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Warschau-Budapest 1956 | Krisenjahr 1956 | bpb.de

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Warschau-Budapest 1956

János Tischler

/ 23 Minuten zu lesen

In Polen und Ungarn kam es im Herbst 1956 zu bedeutenden Veränderungen. Im "sowjetischen Lager" unterstützte nur Polen die revolutionäre Regierung von Imre Nagy.

Einleitung

Die Massendemonstration in Budapest am 23. Oktober 1956, die am Anfang der revolutionären Ereignisse in Ungarn stand, begann als Solidaritätskundgebung für den so genannten "polnischen Oktober". Dieser Sachverhalt wird zum einen durch einen der Hauptorte des Geschehens symbolisiert, den Platz vor der Statue des polnisch-ungarischen Helden General Józef Bem, zum anderen durch die Parole "Polen ist das Vorbild, lasst uns zugleich den ungarischen Weg beschreiten!"

Zur Verknüpfung der Ereignisse in den beiden Ländern kam es am 24. Oktober in Warschau auf einer Massenversammlung, die den Höhepunkt der Veränderungen in Polen markierte. So erschienen am Kundgebungsort einige Studentengruppen, die von den Budapester Demonstrationen am Vortag Kenntnis erhalten hatten, mit ungarischen Fahnen, was im Kreise der Versammlungsteilnehmer großen Beifall auslöste. Außerdem zogen gegen Ende der Demonstration mehr als zweitausend Menschen, denen sich weitere tausend Personen anschlossen, vor "die ungarische Botschaft, um ihre Solidarität mit der ungarischen Nation zum Ausdruck zu bringen". Eine der demonstrierenden Gruppen hielt schließlich in der Warschauer Innenstadt "eine kurze Versammlung unter der Parole Warschau-Budapest-Belgrad" ab.

Es gab in jenem Herbst jedoch noch einen dritten Ort, an dem die polnischen und ungarischen Ereignisse ganz oben auf der Tagesordnung standen: Moskau. Die Vertreter der kommunistischen "Bruderparteien" waren für den 24. Oktober 1956 in die sowjetische Hauptstadt geladen worden, um von Nikita Chruschtschow über die sowjetisch-polnischen Verhandlungen, die einige Tage zuvor in Warschau stattgefunden hatten, informiert zu werden. Chruschtschow hatte kurz zuvor nur zögerlich dem Einsatz sowjetischer Truppen in Budapest am 23./24. Oktober zugestimmt, weil er eine mögliche bewaffnete Intervention der Sowjetunion in Polen zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeschlossen hatte. Bei der Sitzung ging es nun nicht mehr nur um die Situation in Polen, sondern auch um die explosive Lage in Ungarn.

Dem "polnischen Umsturz", der trotz der immanenten Gefahr einer gewaltsamen Eskalation ein friedliches Ende fand, folgte rasch die Zuspitzung der Ereignisse in Ungarn. Die Studenten in Budapest forderten demokratische Freiheiten. Die Demonstrationen weiteten sich zum Volksaufstand aus, und Armee und Polizei liefen zu den Aufständischen über. Sowjetische Truppen besetzten noch in der Nacht strategisch wichtige Punkte in Budapest und in anderen Städten. Der populäre Reformkommunist Imre Nagy bildete eine neue Regierung, führte das Mehrparteiensystem ein und kündigte freie Wahlen an. Am 1. November 1956 trat Ungarn aus dem Warschauer Pakt aus und erklärte seine Neutralität. In blutigen Kämpfen schlugen sowjetische Truppen die Revolution ab dem 4. November nieder.

Gerade die ungarische Revolution, die aus Sicht der Sowjetunion nur militärisch beendet werden konnte und in deren Folge rund 200 000 Ungarn in den Westen flüchteten, führte Chruschtschow auf drastische Weise vor Augen, vor welchen Folgen die Sowjetunion durch die politische Lösung der Krise in Polen bewahrt worden war. Zugleich ist es im Lichte der Geschichte des "polnischen Oktobers", der ebenfalls als "revolutionär" bezeichnet wurde, kein Wunder, dass die Ereignisse in Polen und Ungarn miteinander verknüpft waren.

Aus dem Ungarischen übersetzt von Andreas Schmidt-Schweizer, Budapest.

Aufruf an die Ungarn

Die im Laufe der politischen Veränderungen in Polen im Herbst 1956 neu gewählte kommunistische Parteiführung - insbesondere Wladyslaw Gomulka, ihr an die Macht zurückgekehrter "erster Mann" - verfolgte die ungarischen Geschehnisse mit größter Aufmerksamkeit. Neben den aus Budapest eintreffenden Nachrichten übte auch die öffentliche Meinung in Polen, die eine vollständige Übereinstimmung zwischen der ungarischen und der "polnischen Revolution" vermutete und bereits mit massenhaften Blutspenden den "ungarischen Brüdern" zu Hilfe eilte, Druck auf die noch kraftlose Warschauer Parteiführung aus. Diese hatte sich auf den Weg tief greifender Reformen begeben und suchte dafür nach Unterstützung und Verbündeten in den anderen Ländern des Sowjetblocks, in dem damals aber noch die "stalinistische Linie" vorherrschte. Einen Verbündeten glaubte sie nun in Ungarn gefunden zu haben. Die ungarische Revolution sorgte für eine "Verteilung" des starken politischen, teilweise auch militärischen Drucks aus Moskau, der bislang nur die Polen getroffen hatte, auf beide Länder. Dies war für die Polen von Vorteil, da sie so die unausweichlichen Veränderungen - etwa die Ablösung des sowjetisch-polnischen Marschalls Konstantin Rokossowski vom Posten des Ministers für Nationale Verteidigung sowie die Zurückbeorderung der sowjetischen Offiziere und Militärberater - leichter durchführen konnten.

Nachdem die polnische Führung aufgrund der Flut einander widersprechender Nachrichten über die Situation in Ungarn bzw. ihrer eigenen Orientierungslosigkeit in den Tagen nach dem 23. Oktober keine Stellungnahme abgegeben hatte, beschloss das Politbüro der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auf seiner Sitzung am 28. Oktober, einen Aufruf an die ungarische Nation zu richten. Die polnische Führung konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr länger schweigen, weil das Zentralorgan der PVAP "Trybuna Ludu" und daraufhin auch die Organe in den einzelnen Woiwodschaften mit Genehmigung der zuständigen Organe oder unter Ausnutzung der damals herrschenden vollständigen Ohnmacht der Zensur in ihren Leitartikeln den ungarischen Aufstand begrüßten bzw. sich zu den dortigen Ereignissen bekannten. Ein Aufruf der Parteispitze konnte sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die polnische Führung viele Gemeinsamkeiten mit den Veränderungen in Ungarn erblickte, positiv auf die Konsolidierung der ungarischen Revolution und damit mittelbar auch auf die Situation in Polen auswirken.

Adam Willman, der polnische Botschafter in Budapest, erhielt am 28. Oktober die Anweisung aus Warschau, den Aufruf sofort übersetzen zu lassen, weil er in den ungarischen Zeitungen am nächsten Tag erscheinen müsse. Außerdem übergab der Botschafter das polnische Original und den ungarischen Text an den an die Spitze der Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP) berufenen János Kádár sowie an Imre Nagy, den Ministerpräsidenten der Revolution. Beide baten daraufhin Willman, den Führern der polnischen Bruderpartei ihren "heißen Dank" für die große Hilfe zu übermitteln. Am 29. Oktober publizierten alle polnischen Tageszeitungen und das ungarische Zentralorgan "Szabad Nép" (Freies Volk) den Aufruf der PVAP an die ungarische Nation, der von Gomulka und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz unterschrieben war. In diesem drückten sie ihr Bedauern über das Blutvergießen und die schweren Zerstörungen in Budapest aus und riefen die Ungarn auf, den "brudermörderischen Kampf" so schnell wie möglich einzustellen. Anschließend hieß es: "Wir kennen das Programm der ungarischen nationalen Regierung, das Programm der sozialistischen Demokratie, der Erhöhung des Wohlstandes, der Bildung von Arbeiterräten, des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Ungarn und der sowjetisch-ungarischen Freundschaft auf der Basis des Lenin'schen Prinzips der Gleichberechtigung. Es steht uns fern, in Eure inneren Angelegenheiten einzugreifen. Wir sind aber der Meinung, dass dieses Programm den Interessen des ungarischen Volkes und des gesamten Friedenslagers entspricht. (...) Wir stehen beide auf ein und derselben Seite - auf der Seite von Freiheit und Sozialismus. (...) Es herrsche Frieden in Ungarn, die Einheit von Frieden und Volk, die Ihr so notwendig habt, um das umfassende Programm der Demokratisierung, des Fortschritts und des Sozialismus, das sich Euere nationale Regierung zum Ziel gesteckt hat, zu verwirklichen."

Besonders auffällig am Appell der polnischen Parteiführung ist der Satz, in dem sie den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn begrüßte, während sie einen solchen Schritt für Polen für unvorstellbar hielt. Auf entsprechende Forderungen konnte Gomulka Ende Oktober nur antworten, dass die geopolitische Situation Ungarns eine völlig andere sei als die Polens und dass diejenigen, die einen sowjetischen Abzug auch aus Polen forderten, der inneren und äußeren Reaktion - die beabsichtige, die Situation zu ihren Gunsten auszunutzen - in die Hände spielen würden. Es sollte noch einige Tage dauern bzw. einige besonders bedeutungsvolle Geschehnisse erfordern, bis Gomulka die passende, später lange Jahre angewandte Formel von den "polnischen Staatsinteressen" fand.

Am Abend des 29. Oktober besuchte Gomulka die Technische Universität in Warschau, die während der Tage des "polnischen Oktobers" durch außerordentliche Aktivitäten geprägt gewesen war. Die Studenten fragten ihn, ob es nicht notwendig sei, als Ausdruck der Solidarität gegenüber den Ungarn in Polen nationale Trauer anzuordnen. Gomulka verwarf dies und erklärte, dass das, was sich zur Zeit in Ungarn ereigne, letztlich als ruhmreiches und glückliches Ereignis in die ungarische Geschichte eingehen werde, und Polen - abgesehen davon, dass es den Ungarn wegen der erlittenen menschlichen und materiellen Verluste sein Mitgefühl ausdrücke - sich darüber freue, dass die Ungarn die Ketten der Knechtschaft und Sklaverei abgeschüttelt hätten. Auch werde man entsprechend seiner Möglichkeiten Hilfe leisten.

Die Antwort schien die Studenten zu befriedigen. Dass es sich bei Gomulkas Worten nicht um Phrasen handelte, bewiesen nicht nur die Ereignisse der vorangegangenen, sondern auch die der folgenden Tage, als die Parteiführung - "gemäß ihren Möglichkeiten" - darum bemüht war, Ungarn politische Hilfestellung zu leisten. Sie ließ zu, dass die polnische Presse objektiv und umfassend über die ungarische Revolution berichtete und dass Schriften, Aufrufe und Telegramme, die Zustimmung zu den Ereignissen zum Ausdruck brachten, veröffentlicht wurden. Stillschweigend nahm die Parteiführung pro-ungarische Solidaritätsveranstaltungen und -demonstrationen zur Kenntnis. Zur größten Straßenkundgebung kam es in der Stadt Olsztyn, wo zehntausend Menschen demonstrierten und die Teilnehmer den dortigen "Platz der Roten Armee" in "Platz der Ungarischen Aufständischen" umbenannten. In Wroclaw wurde am Rathaus auf dem Hauptplatz eine ungarische Fahne mit schwarzem Trauerflor gehisst. Gleiches geschah auch in der größten Fabrik der Stadt. Dort "rissen die Fabrikarbeiter den roten Stern herab und hissten an seiner Stelle die polnische und die ungarische Fahne". Die Behörden verhinderten auch nicht die von der polnischen Gesellschaft freiwillig organisierten, sich auf das gesamte Land erstreckenden Hilfsaktionen (Blutspenden, Sammlung von Geld, Lebens- und Arzneimitteln) zugunsten der "ein tragisches Schicksal erleidenden und um ihre Freiheit kämpfenden ungarischen Brüder". Diese Hilfe war die erste und umfassendste ausländische Unterstützung in den Tagen der ungarischen Revolution.

Zur gleichen Zeit, am 28. Oktober 1956, machte sich eine Delegation im Auftrag von Gomulka auf den Weg nach Budapest, um sich Informationen aus erster Hand zu beschaffen. Darüber hinaus hatte sie die Aufgabe, sich darum zu bemühen, einen weiteren "Rechtsrutsch" der Revolution zu verhindern und Nagy und Kádár dazu zu bewegen, weiteren Veränderungsprozessen Einhalt zu gebieten. Dieser Besuch bot darüber hinaus eine günstige Gelegenheit, der neuen ungarischen Führung die Unterstützung Polens zu versichern und eindeutig zu verurteilen, dass der abgesetzte Parteichef Erno Gero sowjetische Truppen "zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung" zu Hilfe gerufen hatte. Die Delegation setzte sich aus dem stellvertretenden Außenminister Marian Naszkowski und dem ZK-Kandidaten Artur Starewicz zusammen. Diese führten noch am selben Tag Gespräche mit Mitgliedern der ungarischen Führung, vor allem mit Nagy und Kádár. Über das Treffen schickte die polnische Seite einen mehrseitigen, verschlüsselten Bericht an Gomulka. Dieses geheime Telegramm enthielt eine ungeschminkte Lageanalyse der ungarischen Gesprächspartner. Wie die Delegation berichtete, "konnte niemand aus der Parteiführung uns auch nur ein Zentrum der Reaktion nennen, ja nicht einmal Fakten, die in der Hauptstadt von einem dezidiert antikommunistischen und antisozialistischen Charakter der Volksbewegung zeugten". Zugleich stimmten die ungarischen Führer aber darin überein, dass "jeder Tag und jede Stunde, in der die Kämpfe fortgesetzt werden, unweigerlich dazu führen müssen, dass sich der reaktionäre und antikommunistische Abschaum an die Spitze der Aufstandsbewegung stellt".

Aufgrund dessen, was sie in Budapest gesehen hatten, konnten sich die beiden Mitglieder der polnischen Führung davon überzeugen, vor welcher Katastrophe die unblutige Lösung der - kurze Zeit zuvor ausgebrochenen - polnischen Krise ihr Land und ihre Partei bewahrt hatte. Denn sie waren sich im Klaren darüber, dass im Falle eines Einzugs sowjetischer Truppen in Warschau ein Aufstand mit elementarer Gewalt ausgebrochen wäre, dem die PVAP nicht hätte Herr werden können. Eine bewaffnete Auseinandersetzung auf polnischem Boden hätte wahrscheinlich die gerade verheilten Wunden, die den Polen von der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs zugefügt worden waren, wieder aufgerissen.

Am 29. Oktober trafen sich Starewicz und Naszkowski in der sowjetischen Botschaft mit den sowjetischen Spitzenfunktionären Anastas Mikojan und Michail Suslow, die sich aber über ihre Absichten nicht eindeutig äußern konnten oder wollten. Sie stellten lediglich fest, dass nun alles davon abhänge, ob es der Regierung Nagy gelinge, die Ereignisse unter Kontrolle zu bringen. Die beiden Gesandten kehrten am 30. Oktober nach Warschau zurück und berichteten noch am selben Tag auf der Politbürositzung. Mindestens genauso bedeutsam war, dass sie es für wichtig hielten, die Öffentlichkeit zu informieren. Starewicz stellte sich den Fragen eines Reporters des Polnischen Radios. Bei seiner Antwort auf die Frage, was er in Ungarn gesehen habe, legte er als Fazit die Überzeugung dar, dass die Verwirklichung des Programms der Nagy-Regierung nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Budapest beginnen könne.

Die polnische "Sondermeinung"

Am Vormittag des 1. November 1956 trafen sich Chruschtschow, Malenkow und Molotow in Brest an der sowjetisch-polnischen Grenze mit einer von Gomulka geführten polnischen Delegation. Die sowjetische Seite informierte die Polen über die bevorstehende militärische Intervention in Ungarn, die am 31. Oktober in Moskau beschlossen worden war. Da die Polen es nicht ohne Vorbehalte akzeptieren konnten, dass eine derartige Krise - wie die ungarische oder die zehn Tage zuvor ausgebrochene polnische - mittels der militärischen Kraft einer fremden Macht "erledigt" werde, brachten sie ihre "Sondermeinung" zum Ausdruck, nach der es sich bei den Ereignissen in Ungarn um eine innere Angelegenheit handele und eine Intervention daher nicht zulässig sei. Sie stimmten aber auch der sowjetischen Ansicht zu, dass in Ungarn ernsthaft die Gefahr einer Konterrevolution bestehe. Als Argument gegen eine Intervention führten sie weiter an, dass die Sowjetunion in Ungarn mit einem langwierigen Partisanenkrieg rechnen müsse. Schließlich mussten die Polen mangels einer Alternative die sowjetische Entscheidung zur Kenntnis nehmen, sahen es aber als wichtig an, ihre "Sondermeinung" öffentlich zum Ausdruck zu bringen.

Die sowjetische Haltung in Brest spielte Gomulka einen Trumpf in die Hand, weil er von da an seine politischen Überzeugungen ohne Taktieren und unter Berufung auf die "Interessen des polnischen Staates" eindeutig vertreten konnte. Diese schlossen die Anwesenheit sowjetischer Truppen, die Mitgliedschaft des Landes im Warschauer Pakt sowie die Unveränderbarkeit der 1945 neu gezogenen polnischen Grenzen ein. Gomulka konnte so die polnische Gesellschaft damit erpressen, dass die Nichtbeachtung oder Verletzung der "Interessen des polnischen Staates" Polen einem ähnlich tragischen Schicksal wie Ungarn ausliefern würde. Daher sei es die einzig richtige Lösung, wenn sich das Volk in einer derart gefahrvollen internationalen Situation hinter die PVAP stelle.

Die Formulierung "Interessen des polnischen Staates" findet sich erstmals im Aufruf der PVAP an die polnische Nation vom 1.November 1956. In diesem Appell ist auch die "Sondermeinung" zu finden, die die Polen am Vormittag jenes Tages in Brest gegenüber Chruschtschow zum Ausdruck gebracht hatten. Die Bedeutung des Treffens belegt der Umstand, dass sich wenige Stunden später alle Mitglieder des Politbüros der PVAP - einschließlich der "Brester Drei" - versammelten, um die neue Entwicklung in Ungarn zu diskutieren. Das Politbüro beriet über die "politische Lage in Ungarn und die Angelegenheit des Einmarsches sowjetischer Truppen" und traf "eine verurteilende Stellungnahme in der Sache der bewaffneten Intervention der Sowjetunion in Ungarn". Im Beschluss zur Tagesordnung stand auch, dass der Standpunkt der Partei im Aufruf an diepolnische Nation veröffentlicht werden müsse, wonach "in Ungarn das ungarische Volk für den Schutz und die Erhaltung der Volksmacht und der Errungenschaften des Sozialismus zu sorgen habe und diese Frage nicht durch eine äußere Intervention zu lösen sei".

Zur Formulierung des Appells, dessen Ziel es war, "kaltes Wasser auf die überhitzten polnischen Köpfe zu gießen" (zu jenem Zeitpunkt erreichten die Sympathieerklärungen für die Ungarn in der polnischen Gesellschaft ihren Gipfel), wurde ein Redaktionsausschuss unter Leitung des Politbüromitglieds Jerzy Morawski eingesetzt und der Text nach Zustimmung Gomulkas am folgenden Tag in den polnischen Zeitungen veröffentlicht. Der sich auf Ungarn beziehende Abschnitt verurteilte die frühere ungarische Parteiführung, die sich dem Willen der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Nation widersetzt und, anstelle eine Demokratisierung eingeleitet zu haben, am 23. Oktober sowjetische Truppen zu Hilfe gerufen habe. Anschließend wurde die wachsende reaktionäre und konterrevolutionäre Gefahr betont, auf den chaotischen Charakter der Situation in Ungarn verwiesen sowie die Selbstjustiz "reaktionärer Banden" und die bestialische Ermordung von Kommunisten erwähnt. Die reaktionären Kräfte, die Ungarn in Richtung einer Katastrophe treiben würden, wurden entschieden verurteilt. Zugleich brachte der Aufruf die Hoffnung zum Ausdruck, dass die ungarische Arbeiterklasse und die werktätigen Massen in der Lage sein würden, sich zu vereinigen und das "reaktionäre Attentat" abzuwehren. Des Weiteren wurde dem auf der Politbürositzung formulierten Beschluss über die Ablehnung ausländischer Interventionen Platz eingeräumt.

Es folgte die Feststellung, dass die sowjetische Armee aufgrund des Potsdamer Abkommens zur Sicherung der Nachschublinien ihrer Truppen in der DDR auf polnischem Gebiet stationiert sei. Dementsprechend sei ein Abzug aus Polen erst vorstellbar, wenn ein Friedensvertrag mit Deutschland zustande gekommen sei oder alle vier Großmächte ihre Truppen aus Deutschland zurückgezogen hätten. Neben der Sicherung der Nachschubwege schütze gerade die Präsenz sowjetischer Truppen in Polen die polnische Westgrenze vor deutschen Revisionsgelüsten. Die Bedingungen und Umstände des sowjetischen Aufenthalts seien in Zukunft durch angemessene rechtliche Formen, über die die polnische Führung ein Abkommen mit der sowjetischen Regierung schließen werde, zu regeln. In Kenntnis der internationalen Verhältnisse stehe die Forderung nach einem sowjetischen Truppenabzug in Widerspruch zu den fundamentalen Interessen des polnischen Staates. Die gegenwärtige Phase erfordere nicht Demonstrationen und Versammlungen, sondern Ruhe, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein: "Das ist der wichtigste Befehl des Augenblicks."

Trotz aller Anzeichen für den Beginn der bewaffneten sowjetischen Intervention in Ungarn richtete das polnische Außenministerium am 2. November die Weisung an Botschafter Willman, er solle auf die Bitte von Nagy um Hilfeleistung vom Vortag antworten, dass die polnische Führung hoffe, der imAufruf der PVAP formulierte offizielle Standpunkt Warschaus, nach dem "in Ungarn das ungarische Volk für den Schutz und die Erhaltung der Volksmacht und der Errungenschaften des Sozialismus zu sorgen habe und diese Frage nicht durch eine äußere Intervention zu lösen sei", stelle eine Hilfe für Ungarn dar.

Am Abend des 2. November erreichte ein verschlüsseltes Telegramm von Willman die polnische Hauptstadt. Darin bat die ungarische Regierung, Polen solle zustimmen, dass in Warschau zwischen Regierungsdelegationen Ungarns und der Sowjetunion über die Regelung der Beziehungen und die Frage der Stationierung sowjetischer Truppen in Ungarn verhandelt werde. Es war offensichtlich, dass die Diskussion dieser Frage auf ungarischer Seite die Forderung nach dem Abzug der sowjetischen Armee vorsah; eine Forderung, die die Führung der PVAP hinsichtlich Polens kaum einen Tag zuvor erneut, für jedermann unmissverständlich und prinzipiell verworfen hatte. Die polnische Führung antwortete innerhalb von anderthalb Stunden: Wenn es für beide Seiten akzeptabel sei, dann stimme die polnische Regierung zu. Wenn der Zeitpunkt der Verhandlungen vereinbart sei, wolle man auch die Öffentlichkeit informieren. Indem das Politbüro der PVAP auf diese Weise der Bitte der ungarischen Regierung Genüge leistete, brachte es erneut die "Brester Sondermeinung" zur Geltung.

In der Nacht auf den 4. November traf ein Telegramm von Willman ein, in dem der polnische Botschafter über sein Gespräch mit Nagy am frühen Nachmittag des 3. Novembers berichtete. Trotz der immer aussichtsloser erscheinenden Lage versuchte Nagy jede Möglichkeit wahrzunehmen, um die politische Situation zu entspannen. Da er annahm, dass Erzbischof József Mindszenty "in reaktionärem Geiste auftreten" könnte, bat er die polnische Regierung, beim wieder in sein Amt eingesetzten Kardinal Stefan Wyszyn'ski zu erreichen, dass das Oberhaupt der polnischen Kirche "angemessenen Einfluß auf Mindszenty im Interesse der Verringerung der Spannungen in Ungarn ausübe". Der nächste Akt der "ungarischen Tragödie", die am frühen Morgen des 4. November beginnende (zweite) sowjetische Intervention zur endgültigen Niederschlagung der ungarischen Revolution, machte auch diese Bitte gegenstandslos.

Gomulka hielt aus eigenem Interesse eine Loslösung Ungarns aus der sowjetischen Interessensphäre für unzulässig, er konnte aber die sowjetische Intervention zur Niederwerfung der ungarischen Revolution nur schwer billigen. Dies lag unter anderem daran, dass Polen zwei Wochen zuvor ebenfalls der Gefahr einer militärischen Intervention entgegengeblickt hatte und zudem im Aufruf der PVAP an die ungarische Nation vom 28. Oktober das bewaffnete Auftreten der Sowjets in Budapest wenige Tage zuvor eindeutig verurteilt worden war. Die Veränderungen in Polen hatten zur Zeit des 8. Plenums des ZK der PVAP vom 19. bis 21. Oktober ihren Höhepunkt erreicht. Von da an bemühte sich die noch schwache neue Parteiführung darum, die gespannte Situation im Lande zu beruhigen und ihre eigene Position zu stabilisieren.

Gomulka nahm alles, was Chruschtschow am 19. und 20. Oktober in Warschau gesagt hatte, für bare Münze. Er war sich aber auch darüber im Klaren, dass die PVAP alleine, trotz der tatsächlichen - wie sich später herausstellte, nur vorübergehenden - Massenunterstützung, die sie damals genoss und die in der Geschichte der "volksdemokratischen" Länder einzigartig war, ohne die militärische Präsenz der Sowjetunion nicht in der Lage sein würde, ihre Alleinherrschaft zu bewahren. Diesen Umstand wollte er in einem polnisch-sowjetischen Vertrag mit rechtlichen Garantien regeln. (Ein derartiger Vertrag wurde schließlich Mitte November 1956 in Moskau unterzeichnet.) Außerdem war es eine Tatsache, dass alleine die Sowjetunion Garant der neuen, 1945 in Potsdam gezogenen polnischen Westgrenze war, und dass - abgesehen von aller offiziellen Propaganda - damals zweifellos in Deutschland territoriale Revisionsansprüche existierten, die für Polen eine Bedrohung darstellten. Diese Gefahr sowie die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution nutzte Gomulka im Herbst und Winter 1956 dazu, um seine Herrschaft zu konsolidieren. Es ging ihm in erster Linie darum, die vom östlichen Nachbarn gewährte "Unabhängigkeit" zu bewahren und so weit wie möglich auszuweiten, die Überreste der Stalin-Zeit zu beseitigen sowie dem sozialistischen Aufbau in Polen - unter dem Motto des "polnischen Wegs zum Sozialismus" - nationalen Charakter zu verleihen.

So beschränkte sich Gomulka am 4. November im Wesentlichen darauf, zu betonen, vollendete Tatsachen müssten zur Kenntnis genommen werden. Aufgrund dessen beschloss das sich nur wegen der "ungarischen Angelegenheit" versammelnde Politbüro der PVAP noch am Abend desselben Tages, dass der polnische Vertreter bei den Vereinten Nationen gegen den amerikanischen Beschlussentwurf, der die sowjetische Intervention verurteilte, Position zu beziehen habe.

Distanz zur Kádár-Regierung

Im Dezember 1956 verfestigte sich der offizielle polnische Standpunkt hinsichtlich der Beurteilung der Ereignisse in Ungarn. Die Position setzte sich aus zwei Komponenten zusammen. Im ersten Teil wurde die Notwendigkeit der sowjetischen Intervention vom 4. November - auch wenn das Eintreten dieses Ereignisses "zutiefst bedauert" wurde - in keiner Weise bestritten. Die Parteiführung war der Meinung, dass die Intervention ein unvermeidbares Übel gewesen sei. Sie habe verhindert, dass die "Reaktion" in Ungarn an die Macht gelangt sei, weil dies für alle sozialistischen Länder eine riesige Gefahr bedeutet hätte.

Der zweite Teil der Beurteilung war derjenige, durch den sich die polnische Führung klar von den anderen Staaten des Sowjetblocks unterschied. Während Letztere die ungarischen Ereignisse fast ausschließlich der "äußeren und inneren Reaktion" zuschrieben, stellte nach polnischer Meinung die Explosion in Ungarn das traurige Ergebnis der verbrecherischen und verzerrten Politik des bis Sommer 1956 amtierenden Generalsekretärs Mátyás Rákosi dar, der sich selbst als "bester ungarischer Schüler Stalins" bezeichnet hatte. Der "Zunder" für diese Entwicklung habe sich also im Laufe von Jahren angehäuft. Die anderen Bruderparteien sahen die Verantwortung hingegen ausschließlich bei systemfeindlichen Gruppen, also bei äußeren Faktoren, und lehnten jedes Eingeständnis von Fehlern der kommunistischen Partei bzw. Parteien grundsätzlich ab.

Obwohl Gomulka die politischen Schritte von Nagy in den ersten Novembertagen - insbesondere den Austritt aus dem Warschauer Pakt - scharf verurteilte, so beanstandete er doch entschieden die Absicht, den ungarischen Ministerpräsidenten und seine Weggefährten zur Verantwortung zu ziehen. Im Mai 1957 entschloss er sich zu einer Aktion, die kaum ein anderer kommunistischer Parteiführer unternommen hätte: Er intervenierte bei Chruschtschow. Zu diesem Schritt veranlasste Gomulka nicht etwa politische Übereinstimmung mit Nagy (er hielt ihn vielmehr für einen "Revisionisten"), sondern die Furcht vor einer Rückkehr zu alten politischen Praktiken, also der unter Stalin üblichen Methoden der physischen Vernichtung politischer Gegner, der auch er selbst beinahe zum Opfer gefallen wäre.

Fast gleichzeitig mit der Verkündung des Kampfes gegen den ideologischen Revisionismus durch die Führung der PVAP erreichte Warschau ein geheimes verschlüsseltes Telegramm aus Budapest von Willman. Daraus ging hervor, dass Nagy nach Budapest zurückgebracht worden sei und Vorbereitungen für einen Prozess getroffen würden. Eine Woche später reiste eine polnische Delegation unter Führung von Gomulka und Cyrankiewicz unter Vermeidung öffentlichen Aufsehens nach Moskau, um Fragen, die in Zusammenhang mit dem sowjetisch-polnischen Vertrag vom November 1956 noch offen oder strittig waren, zu klären.

Im Zuge der Verhandlungen brachte der polnische Erste Sekretär fast beiläufig die Angelegenheit von Imre Nagy zur Sprache. Gegen den anstehenden Prozess argumentierte er mit dessen politischer Schädlichkeit und der zu erwartenden internationalen Entrüstung und hob hervor, dass "Nagy mit aller Sicherheit kein imperialistischer Agent" gewesen sei. Aufgrund von Chruschtschows ablehnender Haltung versuchte Gomulka den ehemaligen ungarischen Ministerpräsidenten zudem noch mit dem Argument zu schützen, dass er, wenn er tatsächlich ein Verräter gewesen sei, alleine wohl kaum in der Lage gewesen wäre, die Entwicklung zu steuern und in allen Fragen Entscheidungen zu treffen. (Cyrankiewicz bemerkte, dass im Falle eines Sieges der Konterrevolution wohl auch Nagy hingerichtet worden wäre.) Doch die Intervention blieb ohne Ergebnis.

János Kádár, der von Moskau zum Ministerpräsidenten bestimmt worden war, wurde nach diesem Vorstoß, sollte er überhaupt Zweifel über die Position der polnischen Führung gehabt haben, von der negativen polnischen Haltung in Kenntnis gesetzt. Mikojan, Teilnehmer des polnisch-sowjetischen Treffens vom Mai 1957, teilte Kádár die von Gomulka gegenüber Chruschtschow zum Ausdruck gebrachten Auffassungen mit. Kádárs Missbilligung wurde noch dadurch gesteigert, dass die polnische Führung nicht nur im Interesse Nagys intervenierte (noch dazu in Moskau und nicht in Budapest), sondern auch seiner Einladung nach Budapest nicht folgte. Dieses Verhalten konnte Kádár durchaus als Zeichen dafür auffassen, dass ihn Gomulka nicht für eine "selbstständig" handelnde Persönlichkeit hielt.

Die offizielle Haltung Polens gegenüber der Kádár-Regierung wich von dem ab, was hinter den Kulissen geschah. Seit November 1956 hielt es die polnische Außenpolitik in Hinblick auf Ungarn - zuerst ohne ausgearbeitete Konzeption - für ihre wichtigste Aufgabe, unter Verzicht auf eine Bewertung der ungarischen Ereignisse mittels wirtschaftlicher Hilfe und internationaler politischer Unterstützung zur Festigung der Position der Kádár-Führung beizutragen. Dementsprechend traf sie - auf Drängen der ungarischen Regierung und trotz der schwierigen Wirtschaftslage in Polen - am 24. November 1956 die Entscheidung, Budapest eine nicht zurückzuzahlende Hilfe in Form von Waren in Höhe von 100 Millionen Zloty zu gewähren. Gleichzeitig sprach sich die Führung der PVAP dafür aus, auf der Ebene der offiziellen polnisch-ungarischen Beziehungen Abstand zu halten. Damit machte sie der Kádár-Regierung unmissverständlich deutlich, dass sie mit der gnadenlosen Vergeltungspolitik der im Dezember 1956 von Kádár als Nachfolgerin der MDP gegründeten Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) und mit dem von ihr praktizierten Terror gegen die Akteure der Revolution nicht einverstanden war. Kádár musste anderthalb Jahre warten, bis Gomulka zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Ungarn kam.

Epilog 1958

Die Hinrichtung von Imre Nagy und seiner Weggefährten im Juni 1958 führte in Warschau zu tiefer Bestürzung. Gomulka musste glauben, Kádár habe ihn hereingelegt, und sprach von niederträchtigem Mord. Nach damaligen Gerüchten hatte er bei seinem Besuch im Mai 1958 von Kádár das Versprechen erhalten, dass, wenn es einen Prozess gebe, keinesfalls Todesurteile gefällt würden. Die PVAP billigte weder den Prozess gegen Nagy noch die Methode, nach der dieser ablief, und verurteilte die Ereignisse intern. Trotzdem wollte sie keinesfalls in Gegensatz zu den übrigen Ländern des Sowjetblocks geraten.

Der Sommer 1958 war schon weit vom Herbst 1956 entfernt. In seiner Danziger Rede am 28. Juni 1958 ließ Gomulka keinen Zweifel offen und machte sich - im Zeichen des "politischen Pragmatismus" - nun ganz den offiziellen ungarischen Standpunkt bezüglich des Nagy-Prozesses zu Eigen. Die Führung der PVAP glaubte, dass mit der Danziger Rede die Frage der Beurteilung der ungarischen Revolution von 1956 erledigt sei. Sie wartete aber vergeblich darauf, dass die Menschen in Polen die Ereignisse vergessen würden.

Als es im Oktober 1981 in Polen zu einer Wiedererweckung der Ereignisse in Ungarn 25 Jahre zuvor kam, wurden jene dazu benutzt, die Gewerkschaft Solidarnos'c' und die polnische Gesellschaft mit dem Hinweis auf die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution abzuschrecken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Parole verdeutlichte, dass die Ungarn nicht blind das Vorbild anderer Länder kopieren wollten, sondern der Meinung waren, dass jede Nation ihren eigenen Weg einschlagen sollte. Der polnische General Bem, Beteiligter am polnischen Freiheitskampf 1830/1831, führte während der bürgerlich-nationalen Revolution 1848/1849 die ungarischen Truppen in Siebenbürgen gegen Österreicher und Russen.

  2. Vom 19. bis zum 21. Oktober 1956 fand in Warschau das 8. Plenum des ZK der PVAP statt. Dort kam es zu wichtigen Ereignissen: Im Schatten einer drohenden militärischen Intervention der Sowjetunion wurde eine neue Führung mit Wladyslaw Gomulka als Erstem Sekretär des ZK gewählt. Chruschtschow hielt diesen Schritt, der nicht mit der Sowjetunion abgestimmt worden war, für einen antisowjetischen Putsch. Er versuchte daraufhin, die Entscheidung rückgängig zu machen, musste ihr schließlich aber zustimmen. Die überwiegende Mehrheit der polnischen Gesellschaft hatte sich nämlich - gerade aufgrund der Drohungen des Kremls - hinter Gomulka gestellt. Dieser verkündete bedeutende Veränderungen und beendete diestalinistischen Methoden der kommunistischen Machtausübung in Polen.

  3. Oral History Archiv des 1956er Instituts (im Folgenden OHA), Interview Nr. 572 mit Emanuel Planer, damals Leiter der Informationsabteilung des Polnischen Radios, durchgeführt von János Tischler, 1993.

  4. Eine Auswahl von polnischen Dokumenten zur ungarischen Revolution von 1956, die der Verfasser erschlossen hat, wurde 1995 in polnischer und 1996 in ungarischer Sprache veröffentlicht. Die Quellen stammen in erster Linie aus dem Archiv der PVAP, aus den Archiven des Außen- und Innenministeriums sowie aus dem Zentralen Militärarchiv. In diesem Aufsatz stütze ich mich auf die ungarische Ausgabe des Dokumentenbandes: János Tischler (Hrsg.), Az 1956-os magyar forradalom lengyel dokumentumai [Polnische Dokumente der ungarischen Revolution von 1956], Budapest 1996. Alle folgenden Zitate und Bezugnahmen, die nicht anders gekennzeichnet sind, stammen aus diesem Band.

  5. OHA, Interview Nr. 571 mit Adam Willman, damals polnischer Botschafter in Budapest, durchgeführt von János Tischler, 1991.

  6. Szabad Nép vom 29.10. 1956.

  7. Vgl. Marcin Kula, Paryz, Londyn i Waszyngton patrzana paz'dziernik 1956 r. w Polsce [Paris, London und Washington blicken auf Polen im Oktober 1956], Warschau 1992, S. 140.

  8. Vgl. János Tischler, Lengyel szemmel 1956-ról. Interjú Artur Starewiczcsel, a LEMP KB Sajtóirodájának egykori vezetöjével [Über 1956 aus polnischer Perspektive. Interview mit Artur Starewicz, damaliger Leiter des Pressebüros der PVAP], in: Múltunk, 37 (1992) 2 - 3, S. 278 - 279.

  9. Archiwum Polskiego Radia i Telewizji [Archiv des Polnischen Radios und Fernsehens], Polityczne Nagrania Archiwalne [Archiv Politische Aufnahmen], 4351/3, Muzyka i Aktualnos'ci [Musik und Aktuelles], 30.10. 1956.

  10. Die sowjetische Delegation schickte aus Brest eine telefonische Nachricht über das Treffen nach Moskau, laut der "keine vollständige Übereinkunft erzielt wurde". Die Polen würden die Meinung vertreten, dass es sich um eine innere Angelegenheit Ungarns handle und eine Intervention nicht zulässig sei. Allerdings breite sich auch ihrer Meinung nach die Reaktion in Ungarn aus. Vgl. Vjacseszlav Szereda/János M. Rainer (Hrsg.), Döntés a Kremlben, 1956. A szovjet pártelnökség vitái Magyarországról [Entscheidung im Kreml 1956. Die Diskussionen über Ungarn innerhalb des sowjetischen Parteipräsidiums], Budapest 1996, S. 66.

  11. OHA, Interview Nr. 473 mit Jerzy Morawski, damals Mitglied des Politbüros der PVAP, durchgeführt von János Tischler, 1991.

  12. Der konservativ-monarchistisch gesinnte Mindszenty war Ende 1948 als "Gegner des Kommunismus" verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Im Zuge der Revolution kam er im Oktober 1956 wieder frei.

  13. Der Pragmatismus von Kardinal Wyszynski, der gerade aus mehrjährigem Hausarrest entlassen worden war, zeigte sich im Herbst 1956 daran, dass er sich - im Bewusstseins der Interessen des Landes und der Notwendigkeit der Bewahrung des sozialen Friedens - auf die Seite von Gomulka stellte. Wyszynski neigte immer, wenn die Lage es erforderte, zu einer Übereinkunft mit der kommunistischen Macht, ohne jedoch seine Grundprinzipien aufzugeben. Dieser flexiblen, gleichzeitig aber auch entschiedenen Politik ist es zu verdanken, dass die katholische Kirche immer eine bedeutende Kraft gegenüber der Führung der PVAP blieb.

  14. Gomulka brachte diesen offiziellen Standpunkt - mit unwesentlichen Veränderungen - auf den im Dezember 1956 abgehaltenen Parteiaktivisten-Sitzungen in Warschau und in den Woiwodschaften, die zur Diskussion der neuen Politik nach dem 8. Plenum der PVAP einberufen worden waren, bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck.

  15. Vgl. János Tischler, Egy 1957. májusi lengyel követjelentés Budapestrol [Ein polnischer Botschafterbericht aus Budapest vom Mai 1957], in: Népszabadság vom 13.2. 1993.

  16. Vgl. Magdolna Baráth/Zoltán Ripp (Hrsg.), AMagyar Szocialista Munkáspárt ideiglenes vezeto testületeinek jegyzokönyvei [Protokolle der provisorischen Führungsgremien der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei], Bd. 4, Budapest 1994, S. 260.

  17. OHA, Interview Nr.572 (Anm.3).

Ph. D., geb. 1967; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Ungarischen Revolution 1956 (1956er Institut), Budapest.
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