der Kita bis zur Habilitation") vollständig zurückziehen. Dass sich hinter dieser gemeinsamen Front gravierende Interessenkonflikte zwischen Ländern verbargen, zeigte sich schon daran, dass die von den süddeutschen Ländern ursprünglich geforderten Gesetzgebungskompetenzen über die den Ländern zufließenden Steuern aus dem Katalog gestrichen werden mussten und dass auch die Forderung nach Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen nur mit erheblichen Einschränkungen formuliert werden konnte. Die leistungsschwächeren Länder sahen im Gestaltungsföderalismus die Gefahren einer für sie möglicherweise "ruinösen" innerdeutschen Standortkonkurrenz.

Mit der Vorlage des "Positionspapiers" fanden die Diskussionen im Plenum der Föderalismuskommission ihr Ende. Die Beratungen verlagerten sich in sieben spezialisierte "Projektgruppen", in denen die Generalisten aus den Staatskanzleien auf die Spezialisten aus den Bundesressorts trafen, die mit Unterstützung aus den Verbänden jeweils im Detail darlegten, weshalb die Übertragung ihrer Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder ganz besonders schädlich wäre. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen: Da die Länder dem Bund nichts geboten hatten, sah auch das Bundeskanzleramt keinen Grund, die Ressorts zu Konzessionen zu motivieren. Als die Projektgruppen nach der Sommerpause ihre Berichte vortrugen, hätte man die Föderalismusreform für gescheitert erklären können. Dass dann in den allerletzten Wochen doch noch ernsthafte und fast erfolgreiche Verhandlungen zustande kamen, verdankt sich weniger dem Verhandlungsgeschick der Vorsitzenden oder der Kompromissbereitschaft der Beteiligten als einer Intervention des BVerfG. Das Urteil vom 27. Juli 2004, das die Einführung der "Juniorprofessur" durch das Hochschulrahmengesetz für verfassungswidrig erklärt hatte, hatte zugleich die Verhandlungsposition des Bundes in der Föderalismuskommission radikal verschlechtert: Es hatte sich nicht damit begnügt, die Überschreitung der Grenzen eines Rahmengesetzes zu rügen, sondern es verneinte auch die "Erforderlichkeit" einer bundesrechtlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG. Diese setze voraus, dass "gerade durch unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht" - etwa, wenn "sich die Lebensverhältnisse in den Ländern (...) in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben", wenn "unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifendenRechtsverkehr" eine "Bedrohung von Rechtssicherheit und Freizügigkeit im Bundesstaat" erzeugen, oder wenn dadurch "die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik Deutschland" in Frage gestellt wird.

Diese extrem restriktive Interpretation der (1994 verschärften) Erforderlichkeitsklausel betraf nicht nur das Hochschulrahmengesetz, sondern den gesamten Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und damit den überwiegenden Teil des geltenden Bundesrechts. Vom bürgerlichen Recht über das Strafrecht, den Strafprozess oder das Arbeitsrecht bis zum Straßenverkehrsrecht konnten nun nicht nur die Landesregierungen, Landtage und der Bundesrat, sondern alle Angeklagten in Strafprozessen und alle Parteien in Zivilprozessen das geltende Recht mit der Begründung anfechten, es sei nicht nachgewiesen, dass von Land zu Land unterschiedliche Regelungen schlechterdings unerträgliche wirtschaftliche oder soziale Folgeprobleme haben müssten.

Nun brauchte der Bund die Zustimmung der Länder, um den politisch unstrittigen Bestand seiner Gesetzgebungskompetenzen verfassungsrechtlich abzusichern. Es lag auf der Hand, dass er dafür etwas bieten musste. Bis Anfang November 2004 entstand ein zumindest quantitativ durchaus ansehnlicher Katalog von Gesetzgebungskompetenzen, die der Bund zur Übertragung auf die Länder anbot - von denen am Ende allerdings nicht alle von den Ländern akzeptiert wurden. Im Gegenzug waren die Länder bereit, wenigstens einen Teil der konkurrierenden Kompetenzen entweder in die ausschließliche Kompetenz des Bundes zu überführen oder sie explizit von der Erforderlichkeitsklausel freizustellen (Art. 72 Abs. 2 GG [neu]).

Trotzdem ließen die Länder die Föderalismusreform im Dezember 2004 zunächst scheitern - nach der öffentlich vorgetragenen Begründung deshalb, weil der Bund damals noch nicht bereit war, auch die letzten Reste seiner vom BVerfG reduzierten Kompetenzen im Bildungswesen aufzugeben. Dieses Hindernis wurde von der Großen Koalition beseitigt.

Weshalb ist das Ergebnis ungenügend?

Dass unter diesen Umständen der Bund bei der Reform wenig gewinnen konnte, liegt auf der Hand. Aber auch aus der Sicht der süd- und westdeutschen Länder wurden die Reformziele nicht erreicht. Wo es ihnen um die Möglichkeit der autonomen Gestaltung politisch und wirtschaftlich bedeutsamer "Lebenssachverhalte" gegangen war, stand am Ende der Beratungen ein Katalog isolierter Zuständigkeiten für eng umschriebene Spezialgesetze. Dabei hatte sich etwa die ursprünglich geforderte Kompetenz für die regionale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik auf Zuständigkeiten für Ladenschluss, Gaststätten und Spielhallen reduziert; von der Umweltpolitik blieb die Zuständigkeit für die Regelung des Freizeitlärms, und die regionale Sozialpolitik schrumpfte auf das Heimrecht (vgl. Art. 74 Abs. 1, Ziff. 1, 7, 11, 17, 18, 24, 27 GG [neu]). Für München, Stuttgart, Wiesbaden oder Düsseldorf waren dies "Quisquilien" oder "Kleinkram". "Dafür", so ein Interviewpartner aus dem Stuttgarter Staatsministerium, "waren wir nicht angetreten."

An dieser Einschätzung kann auch der erzwungene Rückzug des Bundes aus der Bildungspolitik nicht viel ändern, der sich ohnehin schon nach wenigen Monaten eher als Pyrrhussieg der Staatskanzleien denn als Erfolg der Bildungspolitik in den Ländern erwiesen hat. Weshalb konnten die Länder nicht mehr erreichen? Der entscheidende Grund scheint mir der oben an zweiter Stelle genannte zu sein: Die Ministerpräsidenten verfolgten ihr Ziel mit einem Reformkonzept, das auf die realen Bedingungen des deutschen Föderalismus zu wenig Rücksicht nahm. Indem sie als Ziel der Entflechtung eine "klare Trennung" der Kompetenzen und die vollständige Übertragung ganzer "Lebenssachverhalte" in die ausschließliche Regelungskompetenz der Länder forderten, ignorierten sie den objektiven Mehrebenencharakter der meisten Politikfelder. So gibt es gerade etwa in der Bildungspolitik zwar viele Aspekte, die am besten regional und sogar lokal oder in den Universitäten und Schulen geregelt werden sollten. Andere aber brauchen national oder für das Sprachgebiet einheitliche Regeln, wieder andere bedürfen der europaweiten Koordination. Ähnliches gilt für die Umwelt-, die Wirtschafts-, die Arbeitsmarkt- oder die Sozialpolitik.

Zudem ignoriert das von den Ländern postulierte "Trennprinzip" den seit den Freiheitskriegen gegen Napoleon manifesten kulturellen Nationalismus der Eliten und deren Abneigung gegen die "deutsche Kleinstaaterei". Deshalb werden politische Diskussionen, die öffentliches Interesse finden, in den nationalen Medien geführt, und politische Forderungen werden wie selbstverständlich an die Bundespolitik adressiert. Anders als etwa in Belgien oder in der Schweiz dient der deutsche Föderalismus eben nicht dem Schutz sprachlicher, ethnischer oder religiöser Minderheiten; und anders als in den USA gelten regionale Unterschiede, wenn sie über das Folkloristische hinausgehen, bei uns nicht als authentischer Ausdruck regionaler Demokratie, sondern als Mobilitätshindernisse und als Verweigerung des Verfassungsanspruchs auf "einheitliche" oder wenigstens "gleichwertige Lebensverhältnisse". Kurz: Föderalismus mag wohl sein, aber er sollte keinen Unterschied machen.

Wegen des Anspruchs auf Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse stehen schließlich auch die seit der deutschen Vereinigung noch gewichtigeren Unterschiede in der wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Leistungsfähigkeit der Länder einer pauschalen Dezentralisierung von Regelungskompetenzen entgegen. Die Ministerpräsidenten haben im Mai 2004 mit dem Argument, "ein fairer Wettbewerb" erfordere "gleichartige wirtschaftliche Ausgangsbedingungen", die Übertragung von Steuerkompetenzen abgelehnt. Aber dasselbe Argument konnte auch gegen die Übertragung anderer Gesetzgebungskompetenzen verwendet werden, wenn diesen ein Einfluss auf die "Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" zugeschrieben werden konnte. Überdies musste die Diskussion darüber imModus der Antizipation geführt werden. Wenn es im Rahmen einer Verfassungsreform um die vollständige und endgültige Übertragung von Kompetenzen ging, dann mussten verantwortungsbewusste Verfassungsgeber die Risiken ihrer möglichen Nutzung durch künftige Landesregierungen und Parlamente abschätzen - angesichts der Unsicherheit antizipierender Urteile waren Bedenken grundsätzlich leichter zu begründen als auszuräumen.

Mit der Festlegung auf das Prinzip der Kompetenztrennung als Lösung für die Probleme der Politikverflechtung hatten die Reformer einen "Bezugsrahmen" fixiert, in dem mit guten Gründen nur eng umschriebene Kompetenzen delegiert werden konnten, welche die administrative und finanzielle Kapazität des Saarlandes oder Bremens nicht überforderten und die auch bei unvernünftiger oder unsolidarischer Nutzung weder die Interessen anderer Länder schädigen noch die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Frage stellen oder die Mobilität von Unternehmen und Familien behindern konnten. An diesen Kriterien gemessen ist der jetzt erreichte Zugewinn an Länderkompetenzen das Maximum dessen, was Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen bei Anwendung des "Trennprinzips" erreichen konnten.

Fazit

Hätte es einen anderen Bezugsrahmen gegeben, der fruchtbarere Verhandlungen ermöglicht hätte? Ich denke ja, und zusammen mit Arthur Benz in der Kommission und später auch zusammen mit Ursula Münch bei der Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages habe ich mich für ein Reformkonzept eingesetzt, das die Politikverflechtung nicht abschaffen, sondern flexibler und effizienter ausgestalten sollte. Zentrales Element war der seit 1977 vorliegende Vorschlag "konditionierter Abweichungsrechte". Danach sollte der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung generell von den Beschränkungen des Art. 72 Abs. 2 GG befreit werden, aber die Länder könnten Gesetze beschließen, die vom geltenden Bundesrecht abweichen. Allerdings müssten diese abweichenden Gesetze dem Bund notifiziert werden, und der Bundestag könnte mit Zustimmung des Bundesrats ihr Inkrafttreten durch Einspruch verhindern.

Der Bund könnte also eine gegebene Materie im systematischen Zusammenhang und ohne föderale Beschränkungen regeln. Ebenso könnte aber auch das einzelne Land ohne Rücksicht auf eng definierte Kompetenzgrenzen die Möglichkeit eigener Lösungen prüfen. Bei der Diskussion darüber ginge es im Bundestag und Bundesrat dann nicht mehr um abstrakte Gefahren einer generellen und dauerhaften Kompetenzübertragung. Zu entscheiden wäre vielmehr im Einzelfall über eine Regelung, die der Gesetzgeber in einem Land für notwendig gehalten hat und deren Risiken und Nebenwirkungen für andere Länder oder die gesamtstaatlichen Belange sich einigermaßen sicher abschätzen lassen. Im Ergebnis hätte dies den Handlungsspielraum der Länder wesentlich erweitert, ohne Ängste vor einem ruinösen Wettbewerbsföderalismus zu provozieren.

Wir sind jedoch in der Kommission mit unseren Argumenten nicht durchgedrungen, und die wenigen Abweichungsrechte, die ("unkonditioniert", aber durch eine "Lex-posterior"-Regel relativiert) tatsächlich in die Verfassung aufgenommen wurden (Art. 72 Abs. 3 GG [neu]), haben mit unseren Vorschlägen kaum etwas zu tun. Allenfalls könnten sie sich als Fuß in der Tür für spätere Reforminitiativen erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. BVerfGE 8, 274.

  2. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Stuttgart 1976.

  3. Auch in der Großen Koalition erhält der innerparteiliche Widerspruch der Ministerpräsidenten sein volles Gewicht erst durch die drohende Blockade im Bundesrat.

  4. Im persönlichen Gespräch verwies einer der Ministerpräsidenten auf den Ansehensverlust, den der Bundesrat erleiden würde, wenn die Landesregierungen ihre Ablehnung des materiellen Gesetzes nicht ausdrücken könnten und sie deshalb ein Veto gegen eigentlich unkontroverse Verfahrensvorschriften mit fadenscheinigen Argumenten begründen müssten.

  5. Vgl. Simone Burkhart/Philip Manow, Was bringt die Föderalismusreform? Wahrscheinliche Effekte der geänderten Zustimmungspflicht. MPIfG Working Paper 06/6, Köln, Oktober 2006.

  6. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962.

  7. Vgl. Fritz W. Scharpf, Föderale Politikverflechtung. Was muß man ertragen? Was kann man ändern?, in: Konrad Morath (Hrsg.), Reform des Föderalismus, Bad Homburg 1999, S. 23 - 36; ders., Mehr Freiheit für die Bundesländer. Der deutsche Föderalismus im europäischen Standortwettbewerb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 7.4. 2001.

  8. BVerfGE 101, 158 vom 11.11. 1999.

  9. Vgl. K. Morath (Anm. 7); Heribert Schatz/Robert Chr. van Oyen/Sascha Werthes, Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffs, Baden-Baden 2000; Jochen Zenthöfer, Wettbewerbsföderalismus. Zur Reform des deutschen Bundesstaates nach australischem Vorbild, Grasberg b. Bremen 2006.

  10. Konrad Hesse, Aspekte des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, in: Theo Ritterspach/Willi Geiger (Hrsg.), Festschrift für Gebhard Müller, Tübingen 1970; Gunter Kisker, Kooperation im Bundesstaat, Tübingen 1971.

  11. BVerfG 2 BvF 2/02, Tz 128 - 135.

  12. Vgl. Heike Schmoll, Die Kür der Spitzenhochschulen, in: FAZ vom 22.8. 2006.

  13. Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Arthur Benz/ders. (Hrsg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive. PVS Sonderheft 32/2001, S. 53 - 110.

  14. Vgl. Arthur Benz, Überlegungen zu Gesetzgebungskompetenzen und Mitwirkungsrechten des Bundesrats, Ms., 4.2. 2004; www.bundesrat.de/cln_ 050/nn_8364/DE/foederalismus/bundesstaatskommis sion/ unterlagen/ AU-028, templateId= raw, property= publicationFile.pdf/AU-028.pdf (9.11. 2006).

  15. Vgl. Ursula Münch, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema "Föderalismusreform" am 15.5. 2006; www.bundestag.de/ ausschuesse/a06/ foederalismusreform/ Anhoerung/01_ Allgemeiner_ Teil/Stellungnahmen/Prof__ Dr__ Ursula_Muench.pdf (9.11. 2006).

  16. Er geht zurück auf ein Sondervotum des früheren Hamburger Senators Ernst Heinsen in der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages. Danach sollten "die Länder im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder ändern" (können), "wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Wochen nach der Zuleitung Einspruch erhebt". Vgl. Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. Teil II: Der Bund und die Länder. Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform. Zur Sache 2/77, Bonn 1977, S. 76.

  17. Vgl. Fritz W. Scharpf, Recht und Politik in der Reform des deutschen Föderalismus, in: Michael Becker/Ruth Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht. PVS Sonderheft 36/2006, S. 306 - 332.

Dr. iur., geb. 1935; Professor, ehem. Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Paulstraße 3, 50676 Köln.
E-Mail: E-Mail Link: fs@mpifg.de