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Die Internationale der Einäugigen - Essay | Krisenjahr 1956 | bpb.de

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Die Internationale der Einäugigen - Essay

Ralph Giordano

/ 7 Minuten zu lesen

Als wir von Chruschtschows Rede erfuhren, traf es uns hart, trotz der Emanzipation, der Distanzierung von der Partei, die wir bereits vollzogen hatten.

Einleitung

Ich war von Oktober 1955 bis Juni 1956 Student am Institut für Literatur in Leipzig. Meine Emanzipation von der Partei war damals schon weit fortgeschritten. Zur Erklärung muss ich anführen, dass ich nach meiner Befreiung am 4. Mai 1945 durch die 8. Britische Armee sehr bald Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, Landesbezirk Hamburg, wurde, in der Annahme, dass die Feinde meiner Feinde auch meine Freunde sein müssen. Das war ein großer Irrtum.

Die Nazis hatten zwei Hauptfeinde: die Juden, das waren wir selber, und die Roten, die Bolschewiki, das waren die Kommunisten. Mein Eintritt in die KPD war entsprechend meinem damaligen Erkenntnisstand verständlich. Im Laufe der Jahre erkannte ich jedoch, dass - um es vorsichtig auszudrücken - eine tiefe Kluft zwischen der kommunistischen Propaganda und der Wirklichkeit bestand. Im Februar 1956 erfuhren wir, was Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU gesagt hatte. Dieser kleine Türspalt, den er geöffnet hatte, traf uns wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer vor die Stirn. Wir fielen vom Fleische, trotz der Emanzipation, der Distanzierung von der Partei, die wir schon vollzogen hatten. Nun war der Klassengegner in dem, was er über das System gesagt hatte, bestätigt! Es war eine Situation, die schwer zu schildern ist.

Zudem durchlitt ich noch meine persönliche Tragödie. Ich war in Hamburg eingesperrt worden, weil ich gegen die sozialdemokratische Regierung in einem Artikel in der "Weltbühne" Verbalinjurien gebraucht hatte. Das hat mir drei Monate Gefängnis in Hamburg-Bergedorf eingebracht. Über diese Gefängniszeit hatte ich ein Buch ("Entscheidung in Hamburg") geschrieben, das im März 1956 erscheinen sollte. Nach der Chruschtschow-Rede rief mich der Leiter des Verlags "Neues Leben" in Ost-Berlin an und sagte: "Genosse Giordano, wir müssen mal über dein Buch sprechen." In meinem Buch sollte ein Stalin-Bild vorkommen. Das hatte ich 1953 als gläubiger Stalinist mit ins Gefängnis geschmuggelt und versteckt. Am 5. März 1953 starb Stalin. Sein Tod war für mich nicht so schlimm wie der meines Vaters, aber es war doch ein Ereignis, das mir tief zu Herzen ging. An dem Morgen, als Stalin gestorben war, hatte ich vor dem Morgenrundgang das bis dahin unentdeckte Bild hervorgeholt und unter das Fenster gehängt. Als wir zurückkamen, war das Bild verschwunden. Daraufhin zertrümmerte ich dieEinrichtung meiner Zelle einschließlich des Klosetts und kam in eine Strafzelle. Einzelhaft hatte ich sowieso, aber hier gab es Ratten, und die bissen. Ich hatte sie noch aus meiner Zeit der Illegalität während der Nazizeit gut in Erinnerung. Es war eine Tortur.

Und ich habe um Stalin gelitten. Jetzt plötzlich, nach der Chruschtschow-Rede, sollte es nicht mehr möglich sein, ein Buch herauszubringen, in dem Stalin eine Rolle spielt? Alfred Kurella, damals Institutsdirektor in Leipzig, beschäftigte sich mit der Frage. Der Parteidichter Kurt Barthel, Kuba genannt, kam ans Institut für Literatur und sagte: "Genosse Giordano, ich höre, Sie haben Schwierigkeiten mit dem Stalin-Bild? Das ist doch ganz einfach: Machen Sie Thälmann daraus." Ausgerechnet Kuba sagte das, der gedichtet hatte: "Mutter von Gori, wie groß ist dein Sohn" und der für uns der Inbegriff der Stalin-Verherrlichung war.

Meine Emanzipation von diesem politischen Irrtum war nicht leicht. Zugehörigkeit bedeutet mir viel, und ich glaubte, sie bei den Kommunisten gefunden zu haben, weil sie die größten Blutopfer gebracht hatten nach 1933. Wir sind zwar von den Briten befreit worden, aber wir fühlten uns befreit von der Roten Armee. Unser Leben war ein Wettlauf zwischen der "Endlösung der Judenfrage" und dem Endsieg der Alliierten gewesen. Ich möchte nicht die Leistungen der Westalliierten unter den Scheffel stellen, aber wir wussten, unser Überleben war abhängig davon, wie schnell die Rote Armee nach Berlin kommen würde. Das war ein entscheidendes Moment, das mich zur KPD geführt hatte.

Umso größer, umso schwerer war die persönliche Enttäuschung, und mehr noch, dass es dabei nicht geblieben ist. Es war ein langer Prozess, aber es war wie eine zweite Befreiung. Ich hatte mich aus der Internationale der Einäugigen mit ihren beiden Fraktionen gelöst: Die eine ist auf dem rechten, die andere auf dem linken Auge blind. Die Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Partei führte dazu, dass ich mich dieser Internationale entrungen habe, um auf beiden Augen sehen zu können. Warum gehörte ich dieser Internationale der Einäugigen überhaupt an? Warum bin ich denen ständig nachgegangen, obgleich die so genannte Presse des Klassengegners immer über die Verbrechen geschrieben hatte? In meinem Buch "Die Partei hat immer Recht", das 1961 erschien, versuchte ich, dieses Defizit an humaner Orientierung zu erklären. Die Verdrängung, die ich den Nazis zum Vorwurf gemacht habe, traf für eine gewisse Periode meines Lebens auch auf mich selbst zu. Als dann allerdings diese Tür geöffnet worden ist - Chruschtschow mag vieles gesagt haben, aber zunächst gelangte davon nur wenig an die Öffentlichkeit -, musste ich die Genossen fragen, warum sie geschwiegen hatten.

Die Art, wie die KPD den XX. Parteitag ausgewertet hat, nämlich mit Verdrängung, wenn nicht gar Stillschweigen, was die Landesorganisation Hamburg anbetraf, war ein entscheidendes Moment für meinen Lösungsprozess. Ich wusste nun: Diese Leute wollen die Wahrheit nicht hören. Es ging um das Schicksal von Millionen. Von den Nazis kann man sagen, dass sie entsetzliche Dinge getan und Millionen Menschen umgebracht haben. Aber hier sind die eigenen Genossen umgebracht worden. Die Angeklagten in den Moskauer Prozessen 1937/38 waren ja keine "Verräter", sondern sie wurden umgebracht als Bolschewiki. Und die KPD wollte sich damit nicht auseinander setzen! In dieser Partei konnte ich nicht bleiben.

"Die Partei hat immer Recht" ist nicht die Biografie eines enttäuschten Kommunisten, sondern eine Anatomie des Stalinismus, die erklärt, wie es dieser Partei gelang, einen Menschen mit meiner Biografie zu packen, zu fassen und eine Zeit lang zu halten. Aus den gleichen antifaschistischen und humanen Gründen, aus denen ich ihr beigetreten bin, habe ich sie dann wieder verlassen. Ein schwieriger Prozess, denn es waren ja immer noch Rückstände da, eine gewisse Nibelungentreue, die erst gebrochen werden musste. Jeder wusste, wenn du mit der Partei brichst, dann stehen vertraute Menschen vor der Wahl: entweder, oder. Weil die Partei auch die Seelen beanspruchte. Und so kam es auch, nachdem Alfred Kantorowicz im August 1957 in der "Welt" die Gründe für seinen Bruch veröffentlicht hatte. Das war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Damals schrieb ich dem Verlag "Neues Leben": Es ist vorbei, es geht nicht mehr.

Was mich damals wie heute bewegt, ist, dass sich Kritik an der Diktatur nicht nur gegen das eine Mordsystem des 20. Jahrhunderts, sondern auch gegen das andere richten muss. Es ist keine Entschuldigung für meinen politischen Irrtum, aber es ist eine Erklärung dafür, warum auch ich länger bei der Partei geblieben bin, als es vielleicht nötig gewesen wäre: Es war die Art und Weise, wie man sich mit der NS-Vergangenheit auseinander setzte. Wir leben in einem Land mit dem größten in der Geschichte bekannten Verbrechen, mit Millionen von Opfern, die umgebracht worden sind wie Insekten. Von Ausnahmen abgesehen, sind die Täter nicht nur straffrei davongekommen, sondern sie konnten ihre Karrieren in der alten Bundesrepublik unbeschadet fortsetzen. In der DDR war es nicht viel anders. Damit zu leben, ist nicht leicht.

Es gab 32 000 aktenkundige politische Todesurteile wegen nichts, wegen Bagatellen, weil jemand vielleicht nach einem Fliegeralarm eine Knackwurstdose aufgemacht hatte. Kein einziger dieser NS-Blutrichter und -Blutankläger ist je rechtskräftig verurteilt worden. Ich habe für den Zentralrat der Juden in Deutschland, für die "Allgemeine Jüdische Wochenzeitung", als Fernsehjournalist und Essayist den NS-Prozessen über Jahre, Jahrzehnte beigewohnt. Binnen Kurzem war klar, wer der hauptangeklagte Typus sein würde, nämlich die untersten Glieder in der Kette des industriellen Serien-, Massen- und Völkermordes, die Tötungsarbeiter selbst, die nicht mehr sagen konnten, sie haben von nichts gewusst, weil sie mit ihren Stiefeln, Knüppeln und Pistolen gemordet haben. Ihre Vorgesetzten kamen nicht vor die Tore der bundesdeutschen Justiz. Ich habe das die zweite Schuld genannt. Vor jeder zweiten Schuld gibt es eine erste Schuld. Die erste Schuld ist die Schuld der Mehrheit der Deutschen unter Hitler und die zweite Schuld ist die Verdrängung und die Verleugnung dieser ersten Schuld nach 1945 und 1949. Und das nicht nur rhetorisch oder moralisch, sondern tief instituiert durch den großen Frieden mit den Tätern. Damit soll man als Überlebender des Holocaust leben, und das ist nicht leicht.

Mir sind die Leute verdächtig, die entweder nur den Stalinismus oder nur den Nationalsozialismus kritisieren. Die das tun, gehören zu den internationalen Einäugigen mit ihren zwei Fraktionen. So ein scheußliches System wie das des real existierenden Sozialismus wird ja nicht weniger scheußlich dadurch, dass es ein noch scheußlicheres gegeben hat. Natürlich ist das Kriminalgewicht des Holocauststaates ungleich größer als das des Hammer- und Zirkelstaates. In der DDR-Geschichte steckt nicht der Völkermord an den Juden durch Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Aber das Gesamtsystem des Sowjetkommunismus hat quantitativ vielleicht noch mehr Opfer gefordert als das "Dritte Reich", dessen Zeit beschränkt war - zwölf Jahre nur, aber zwölf zuviel. Hier stinken zwei Mordregime gen Himmel.

Wir müssen an Beispielen deutlich machen, dass es Menschen gegeben hat und gibt, die Mut und Zivilcourage bewiesen haben. Die Frau, die meine Familie und mich über lange Zeit in einem düsteren, feuchten und rattenverseuchten Keller versteckt hat - diese Frau, die wir in unserem akademischen Hochmut eine einfache Frau nennen - hat uns versteckt, als meine Mutter deportiert werden sollte. Ich hatte alles vorbereitet, und als ich sie dann fragte, ob wir uns bei ihr verstecken könnten, sagte sie, ohne mich anzusehen, nur ein Wort: Natürlich. Und das, obwohl sie genau wusste, wenn wir entdeckt werden, ist ihr Leben genauso verwirkt wie das unsrige. Das sind die wirklichen Helden. Die Humanitas ist unteilbar.

Dr. h.c., geb. 1923; gest. 2014. Journalist, Schriftsteller und Regisseur; 1955 - 1957 in der DDR; Abrechnung mit dem Stalinismus mit dem Buch "Die Partei hat immer Recht" (1961). Berndorffstraße 4, 50968 Köln.