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Solange man dich noch sieht - Essay | Dialog der Kulturen | bpb.de

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Solange man dich noch sieht - Essay

Sinasi Dikmen

/ 7 Minuten zu lesen

Einleitung

Der Junge ist elf Jahre alt, in Deutschland geboren, deutscher Staatsbürger und geht in Ulm auf das Gymnasium. Seine Mutter ist deutschsprachig und ebenfalls deutsche Staatsbürgerin. Er spricht einige türkische Brocken, seine Alltagssprache ist schwäbisch. Er spielt sehr gut Fußball, schießt oder verhindert Tore für seine deutsche Mannschaft. Eine perfekte Integration. Als ich, sein Großvater, ihn eines Tages fragte: "Na, wie spielen wir gegen Argentinien?", antwortete er erstaunt: "Opa, wir spielen doch gar nicht gegen Argentinien. Die Deutschen spielen." - "Aber du bist doch auch Deutscher." - "Ja, aber nur vom Pass her."



Der Junge hatte schon immer Fußballer werden wollen. Sein größtes Problem war, wo er denn spielen sollte - bei Real Madrid, bei Besiktas Istanbul oder in der türkischen Nationalmannschaft. Er glaubte, die türkische Nationalmannschaft sei eine normale Mannschaft. "Ich will nur deshalb nicht bei Real Madrid spielen, weil meine Mutter dann nicht jeden Tag zur Arbeit kommen kann." - "Dann spiele doch für den FC Bayern München." - "Opa, du spinnst wohl, das sind 120 Kilometer weg von Ulm. Da kommt sie auch nicht pünktlich zur Arbeit." - "Wenn du aber in Istanbul spielst, kann sie das erst recht nicht." - "Wieso nicht, Istanbul ist doch nicht so weit."

Wer hat Istanbul so nahe an Ulm herangebracht, wer hat München so weit von Ulm entfernt? Wie kann ein junger Mensch, der noch nie in seinem Leben in Istanbul war, die Sprache in Istanbul nicht konnte, keinen Menschen aus Istanbul kannte, glauben, dass Istanbul gleich um die Ecke von Ulm, also vor München, liegt? Wer hat ihm das beigebracht? Es muss ein ganz gemeiner, hinterlistiger, integrationsfeindlicher Mensch gewesen sein. Wir können ohne Beweise niemanden beschuldigen, zumal wir in einem demokratischen Staat leben. Lassen Sie mich einen Moment den Staatsanwalt spielen, und beginnen wir mit dem Satz: J'accuse.

Ich, der Großvater dieses jungen Menschen, war einst an einem nassen Apriltag nach Deutschland gekommen. Der schwäbische Taxifahrer begrüßte mich auf Hochdeutsch (was ihn eine Menge Überwindung kostete), fuhr mich höflich zu der gewünschten Adresse, wollte eigentlich kein Geld nehmen, aber das Auto gehörte ihm nicht, und der Fahrer wollte den Besitzer nicht betrügen. So waren die Deutschen damals: höflich und anständig. Bevor ich aus dem Auto ausstieg, bat mich der Fahrer: "Natürlich dürfen Sie bei uns bleiben, solange es Ihnen beliebt und Ihnen danach ist. Nehmen Sie auch unsere vielfältigen Integrationsangebote an." Ich, der Gast, nickte mit dem Kopf und dachte: Integrieren? Selbstverständlich werde ich mich integrieren. Deshalb bin ich ja da! Viel Geld verdienen werde ich. Und ich werde mir ein Auto kaufen, eine Wohnung in der Türkei, dann will ich auch noch sparen, meine Frau will auch einen Kühlschrank, und einen Fernseher, und die Kinder sollen in die Schule gehen. Integrieren werde ich mich, ehrlich, ohne Tricks.

Damals wusste in Deutschland keiner, was Integration für einen Türken bedeuten würde und wie ein Türke sich in Deutschland integrieren sollte. Der Taxifahrer, so dachte ich, hatte vielleicht gemeint: Ich sollte mehr arbeiten - das tue ich gerne. Um die Integration zu schaffen, arbeitete ich Tag und Nacht, wohnte in einer Baracke, ernährte mich von Konserven, verzichtete auf Pausen und auf Sex. Ich wollte mich integrieren und so viel Geld wie möglich nach Hause schicken. Auch mein Arbeitgeber dachte so, auch die Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen, die Parteien und Gewerkschaften und auch die Intellektuellen und Journalisten. Alle sagten über mich, den Türken: "Der Junge arbeitet gut, er ist genügsam, spart viel, stört niemanden."

Der Westdeutsche Rundfunk rief damals zu einem Wettbewerb auf, um diesem Türken einen Namen zu geben. Unter Tausenden von eingeschickten Vorschlägen wurde das Wort "Gastarbeiter" ausgesucht. Jetzt hatte ich, der Großvater unseres jungen Menschen, einen Namen: "Gastarbeiter". Ich hieß nicht mehr Türke, nicht Ahmed und nicht Mehmet oder Großvater eines vielleicht deutschen Fußballnationalspielers, nein: "Gastarbeiter". Der Name war schön, denn er drückte die herzlichen Gefühle der Deutschen für mich aus, und ich freute mich über den tollen Namen. Niemand in Deutschland hatte diesen Namen zuvor getragen. Niemand sollte diesem Deutschland ein solch neues Gesicht verpassen wie dieser Name. Niemand brachte die Menschen in Deutschland mehr durcheinander als "Gastarbeiter". Das wusste ich, der Großvater dieses jungen Menschen, damals aber noch nicht. Dieser junge Mensch existierte noch nicht einmal in der Vorstellung.

Nachdem ich, der Großvater, mit diesem wunderbaren, sagen- und heldenhaften Namen dekoriert worden war, wurde ich übermütiger, arroganter und frecher. Ich benahm mich bald nicht mehr wie ein "Gastarbeiter", sondern ließ mich, ohne irgend jemanden gefragt zu haben, gemütlich in Deutschland nieder. Ich holte meine dicke Frau und meine schüchternen Kinder nach, kassierte Kindergeld und wohnte zum Trotz in abbruchreifen Wohnungen, obwohl die Deutschen mich immer wieder ermahnten: "Du bist unser einziger Gastarbeiter, bitte wohne nicht dort, wir haben doch schönere Wohnungen." Nein, ich wollte unbedingt billig hausen. Die Deutschen haben mir Sprachunterricht angeboten, der Arbeitgeber hat mich vom Dienst befreit, damit ich Deutschland beschnuppere, das Land erkunde. Die Gewerkschaften haben mich immer wieder zur Seite genommen: "Genosse, komm, wir geben dir die deutsche Sprache, du gibst uns deine Beiträge." - "Kein Problem", dachte ich, der stumme "Gastarbeiter", "wie viel Mark Mitgliedsbeitrag im Monat hättet Ihr denn gern? Bitte sehr, aber ich will nicht Deutsch lernen. Ich bin Gast hier, ich will schnell wieder gehen."

Die Kirchen haben mich in ihre Gebete einbezogen. Wie oft hat mich die katholische Kirche angesprochen: "Ist egal, woran du glaubst, du bist unser Bruder, komm unter uns." - "Nein", sagte ich, der muslimische "Gastarbeiter", "ich will allein beten, und zwar gen Mekka." Da haben die Kirchen gemerkt, dass der "Gastarbeiter" in eine ganz andere Richtung betet. Und was haben die politischen Parteien alles für mich getan? Was haben sie mir alles ermöglicht? CDU und CSU haben mich damals auf Knien angefleht: "Warum übersiehst du uns, werde unser Mitglied, kandidiere für unseren Parteivorstand." - "Nein", sagte ich, der Querulant, "CDU und CSU sind ungläubig, ich will in die Korankurse." Die unmittelbaren Nachbarn des "Gastarbeiters" haben mir damals sogar geholfen, als ich krank wurde: Sie brachten mir Suppe ins Haus und machten mir Wadenwickel, um mein Heimweh zu kurieren. Später, in Schwandorf, Mölln und Solingen, haben sie mir Feuer gegeben.

Ich, der Großvater des jungen potenziellen deutschen Fußballnationalspielers, sah, wie mein italienischer Nachbar, der ehemalige Gastarbeiter, der nun wieder Giovanni genannt wurde, jeden Tag vor dem Pizzabacken vor sich hinmurmelte, eigenartige Bewegungen machte, sich selber kurz und knapp begrüßte, dann wieder mit seinen beiden Händen redete und schließlich die Handfläche, Daumen, Zeige- und Mittelfinger eng aneinanderlegend, zum Himmel erhob, dann wieder langsam und deutlich deutsch sprach. Das nannte er seine alltägliche Integrationsübung; er meinte, wenn er weiter so fleißig übe, werde er in Deutschland unsichtbar und damit unangreifbar werden. Das nennt man "gelungene Integration": Die Unsichtbarkeitsoll das Ziel jedes "Gastarbeiters" in Deutschland sein. Erst, wenn ihn keiner mehr bemerkt, keiner mehr spürt, keiner mehr riecht, ist die Integration gelungen. So sagte und dafür befleißigte sich der Mensch, der früher "Itacker" hieß, dann für kurze Zeit "Gastarbeiter aus Italien", dann Giovanni.

Ich, der Großvater, hatte schon ein Haus in der Türkei, meine Kinder besuchten die deutsche Schule, der eine die Hauptschule, die anderen die Realschule, die Jungs wurden Kfz-Mechaniker, die Mädchen Friseurinnen, nahmen den Deutschen Arbeitsplätze weg, verdienten viel Geld, aber das Integrieren fehlte. Das merkte auch ich, weil mir das Wort überall entgegenschlug. Ich fragte einen Pfarrer, wo man sich in Deutschland integrieren kann, dann einen Gewerkschaftssekretär, dann einen Lehrer, dann einen Politiker. Der eine schickte mich zu seinem Gemüsehändler: "Gehe doch zu meinem Türken, wo ich frische Wassermelonen kaufe." Der andere zu seiner türkischen Imbissbude: "Mein Türke Ahmed, der kann dir helfen." Der Dritte zu seinem türkischen Metzger: "Gehe zu meinem Türken. Da kannst du billig Hammelfleisch kaufen, und er bietet dir jedes Mal Oliven an, umsonst." Ich besuchte sie alle, fragte, wie sie das geschafft hätten, dass diese Deutschen sie so liebevoll zu "ihren" Türken erwählt hätten. Ich erhielt viele Tipps: "Du musst zu dem Deutschen immer freundlich sein. Immer lachen." - "Du musst den Deutschen besonders lieb behandeln." - "Stehe jedes Mal auf, wenn ein Deutscher in deinen Laden eintritt." - "Der Deutsche ist gebildet, unterhalte dich über Gott und die Welt mit ihm." - "Der Deutsche ist sehr engagiert, erzähle nie Positives über das türkische Militär." - "Der Deutsche ist sehr belesen, zeige ihm, was du von deutscher Literatur weißt."

Das alles konnte ich nicht. Ich wollte arbeiten, um mich zu integrieren, aber zu spät habe ich begriffen, dass nur arbeiten nicht ausreicht. So blieb ich zu Hause, wollte mich mit keinem Deutschen mehr unterhalten, ging nur noch in die türkischen Vereine, in die türkischen Cafés, las türkische Zeitungen und kaufte mir eine große Antenne für meine türkischen Fernsehprogramme. Das aber wollen die Deutschen nicht, sie sehen mich schief an, ich bin ihnen zu sichtbar, sie halten es für Trotz, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand glücklich sein kann, wenn er anders ist als sie. Aber warum macht sie das nur so aggressiv?

Mir geht es seitdem gut, ich will arbeiten und nichtintegriert in Rente gehen. Dann will ich vielleicht jährlich sechs Monate lang in der Türkei leben. Außer der Sprache habe ich dort nichts, aber da bin ich jemand, da brauche ich mich nicht unsichtbar zu machen. Mit meinen Enkelkindern habe ich manchmal Sprachprobleme, aber das liegt nicht an mir, sondern an den Kindern, sie konnten sich nie in das türkische Leben in Deutschland integrieren. In der Türkei werde ich sie vermissen. Es sei denn, der Junge wird deutscher Fußballnationalspieler: Ich werde stolz sein auf meinen Enkelsohn. Der Junge hat es geschafft.

Geb. 1945; seit 1972 in Deutschland; Kabarettist und Autor; Leiter der Kabarettbühne "Die Käs" in Frankfurt/M.; Kolumnist der Tageszeitung "Hürriyet". Die Käs. Kabarett in der City, Waldschmidtstraße 19, 60316 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: sinasidikmen@yahoo.de
Internet: Externer Link: www.die-kaes.com