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Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen | Parteiendemokratie | bpb.de

Parteiendemokratie Editorial Abstieg der Parteiendemokratie Große Koalition: 1966 und 2005 Auswirkungen der Großen Koalition auf das Parteiensystem Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen Schwarz-Grün auf Bundesebene - Politische Utopie oder realistische Option? Populismus im Parteiensystem in Deutschland und den Niederlanden

Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen

Frank Decker

/ 17 Minuten zu lesen

Die Etablierung eines Fünf-Parteien-Systems lässt es künftig wohl nicht mehr zu, auf Bundesebene Zweier-Koalitionen zu bilden. Die Anbahnung von Dreier-Koalitionen droht an Differenzen der Parteien zu scheitern.

Einleitung

Es gehört zu den politikwissenschaftlichen Binsenwahrheiten, dass der Charakter eines Regierungssystems maßgeblich von den Strukturen des Parteiensystems bestimmt wird, die innerhalb der von der Verfassung konstituierten Staatsorgane wirken und deren Funktionieren prägen. Als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft und Vermittler im institutionellen Gefüge sind die Parteien die eigentlichen Träger des Regierungsprozesses. Dies gilt insbesondere für die parlamentarischen Systeme, deren - auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition basierende - Funktionslogik ohne ideologisch und organisatorisch festgefügte Parteien nicht vorstellbar wäre.



Die konkrete Ausprägung der parlamentarischen Funktionslogik unterscheidet sich unter den Regierungssystemen allerdings erheblich. Folgt man der Demokratietypologie des niederländischen Politikwissenschaftlers Arend Lijphart, hängt sie zum einen vom Vorhandensein und der Stärke der institutionellen Vetospieler ab, die den Handlungsspielraum der parlamentarisch bestellten Regierungsmehrheit begrenzen. Handelt es sich dabei um Institutionen, die sich auf eine unmittelbare oder mittelbare demokratische Legitimation stützen können, sind auch im parlamentarischen System Konstellationen eines "divided government" vorstellbar, bei der die an der Gesetzgebung beteiligten Organe von unterschiedlichen Parteien kontrolliert werden. Beispiele sind die "cohabitation" im semi-präsidentiellen Regierungssystem der Fünften Französischen Republik oder der Dualismus von Regierungsmehrheit und Bundesrat im deutschen "Parteienbundesstaat".

Zum anderen stellt sich die Frage, ob und wieweit die Macht innerhalb der parlamentarisch bestellten Regierung zwischen verschiedenen Parteien geteilt ist. Auch hier gibt es unter den parlamentarischen Systemen ein weites Spektrum, das bei den einfarbigen Regierungen im britischen Westminster-Parlamentarismus beginnt und bis zu einer verkappten Allparteienkoalition reichen kann. Je mehr Parteien an einer Koalition beteiligt sind und je größer der Stimmen- bzw. Mandatsanteil ausfällt, über den sie gemeinsam verfügen, umso stärker weicht das System von der Lehrbuchvorstellung des "alternierenden" Regierungsmodells ab, das in annähernder Reinform nur in Großbritannien und den sogenannten Westminster-Demokratien verwirklicht ist. Das alternierende Modell basiert auf dem Gegenüber von zwei großen Parteien, die sich in der Übernahme der Regierungsmacht ablösen. Dies gibt dem Wähler einen denkbar großen Einfluss, da er durch seine Entscheidung einen vollständigen Regierungswechsel herbeiführen kann. In den Konsenssystemen kommen solche vollständigen Wechsel dagegen nur im Ausnahmefall vor. Hier sorgt der Zwang zur Koalition zwar für eine größere Repräsentativität der Regierungspolitik, doch wird der Einfluss des Wählers auf die Regierungsbestellung gerade dadurch begrenzt. Die richtigen Folgerungen aus dem Wahlergebnis zu ziehen, bleibt zumeist ganz den Parteien bzw. Parteiführungen überlassen, die nach dem Wahltag über die Regierungsbildung verhandeln.

Anders als in der Literatur gelegentlich behauptet, wird das Wettbewerbsprinzip, auf dem die parlamentarische Parteiendemokratie wesensmäßig basiert, durch den Konsensualismus nicht aufgehoben, sondern lediglich "transformiert". An die Stelle des gegnerschaftlichen Antagonismus zweier politischer Lager tritt eine Vielzahl miteinander rivalisierender Parteien, die gleichwohl in der Lage sein müssen, in einer möglichen gemeinsamen Regierung vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Im Unterschied zum mehrheitsdemokratischen Westminster-System wird der Wettbewerb in den Konsensdemokratien deshalb nicht ausschließlich vom Gegensatz zwischen Regierung und Opposition beherrscht. So wie die Koalitionsparteien innerhalb der Regierung weiter Konkurrenten bleiben, können auf der anderen Seite die Oppositionsparteien nach Bedarf in die Regierungszusammenarbeit einbezogen werden. In dieser Hinsicht am weitesten geht das in den skandinavischen Ländern verbreitete Modell der Minderheitskabinette, das die Regierungsparteien auch institutionell auf die Unterstützung eines Teils der Opposition angewiesen macht.

Vom Vielparteiensystem zum Bipolarismus

Das deutsche Regierungssystem wird in der politikwissenschaftlichen Komparatistik üblicherweise als Mischform zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie eingestuft. Für die konsensuellen Elemente zeichnet insbesondere die stark ausgeprägte konstitutionelle Gewaltenteilung verantwortlich. Nicht nur, dass die Bundesrepublik über ein mit Normenkontrollbefugnis ausgestattetes Verfassungsgericht verfügt, das im Vergleich der westlichen Demokratien zu den stärksten seiner Art zählt. Auch der Bundesrat übt als zweite parlamentarische Kammer erheblichen Einfluss auf die Regierungspolitik aus, indem er im überwiegenden Teil der Gesetzgebungsverfahren gleichberechtigt mitwirkt. Die gestiegene Macht des Bundesrates liegt zum einen in der Entwicklung des föderalen Systems begründet, das die Kompetenzen der Länder zugunsten des Bundes immer mehr ausgezehrt und die Länder dafür mit zusätzlichen Beteiligungsrechten in der Zweiten Kammer entschädigt hat. Zum anderen hängt sie mit dem Umstand zusammen, dass die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse zwischen beiden Kammern seit den 1970er Jahren zunehmend auseinander fielen. Aufgrund der geringen Bedeutung der Landespolitik konnten die Wähler die Gelegenheit der Landtagswahlen zur kostengünstigen Abmahnung der gerade amtierenden Bundesregierung nutzen, die ihre Position in der Länderkammer dadurch systematisch verschlechterte.

Der so entstehende Konsensbedarf hätte leicht befriedigt werden können, wenn das parlamentarische System ebenfalls auf ein konsensuelles Zusammenwirken der politischen Akteure programmiert gewesen wäre. Legt man die Lijphart'schen Unterscheidungskriterien zugrunde, erfüllt die Bundesrepublik die Kriterien einer Konsensdemokratie (Koalitionsregierung, exekutiv-legislative Gewaltenteilung und Mehrparteiensystem) hier allerdings nur formell. Auf einem Kontinuum müsste sie mit ihrem dualistisch strukturierten und stark gegnerschaftlich ausgerichteten Parteienwettbewerb eher in der Nähe der Mehrheitsdemokratie angesiedelt werden. Die daraus resultierenden Regierungsprobleme, die von der Politikwissenschaft bereits in den siebziger Jahren hellsichtig analysiert wurden, hat Fritz Scharpf einmal in das schöne Bild gefasst, wonach die Parteien hierzulande gleichzeitig aufeinander einschlagen (auf der parlamentarischen Ebene) und miteinander kooperieren sollen (auf der föderalen Ebene).

Dass die Entwicklung des Parteiensystems die Herausbildung eines Westminster-ähnlichen Regierungsmodells ermöglichen würde, war bei Gründung der Bonner Republik noch nicht absehbar. So wie es sich mit der ersten Bundestagswahl 1949 herauskristallisierte, stand dieses System noch weitgehend in der Tradition von Weimar. Erst in den fünfziger Jahren sollte es sich in Richtung jener Zweieinhalb-Parteien-Struktur entwickeln, die bis zu Beginn der achtziger Jahre Bestand hatte. Die FDP übernahm dabei im Wettbewerb zwischen den beiden großen Parteien die Funktion eines Scharniers, das den Regierungswechsel zweimal (1969 und 1982) ermöglichte. Das Standardmodell der "kleinen Koalition", dem die jeweils andere Volkspartei als annähernd gleich starke Opposition gegenüberstand, wurde nur im Zeitraum 1966 bis 1969 vorübergehend verlassen. Auch wenn dieses Modell keinen perfekten Dualismus begründete, sorgte es doch dafür, dass sich die Bundestagswahlen zu quasi-plebiszitären Regierungs- oder Kanzlerwahlen herausbildeten. Union und SPD trugen dem Rechnung, indem sie die Wahlen zu einer grundlegenden Richtungsentscheidung stilisierten und ihre jeweiligen Kanzlerkandidaten prominent hervorhoben. Die Parteien blieben bei der Regierungsbildung zwar insoweit autonom, als sie sich auf die angestrebten Koalitionen vorab nicht immer klar festlegten. Dies ermöglichte 1966 die Bildung der Großen Koalition ohne vorherige Neuwahl und erleichterte nach der Bundestagswahl 1969 das Zusammengehen von SPD und FDP. Dass ein Regierungswechsel ohne oder gegen eine solche Festlegung nur unter hohen Risiken durchführbar ist, zeigte sich allerdings bei der "Wende" 1982/83, als vorgezogene Neuwahlen anberaumt werden mussten, um die mit Hilfe der FDP ins Amt gekommene neue Regierung unter Helmut Kohl nachträglich zu legitimieren.

Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag begann 1983 eine neuerliche Pluralisierungsphase, die zur Herausbildung zunächst einer Vier-Parteien-Struktur und dann - durch das Hinzutreten der PDS im Zuge der deutschen Vereinigung - einer Fünf-Parteien-Struktur führte. Für das parlamentarische Wettbewerbsmodell hatte das ambivalente Folgen. Einerseits wurde der Dualismus weiter verstärkt, weil sich die Grünen koalitionspolitisch einseitig in Richtung SPD orientierten, während die ihrer Scharnierfunktion beraubten Liberalen im Gegenzug noch enger an die Union gebunden wurden. Es entstanden also zwei fest gefügte Lager, die sich als klar unterscheidbare Alternativen gegenübertraten. Auf diese Weise konnte 1998 zum ersten Male ein kompletter Regierungswechsel ausschließlich von Wählerhand herbeigeführt werden.

Andererseits sorgte das Auftreten der PDS dafür, dass die Bildung einer Regierung nach dem vertrauten Muster schwieriger wurde. 1994, 1998 und 2002 blieben die Postkommunisten noch zu schwach, um das Zustandekommen einer kleinen Koalition zu vereiteln, was aber schon hier nur um Haaresbreite - und dank der institutionellen Zufälligkeit der Überhangmandate - gelang. Die erfolgreiche Etablierung einer gesamtdeutschen Linkspartei führte schließlich dazu, dass es bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 für keines der beiden Lager (SPD/Grüne und Union/FDP) mehr zur Mehrheit reichte. Obwohl man diese Entwicklung hätte vorausahnen können, traf sie die politische Klasse unvorbereitet. Ihre Konsequenz war die Bildung einer Großen Koalition, in die sich die Volksparteien im Unterschied zu 1966 jedoch nur widerstrebend fügten. Wie schwer ihnen die Abkehr vom dualistischen Modell fiel, zeigte sich daran, dass am Wahlabend auch über andere Regierungsformate offen spekuliert wurde. Diese waren zuvor noch mit einem Tabu belegt worden, weil sie der Stabilitätsorientierung des parlamentarischen Systems scheinbar widersprachen. Auch auf der Länderebene hatte man sie nirgendwo mit Erfolg ausprobiert. Die absehbare Konsolidierung der Fünf-Parteien-Struktur dürfte insofern für die Funktionsweise des bundesdeutschen Parlamentarismus weitreichende Folgen haben. Sie zwingt die Parteien zu einem flexibleren Koalitionsverhalten und könnte so den Übergang zu einen kooperativeren, weniger wettbewerbsorientierten Regierungsstil einleiten. Die Bundesrepublik würde damit auf der Lijphart-Skala näher an die konsensdemokratischen Systeme heranrücken.

Koalitionen und Regierungsformate in den Ländern

Eine Analyse der Parteiensystementwicklung und ihrer Folgen für die Regierungsbildung muss zwingend auch die Länderebene mit in den Blick nehmen. Ein Grund dafür wurde bereits genannt: Indem sie über die Zusammensetzung der Zweiten Kammer entscheiden, wirken Landtagswahlen sich unmittelbar auf die Regierungspolitik aus. Der andere Grund ist noch wichtiger. Die Existenz einer zweiten staatlichen Ebene ermöglicht es, Entwicklungen in der Bundespolitik vorwegzunehmen. So wie die Oppositionsparteien ihre Regierungsfähigkeit vor der Wählerschaft demonstrieren können, wenn sie in den Ländern (mit)regieren, so werden auch Koalitionen und Regierungsformate in der Regel über die Länderpolitik angebahnt. Diese fungiert also als eine Art Versuchslabor, um die neuen Modelle serienreif (oder "salonfähig") zu machen.

Bei der Analyse der Regierungsmodelle sind drei Ebenen auseinanderzuhalten. Erstens geht es um die parteipolitische Zusammensetzung möglicher Koalitionen, zweitens um den Regierungs- bzw. Koalitionstypus (Alleinregierung, kleine Koalition oder Große Koalition) und drittens um das Regierungsformat (Minderheits- oder Mehrheitsregierung).

Ein Vergleich der Koalitionstypen und Regierungsformate in Bund und Ländern offenbart interessante Unterschiede. Konnte sich das mehrheitsdemokratische Modell auf der Bundesebene schon 1949 durchsetzen und - von der kurzzeitigen Ausnahme der ersten Großen Koalition (1966 - 1969) abgesehen - bis 2005 behaupten, so standen auf der Länderebene im Zeitraum 1946 bis 1955 dem "Normalfall" einer Alleinregierung (fünf Fälle) oder kleinen Koalition (neun Fälle) immerhin zehn Große Koalitionen und 11 (!) Allparteienregierungen ohne numerisch ernst zu nehmende Opposition gegenüber, die dem Prinzip der alternierenden Regierung widersprachen. Die Angleichung an das mehrheitsdemokratische Modell des Bundes erfolgte in schnellen Sprüngen ab Mitte der fünfziger Jahre. Dabei spielte auch das Interesse der Bundesregierung eine Rolle, die Koalitionen in den Ländern weitmöglichst "gleichzuschalten", um die Durchsetzung ihrer Politik im Bundesrat sicherzustellen. Ihrem Höhepunkt strebte diese Entwicklung im April 1972 zu. Nach dem Ende der Großen Koalition in Baden-Württemberg gab es ab diesem Zeitpunkt in den Ländern nur noch Einparteienregierungen (acht Fälle) oder kleine Koalitionen (drei Fälle), die alle entweder dem Regierungs- oder Oppositionslager des Bundes zuzurechnen waren. Zu einer "gemischten" Koalition kam es erst wieder 1977 (CDU/FDP in Niedersachsen), zu einem vom mehrheitsdemokratischen Modell abweichenden Regierungsformat sogar erst 1981 (CDU-Minderheitssenat in Berlin).

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Normierung des mehrheitsdemokratischen Modells in den Länderverfassungen (durch die Einfügung sogenannter "Oppositionsklauseln") zu einem Zeitpunkt erfolgte, als das bundesdeutsche Parteiensystem in eine neue Phase der Fragmentierung eintrat. Existierten in der Hochzeit der Stabilität in den siebziger Jahren gerade mal drei Regierungs- bzw. Koalitionstypen und Regierungsformate, so waren es von 1990 bis 2007 bereits zwölf. Von den insgesamt 283 Regierungsjahren in den Ländern entfielen in diesem Zeitraum 102 auf Unions- bzw. SPD-Alleinregierungen, 125 auf kleine Koalitionen (in acht verschiedenen Varianten), 49 auf Große Koalitionen und sieben auf Minderheitsregierungen. Die vom Mehrheitsmodell abweichenden Regierungsformate machten damit immerhin ein Fünftel aller Fälle aus. Die Pluralisierung schlug sich auch darin nieder, dass in 87 Regierungsjahren "gemischte" Koalitionen im Amt waren, die nicht den Mehrheitskonstellationen auf Bundesebene entsprachen.

Auffällig ist, dass sich unter den kleinen Koalitionen lediglich zwei Fälle eines Dreier-Bündnisses befinden (die Ampelkoalitionen von SPD, Grünen und FDP in Brandenburg 1990 bis 1994 und Bremen 1991 bis 1995 sowie das Rechtsbündnis von CDU, Schill-Partei und FDP in Hamburg 2001 bis 2004), die zudem alle nur kurzzeitig amtierten bzw. vor dem regulären Ende der Legislaturperiode zerbrochen sind. Diese geringe Zahl ist deshalb bemerkenswert, weil die durch das Hinzutreten der PDS in den neunziger Jahren entstandene Fünf-Parteien-Struktur die Bildung von Zweier-Koalitionen eigentlich hätte erschweren müssen. Hinter der Fünf-Parteien-Struktur verbergen sich allerdings ganz unterschiedliche Muster in den alten und neuen Bundesländern, die Zweier-Koalitionen in beiden Fällen weiter erlaubten: Im Osten konnten CDU, SPD und die hier annähernd gleich starke PDS die Koalitionen aufgrund der Schwäche der kleinen Parteien weitgehend unter sich ausmachen. Und im Westen, wo die Postkommunisten bis 2005 über den Status einer Splitterpartei nicht hinausgelangt waren, ist es bei der grundsätzlichen Alternative zwischen einer bürgerlichen Koalition (Union/FDP) oder Rot-Grün geblieben. Letzteres könnte sich ändern, wenn die neu formierte Linke den Sprung in die Landesparlamente auch in den westlichen Bundesländern schafft, was ihr - unter den vergleichsweise günstigen Bedingungen eines Stadtstaates - bisher nur in Bremen gelungen ist. Ob es nach den im nächsten Jahr anstehenden Landtagswahlen in Hamburg, Hessen und Niedersachsen zu Dreier-Bündnissen kommt, ist von daher keineswegs ausgemacht. Damit könnte auch eine Gelegenheit verpasst werden, solche Bündnisse in einem Testlauf für die Bundespolitik auszuprobieren. Nachdem die Westausdehnung der PDS die Linke auf der gesamtstaatlichen Ebene als feste Größe etabliert hat, ist die Koalitionsbildung ausgerechnet hier am kompliziertesten! Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik war es deshalb so schwierig vorauszusagen, welche Parteienkonstellation das Land nach der kommenden Bundestagswahl regieren wird.

Große Koalition ohne Alternative?

Dass die Zustimmungswerte der seit Ende 2005 amtierenden Großen Koalition rasch in den Keller gefallen sind, hat weniger mit den Leistungen der Regierung zu tun als mit deren Auftreten - immerhin steht die Bundesrepublik 2007 gemessen an den makroökonomischen Indikatoren so gut da wie seit sieben Jahren nicht mehr. Obwohl (oder gerade weil) sich die ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien abgeschliffen haben und heute geringer sind als zu Zeiten der ersten Großen Koalition, waren die Partner jedoch nicht bereit, ihre in Jahrzehnten aufgebaute gegnerschaftliche Orientierung abzulegen. Deshalb beharkten sie sich auch dort, wo vorhandene Erfolge der Regierungspolitik eine gemeinsame Darstellung nach außen nahe gelegt hätten. Die Folge war, dass die anfänglich guten Vertrauensbeziehungen innerhalb der Koalition (insbesondere zwischen Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Müntefering) dahinschwanden und die Zusammenarbeit schwieriger wurde. Das Bedürfnis nach eigener Profilierung erfasste die SPD dabei in höherem Maße als die Union. Während letztere vom Bonus der Kanzlerpartei profitierte, verstärkte die neue Konkurrenz der Linkspartei unter den Sozialdemokraten das Gefühl, dass man in der Großen Koalition nicht viel zu gewinnen habe. Auf beiden Seiten mehrten sich deshalb ab Mitte der Legislaturperiode die Stimmen, die für die Zeit nach 2009 laut über neue Koalitionsmöglichkeiten nachdachten.

Die strategische Ausgangslage war und ist dabei für die beiden großen Parteien unterschiedlich: Weil die SPD durch die Herausforderung von links gegenüber der Union in eine Minderheitsposition zu geraten droht, ist für sie der Anreiz, aus der Großen Koalition auszusteigen, größer als bei CDU und CSU, die bei einer Fortsetzung des Bündnisses als stärkste Partei vermutlich auch nach 2009 die Kanzlerin stellen könnten. Umgekehrt verfügt die Union im heutigen Parteiensystem über weniger Koalitionsoptionen als die Sozialdemokraten. Legt man die bisher geschlossenen Bündnisse (in Bund und Ländern) zugrunde, kann sie lediglich mit der SPD und der FDP regieren, während die SPD in der Vergangenheit auch mit den Grünen und - auf Landesebene - mit der PDS/Linkspartei koaliert hat. Unterstellt, dass es für eine bürgerliche oder rot-grüne Koalition nach dem alten Muster 2009 nicht mehr reicht, stellt sich die Diskussion um mögliche Dreier-Bündnisse vor diesem Hintergrund wie folgt dar: - Eine Linkskoalition aus SPD, Grünen und Linkspartei kann politisch ausgeschlossen werden. Nicht nur in der Außen-, sondern auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik bestehen zwischen Rot-Grün und der Linken so große inhaltliche Unterschiede, dass eine Zusammenarbeit für jeden der drei Partner nur um den Preis einer schweren innerparteilichen Zerreißprobe denkbar wäre. Auch käme die (heute bestehende) rechnerische Mehrheit für ein solches Bündnis womöglich gar nicht zustande, wenn dieses tatsächlich in Aussicht stünde. Die Debatte darüber wird dennoch weitergehen. Insbesondere der SPD dürfte es schwer fallen, sie zu ersticken, nachdem sie in den neuen Bundesländern mehrfach Koalitionen mit der PDS eingegangen ist und aktuell eine solche Koalition in Berlin besteht. Dass entsprechende Begehrlichkeiten auch in den westlichen Ländern entstehen, lässt sich kaum vermeiden. So gesehen ist es für die Parteiführung um Kurt Beck zur Zeit eher hilfreich, dass die neue Konkurrenz ausgerechnet vom früheren SPD-Vorsitzenden Lafontaine angeführt wird, der auch für die meisten Linken in der SPD "persona non grata" ist.

- Politisch wahrscheinlicher, aber ebenfalls schwer vorstellbar, ist eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Auch hier klaffen zwischen Rot-Grün und der koalitionspolitisch eher auf die Union abonnierten FDP programmatisch wie habituell große Lücken, die erst überbrückt werden müssten. Entsprechend negativ waren die Erfahrungen mit den Ampelkoalitionen in Brandenburg und Bremen, die in beiden Ländern keine Neuauflage erfuhren. Eine "rote Ampel" hätte zudem den Nachteil, dass sie kaum regierungsfähig wäre. Im Bundesrat könnte sie nach heutigem Stand lediglich auf sieben Stimmen rechnen. Ob eine aus der Regierung herauskatapultierte Union geneigt wäre, mit ihr konstruktiv zusammenarbeiten, darf nach den Erfahrungen der Vergangenheit bezweifelt werden. Dies gilt umso mehr, als die Föderalismusreform die Beteiligungsposition des Bundesrates wider Erwarten nur unwesentlich beschnitten hat. - Die Konstellation, die die Phantasie der politischen Beobachter zur Zeit am meisten beflügelt, ist die so genannte "Jamaika-Koalition". Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Schwarz-Gelb-Grün selbst auf der kommunalen Ebene als Regierungsmodell kaum verbreitet ist (während schwarz-grüne Zweier-Koalitionen heute in immerhin rund zwei Dutzend Gemeinden existieren). Die Annäherung von Union und Grünen hat in erster Linie strategische Gründe, gibt sie doch beiden Parteien die Chance, ihre Bündnisoptionen zu erweitern. Politikinhaltlich erscheint ein Zusammengehen der beiden bürgerlichen Parteien mit den Grünen allerdings noch weniger tragfähig als ein rot-gelb-grünes Dreier-Bündnis. Auf der Unionsseite gehen die Reserven dabei in erster Linie von der Parteibasis und konservativen Kernklientel aus, die die Grünen zu großen Teilen immer noch als "Kulturschock" (Edmund Stoiber) empfinden. Bei der Ökopartei bestehen die Bedenken dagegen eher unter den Funktionären und an der Parteispitze. Hier herrscht die Sorge, dass man in einer Jamaika-Koalition seiner Identität beraubt und zum bloßen Mehrheitsbeschaffer der bürgerlichen Parteien degradiert würde.

Wenn der Rückweg zum alten Modell der Zweier-Koalitionen durch das erwartbare Wählerverhalten versperrt ist, anderweitige Dreier-Koalitionen aber politisch (noch) nicht funktionieren, bleiben letztlich nur zwei Alternativen. Einen Ausweg aus der Koalitionsproblematik könnten erstens Minderheitsregierungen bieten. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen verständlich, hat dieses aus den skandinavischen Ländern geläufige Modell in der parlamentarischen Kultur der Bundesrepublik allerdings keine Wurzeln geschlagen. Das Dogma der stabilen Mehrheitsregierung scheint hierzulande in der Wirkung ungebrochen. Symptomatisch dafür sind das Scheitern des "Magdeburger Modells" in Sachsen-Anhalt, dem auch der Mainstream der Politikwissenschaft nicht viel abzugewinnen mochte, oder die Reaktionen auf die angekündigte Duldung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch den Südschleswigschen Wählerverband nach der letzten Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Wie vor diesem Hintergrund eine Minderheitsregierung auf Bundesebene zustande kommen sollte, bleibt ein Rätsel.

Die zweite Alternative könnte man als österreichische Lösung bezeichnen; sie läuft auf die Perpetuierung der Großen Koalition als Regierungsmodell hinaus. Dieses Szenario mag für die Bundestagswahl 2009 zur Zeit das realistischste sein, doch ist es zugleich das aus demokratischer Sicht am wenigsten vorzugswürdige. Denn indem sie die Gewaltenbalance zugunsten der Regierung verschiebt, unterminiert die Große Koalition wesentliche Funktionsprinzipien des Parlamentarismus. Im deutschen Fall zeigt sich das z.B. darin, dass die Oppositionsparteien auch zusammengenommen nicht in der Lage sind, ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anzustrengen, weil sie das dazu nötige Quorum verfehlen. Andererseits nährt gerade die Übermacht der Regierung den elektoralen Erfolg der Oppositionsparteien. Wie der Aufstieg Jörg Haiders in Österreich gezeigt hat, können davon auch die politischen Ränder profitieren. Insofern stellt sich die Frage, ob man das Fehlen des normalen demokratischen Wechselspiels bei einer Großen Koalition nicht durch anderweitige Formen der Kontrolle auffangen müsste. Für die Bundesrepublik wäre hier z.B. an die Einführung bzw. Verstärkung plebiszitärer Beteiligungsrechte zu denken, die bislang lediglich auf der kommunalen und Länderebene vorgesehen sind.

Schlussbemerkung

Auch in einem System flexibler Koalitionen, in dem die Große Koalition nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, geht der Einfluss des Wählers zurück. Politiker gefallen sich ja vorzugsweise an Wahlabenden gerne darin, das Volk als "Souverän" zu titulieren. Bezogen auf die Regierungsbildung sind in einem Vielparteiensystem aber nicht die Wähler der eigentliche Souverän, sondern die Parteien bzw. Parteiführungen, die über die Koalitionen entscheiden. Was aus der demokratischen Sicht des Wählers geboten wäre - die gewünschten oder nicht auszuschließenden Allianzen schon vorab anzuzeigen -, verbietet sich dabei für die Parteien zumeist aus strategischer Sicht. Einerseits könnte man durch eine solche Festlegung potenzielle Wähler abschrecken, andererseits eine mögliche Handlungsoption aus der Hand geben.

So wie die Parteien ihr strategisches Verhalten anpassen, so werden sich auch die Bundesbürger an die neue Situation des Fünf-Parteien-Systems gewöhnen müssen. "Da nahezu jede Koalition denkbar wird, ist die Abgabe der Stimme künftig etwa so, als würde man eine Flaschenpost ins Meer werfen. Man weiß nicht, wo sie ankommt."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Arend Lijphart, Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, New Haven-London 1999.

  2. Frank Decker, Post-parlamentarisches Regieren, Entscheidungsblockaden und populistische Reaktion. Der fehlgeleitete Konsensualismus des deutschen "Parteienbundesstaates", in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie Band 17, Baden-Baden 2005, S. 40ff.

  3. Vgl. Kaare Str?m, Minority Government and Majority Rule, Cambridge 1990.

  4. Vgl. Everhard Holtmann/Helmut Voelzkow (Hrsg.), Zwischen Wettbewerbs- und Konsensdemokratie. Analysen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2000.

  5. Vgl. Frank Decker, Höhere Volatiliät bei Landtagswahlen? Die Bedeutung bundespolitischer "Zwischenwahlen", in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2006, S. 259 - 279.

  6. Vgl. A. Lijphart (Anm. 1), S. 90ff.

  7. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Stuttgart u.a. 1976.

  8. Vgl. Fritz Scharpf, Die Malaise der deutschen Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 6. 1997.

  9. Vgl. Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2002, in: Ders. (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003, S. 19ff.

  10. Vgl. die Übersicht bei Ludger Helms, Regierungsorganisation und politische Führung in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 96.

  11. Vgl. Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Paderborn 2004, S. 388ff.

  12. Vgl. Frank Decker, Parteiendemokratie im Wandel, in: Ders./Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 22ff.

  13. Vgl. Frank Decker, Die Zäsur. Konsequenzen der Bundestagswahl 2005 für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in: Berliner Republik, 7 (2005) H.5, S. 66 - 71.

  14. Vgl. Uwe Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen, Dokumentation und Analyse der Koalitionsbildungen auf Länderebene seit 1949, Opladen 1994, S. 100ff.

  15. Zur ersten Großen Koalition vgl. Klaus Hildebrand, Die erste Große Koalition 1966 bis 1969. Gefährdung oder Bewährung der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 37 (2006) H.3, S. 611 - 625.

  16. Für eine stark formalisierte Darstellung der "wahrscheinlichen" und "unwahrscheinlichen" Koalitionen, deren Schlussfolgerungen jedoch angesichts des betriebenen Aufwands äußerst vage bleiben, vgl. Eric Linhart, Ampel, Linkskoalition und Jamaika als Alternativen zur großen Koalition, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung - Arbeitspapiere 91/2005.

  17. So der zutreffende Hinweis an die Adresse der SPD von Heinrich August Winkler. Vgl. Ders., Gelassen bleiben. Die SPD muss der Versuchung widerstehen, die Linkspartei links zu überholen, in: Die Zeit vom 12. 7. 2007, S. 5.

  18. Vgl. Föderalismusreform verfehlt ihr Ziel, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. 1. 2007.

  19. Vgl. Hubert Kleinert, Schwarz-Grün erweitert Optionen. Zur Auflösung ideologischer Tabus, in: Die Politische Meinung, 49 (2004) Nr.413, S. 69 - 74.

  20. Vgl. z.B. Werner J. Patzelt/Roland Schirmer, Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 27 (1996), S. 20 - 28. Für die Gegenposition siehe Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung. Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997) H. 3, S. 391 - 407.

  21. Vgl. Uwe Thaysen, Regierungsbildung 2005. Merkel, Merkel I, Merkel II?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37 (2006) H. 3, S. 608ff.

  22. Vgl. Frank Decker, Plebiszitäre Elemente ins Grundgesetz? Anmerkungen zu einer stagnierenden Debatte, in: MUT. Forum für Kultur, Politik und Geschichte, 42 (2007) Nr.479, S. 6 - 16.

  23. Der Herr der Wirrungen, in: Der Spiegel vom 9. 7. 2007, S. 34.

Dr. rer. pol., geb. 1964; Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn, Lennéstr. 27, 53113 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: Frank.Decker@uni-bonn.de