Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Generation HK" | Hongkong | bpb.de

Hongkong Editorial Die unvollendete Revolution "Generation HK". Protest und Identität in Hongkong Die Schattenseite der Protestbewegung. Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren Ein Land, zwei Systeme. Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts Widerspenstig, aber unverzichtbar. Wirtschaftsstandort Hongkong Zur Geschichte Hongkongs Nationalkino ohne Nation: Der Hongkong-Film - Essay Karte

"Generation HK" Protest und Identität in Hongkong - Essay

Ben Bland

/ 18 Minuten zu lesen

Die Identität der Hongkonger verbindet ganz unterschiedliche Menschen in ihrem erbitterten Kampf gegen die Volksrepublik China. Diese Identität, die besonders stark von der Jugend empfunden wird, begann sich nach der Übergabe der Staatshoheit 1997 herauszubilden.

Am 1. Juli 2019 verschafften sich Demonstranten der Demokratiebewegung Zutritt zum Legislativrat Hongkongs und entweihten symbolisch das Parlament. Die Aktion war Teil der umfassenden Proteste gegen ein Gesetz, das die Auslieferung von Häftlingen an die Volksrepublik China ermöglichen sollte. Die jungen Aktivisten besprühten das Stadtwappen mit Graffiti, zerrissen eine Kopie des Basic Law (Hongkonger Grundgesetz) und hissten sogar die britische Kolonialflagge Hongkongs. Aus Angst vor einer Verhaftung und langjährigen Haftstrafen waren alle Demonstranten maskiert. Nur einer, ein Doktorand der Politikwissenschaften namens Brian Leung, nahm die Maske ab, damit "alle wissen, dass wir Hongkonger nichts mehr zu verlieren haben".

Das war einer von vielen entscheidenden Momenten in einer monatelangen Reihe von Protesten, befeuert vom besonderen Identitätsgefühl der Hongkonger, das im weiteren Verlauf noch zugenommen hat. Für Leung, der später aus Angst vor einer Verhaftung die Sonderverwaltungszone verließ und sein Studium in den USA fortsetzte, geht es bei den Protesten nicht darum, "Ruhm für seine Taten einzuheimsen". "Bei den Protesten sind die Leute um einen herum Fremde, aber man vertraut ihnen so sehr, dass man sein Leben für sie riskieren würde", sagte er später. "Und wenn sich diese Erfahrung wieder und wieder einstellt (…), ist es ganz natürlich, dass unsere Identität [als Hongkonger] jedes Mal stärker wird."

Die ursprünglich so aufsehenerregende Besetzung des Legislativrates am 1. Juli ist angesichts der monatelangen, zunehmend gewalttätigen Proteste, die durch die immer brutaleren Reaktionen der Polizei zusätzlich aufgestachelt wurden, mittlerweile in den Hintergrund gerückt. Bislang wurden in der teilautonomen Sonderverwaltungszone mit ihren gut 7,4 Millionen Einwohnern über 7000 Personen verhaftet. Einige Demonstranten wurden erschossen, eine ausländische Journalistin verlor durch ein Gummigeschoss der Polizei ihr rechtes Auge, mindestens ein Passant wurde getötet. Viele wurden aufgrund ihrer Oppositionshaltung gegen die Regierung entlassen oder daheim rausgeworfen, weil ihre Eltern nicht mit derart aufrührerischen Kindern unter einem Dach leben wollen.

Die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz haben sich ab 2019 zu einer breiten Bewegung entwickelt, die sich für die Freiheiten und die Autonomie einsetzt, die den Hongkongern über einen Zeitraum von 50 Jahren versprochen wurden, als die Briten 1997 die Kontrolle über die Stadt an die Volksrepublik China abgaben. Bei den Auseinandersetzungen, in denen die Polizei die Demonstranten als "Kakerlaken" und "Randalierer" verunglimpft, kämpfen Hongkonger gegen Hongkonger. Das Vertrauen in Informationen ist durch die wiederholten Lügen der Hongkonger Regierungsvertreter und die zahlreichen Gerüchte und Desinformationen in den sozialen Medien erschüttert. Die Intensivierung des Konfliktes wirft zwei miteinander verbundene Fragen auf: Wie kam es dazu, dass aus einem friedlichen und wohlhabenden globalen Finanzzentrum eine Brutstätte des Protests wurde? Und warum sind die Bewohner Hongkongs, vor allem die jüngeren an der Spitze der Bewegung, bereit, im Kampf für Demokratie und Autonomie so viel aufs Spiel zu setzen?

Offizielle Vertreter wie die Regierungschefin Carrie Lam, die im Grunde von Peking ernannt wurde, haben versucht, die Demonstranten als blindwütige Randalierer darzustellen, die von feindlichen "ausländischen Kräften" gesteuert werden. Von Lam stammt der berühmte Vorwurf, die Demonstranten hätten "keinen Anteil an der Gesellschaft". Doch ihre Behauptung ist weit von der Realität entfernt. Von den 6100 Personen, die zwischen Juni und Dezember 2019 verhaftet wurden, sind über 2400 Studenten. Viele studieren an den führenden Universitäten der Stadt, die zu den besten Asiens zählen. Die übrigen bilden einen breiten Querschnitt der Hongkonger Gesellschaft: zahlreiche Lehrer, ein Arzt, ein Pilot von Cathay Pacific, ein Investmentbanker, ein Spitzenkoch, ein Modedesigner und ein Bauarbeiter. Ein Drittel der Verhafteten ist 26 Jahre oder älter, 31 Prozent sind zwischen 21 und 25 Jahre alt. Kurz gesagt: Selbst unter den verhafteten Demonstranten, die einen Bruchteil der über eine Million zählenden Protestierenden stellen, die seit Juni 2019 auf die Straße gegangen sind, um sich für die Demokratie einzusetzen, findet sich eine große Bandbreite in Hinblick auf Alter, gesellschaftliche Stellung und beruflichen Hintergrund.

Doch was verbindet diese Menschen in ihrem erbitterten Kampf gegen den mächtigsten autoritären Staat der Welt? Meiner Meinung nach ist es ein gemeinsames Gefühl: die spezielle Identität der Hongkonger. Diese Identität, die besonders stark von der Jugend Hongkongs empfunden wird, begann sich nach der Übergabe der Staatshoheit an die Volksrepublik China herauszubilden. Das Gefühl der Losgelöstheit vom restlichen China hat sich durch den wachsenden Druck Pekings auf die Bürgerrechte der Hongkonger, ihre Autonomie und Lebensweise noch verstärkt. Und es breitet sich in ganz Hongkong durch eine Reihe miteinander verbundener, von Jugendlichen geführter Massenbewegungen aus, die im Aufstand seit 2019 ihren Höhepunkt finden.

Dieser Artikel stützt sich auf die Recherchen, die ich für mein 2017 erschienenes Buch "Generation HK: Seeking Identity in China’s Shadow" gemacht habe. Darin argumentiere ich, dass man zunächst einmal der Frage der Identitätsbildung auf den Grund gehen muss, um den sich vertiefenden politischen Konflikt in Hongkong zu verstehen. Eine neue Altersgruppe, die ich "Generation HK" nenne, ist seit der Übergabe 1997 erwachsen geworden. Der Wunsch, ihre Identität zu schützen, trieb diese Generation zum ersten Mal auf die Straße, aus Protest gegen Peking. Bei ihrem gemeinsamen Kampf wurde auch ihre Identität weiter gestärkt. Edward Leung, ein charismatischer Aktivist und Kämpfer für die Unabhängigkeit Hongkongs, der aufgrund seiner Beteiligung an einer regierungskritischen Demonstration 2016, die gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei nach sich zog, derzeit eine sechsjährige Haftstrafe verbüßt, sagte mir, die Identität der Hongkonger werde nicht über Rasse oder Ethnie definiert, sondern sei ein offenes Konzept: "Wer mit unseren Werten übereinstimmt, mit unserer Lebensweise und Kultur, und wer bereit ist, diesem Ort die Treue zu schwören und sich dafür einzusetzen, das alles zu erhalten, der ist ein Hongkonger".

Sicher gibt es noch andere Faktoren, die die Oppositionsbewegung in Hongkong befeuerten. Sozioökonomische Probleme wie die massive Ungleichheit, die niedrigen Einstiegsgehälter für Akademiker und die höchsten Immobilienpreise der Welt in Relation zu einem mittleren Einkommen haben zu einem weitverbreiteten Gefühl der Frustration und Entfremdung unter den Jüngeren beigetragen. Doch die sozioökonomischen Probleme der jungen Hongkonger ähneln denen ihrer Altersgenossen in New York, Tokio und London. Einzigartig ist hingegen die Bedrohung ihrer Freiheiten und das spezielle Identitätsgefühl angesichts der Widersprüche, die dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" zugrunde liegen, mit dem Hongkong ein "hohes Maß an Autonomie" versprochen wurde.

Laut der chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong von 1984, mit der die Bedingungen für eine Übergabe Hongkongs an China festgelegt wurden, soll die Lebensweise in Hongkong nach der Übergabe 1997 "50 Jahre lang unverändert" bleiben. Das führte dazu, dass viele Experten über die weitere Zukunft Hongkongs nach 2047 spekulierten. Allerdings hat der Druck aus Peking seitdem so zugenommen, dass Hongkonger ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und eine lange Haftstrafe riskieren, um sich gegen die Regierung zu wenden. Der wahre Kampf um Hongkong findet nicht erst in der Zukunft, sondern schon jetzt statt.

Der Protest der Hongkonger Demokratiebewegung ist in gewisser Weise mit dem antikolonialen Kampf verschiedener Nationen in ganz Asien vergleichbar, durch den vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängige Staaten entstanden. Wie schon die Bürger Indonesiens, Indiens und Malaysias wenden sich die Einwohner Hongkongs gegen eine Macht, die versucht, ihnen ihren Willen aufzuzwingen, ohne große Rücksicht auf ihre andere Sprache, Kultur und Lebensweise zu nehmen. Und sie betrachten sich selbst als geeinte politische Gemeinschaft, in der demokratische Rechte und die Prinzipien der Selbstverwaltung gelten sollen.

Die Hongkonger Identität wird wie viele zuvor entstandene nationale und subnationale Identitäten in den Flammen des Widerstands geformt. Wenn Teenager in Hongkong losziehen und mit Molotowcocktails in der Hand und Testament in der Tasche gegen die Polizei kämpfen, kann man sich an die Worte des Politikwissenschaftlers Benedict Andersons erinnern, der den Begriff der Nation als imagined political community prägte: Er erklärte, die Nation werde als "tiefer, kameradschaftlicher Verbund von Gleichen" verstanden. Diese Brüderlichkeit habe es in den vergangenen zwei Jahrhunderten ermöglicht, "dass Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind".

Druck aus Peking

Um zu verstehen, wie es in Hongkong so weit kommen konnte, muss man zunächst einmal betrachten, wie sich im Laufe eines Jahrzehnts ein Teufelskreis von Repression und Widerstand entwickelte und wie daraus eine Reihe zunehmend selbstbewusster sozialer Bewegungen unter Führung junger Leute entstand. Ich stelle mir Hongkong gern als das ambitionierteste politikwissenschaftliche Experiment der Welt vor, das gerade in Echtzeit abläuft. Die Hypothese lautet: Kann eine freie Stadt überleben und sich zu einer vollwertigen Demokratie entwickeln, wenn sie Teil eines der mächtigsten autoritären Staaten der Welt ist?

Die Antwort tendiert immer mehr zu Nein. In den ersten Jahren nach der Übergabe 1997 verfolgte die chinesische Führung einen relativ passiven Ansatz gegenüber der Stadt. Die Gründe dafür waren die wirtschaftliche Bedeutung Hongkongs, der Wunsch, die Stadt nicht zu destabilisieren, und eine allgemein deutlich vorsichtigere Strategie in der Außenpolitik. Zu der Zeit hielt sich die kommunistische Führung immer noch an die Ermahnung ihres ehemaligen Führers Deng Xiaoping, "die eigene Stärke verbergen und auf den richtigen Augenblick warten".

Diese Haltung begann sich 2003 zu ändern, als es in Hongkong nach Überlegungen zur Einführung eines Gesetzes gegen Aufruhr und Verrat zu umfangreichen Protesten kam. Die Hongkonger Regierung sah sich gezwungen, das Vorhaben fallen zu lassen, und Peking erkannte, dass sich die Volksrepublik deutlich stärker in die Gesellschaft und Politik Hongkongs einbringen musste, um zu gewährleisten, dass das "eine Land" nicht von den "zwei Systemen" destabilisiert würde.

Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" war schon immer ein unbequemer Kompromiss, der nun zunehmend Auflösungserscheinungen zeigt. Die härtere Haltung Pekings hat sich seit Xi Jinpings Machtantritt 2012 deutlich intensiviert. Hongkong hat Xis kompromissloses Durchgreifen gegen Andersdenkende und Oppositionelle ebenso zu spüren bekommen wie sein Streben nach einer stärkeren ideologischen und politischen Kontrolle. Seit dem Versuch, 2010 Maßnahmen für eine patriotische Erziehung im Sinne der Kommunistischen Partei an den Schulen einzuführen, haben Interventionen und Einschränkungen bei den Freiheiten der Hongkonger sowie beim versprochenen "hohen Maß an Autonomie" weiter zugenommen. Noch dazu wurde dieses Vorgehen von einer Hongkonger Regierung unterstützt, die in wachsendem Maße von Peking kontrolliert wird.

In den vergangenen Jahren musste man mehr als einmal mit ansehen, wie in Hongkong Gegner und Kritiker Pekings von der Straße weg verhaftet wurden. Gewählte Volksvertreter wurden mit fragwürdigen Begründungen aus dem Parlament entfernt und junge politische Aktivisten wegen "Gedankenverbrechen" von einer Kandidatur ausgeschlossen. Eine politische Partei wurde verboten, und erstmals seit der Übergabe Hongkongs an China wurde auch ein ausländischer Journalist ausgewiesen. Damit wurden verstörende Präzedenzfälle geschaffen.

Im derzeitigen Sog der Ereignisse hat sich gezeigt, dass der Regierungschefin Carrie Lam wenig Raum bleibt, wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache mit Peking zu treffen. Wie sie einer Gruppe von Geschäftsleuten bei einer privaten Unterredung sagte, über die Einzelheiten an die Öffentlichkeit gelangten, ist ihre politische Manövrierfähigkeit in der aktuellen Situation "sehr sehr sehr begrenzt". Aufgrund dieses Drucks wirkt Hongkong mehr und mehr wie eine beliebige chinesische Stadt; die ehemalige Kronkolonie durchläuft einen Prozess, den die Anhänger der Hongkonger Demokratiebewegung "Mainlandisation" ("Festlandisierung") nennen.

Gegenreaktion

Der Druck hat jedoch eine Gegenreaktion hervorgerufen, vor allem bei jungen Leuten. Sie lässt sich am besten an drei miteinander verbundenen sozialen Massenbewegungen festmachen, die in den vergangenen sieben Jahren entstanden sind. Die erste war die Scholarism-Bewegung von 2012, mit der sich Schüler und Studenten gegen die Einführung eines neuen Pflichtfachs namens "Moralische und Nationale Erziehung" wandten, mit dem Werte der Kommunistischen Partei Chinas vermittelt werden sollten. Die Proteste hatten zumindest kurzfristig Erfolg, die Hongkonger Regierung legte die grundlegende Lehrplanänderung vorerst auf Eis. Doch noch wichtiger war vielleicht, dass zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Hongkongs Teenager auf die Straße gingen und eine politische Bewegung anführten.

Von besonderer Bedeutung für die Frage der Identität war in diesem Zusammenhang, dass die Bewegung in Abgrenzung zu dem von Peking propagierten Bild des patriotischen Chinesen entstand – und zur Verteidigung der Hongkonger Lebensweise. Je mehr die Kommunistische Partei unter Xi Jinping versucht, die chinesische Ethnizität für sich zu beanspruchen, desto mehr gelangen diejenigen, die die Grundsätze der Partei ablehnen, zu dem Schluss, dass für ihre Vorstellungen in China kein Platz ist. In den 1980er Jahren sagte Deng Xiaoping einer Delegation aus Hongkong, die Hongkonger könnten nach 1997 "die Kommunistische Partei weiter verfluchen", solange sie "das Land lieben und Hongkong lieben". Doch nachdem Xi für die Partei nicht nur die Führung im Zentrum Chinas gefordert hat, sondern auch im "Norden, Süden, Osten und Westen", gehört die strategische Ambivalenz der Ära Deng der Vergangenheit an. Die Scholarism-Bewegung rückte auch junge Aktivisten wie Joshua Wong ins lokale Rampenlicht, die bei den Protesten wichtige Erfahrungen sammelten und den Mut fassten, mit der nächsten Massenbewegung noch einen Schritt weiter zu gehen.

Es folgte 2014 die sogenannte Regenschirm-Bewegung. Sie wollte Peking das Zugeständnis abringen, dass die Hongkonger ihren Regierungschef in freien und direkten Wahlen bestimmen dürfen anstatt wie bisher von einem von Peking dominierten Wahlkomitee. Die Bewegung hatte deutlich ambitioniertere Ziele als die Scholarism-Bewegung, entsprechend größer war auch ihr Ausmaß, zudem waren mehrere Generationen beteiligt. Altgediente Kämpfer der Demokratiebewegung hatten die Idee des gewaltfreien zivilen Ungehorsams und die kurzzeitige Besetzung einiger Straßen im Zentrum propagiert. Die Anführer der Schüler- und Studentenbewegung hoben das Vorhaben nun auf die nächste Stufe. Das war vor allem für viele junge Hongkonger ein Erweckungserlebnis. Bei meiner Recherche für "Generation HK" sagten mir viele, das sei nicht nur ihr erstes Mal gewesen, dass sie sich an einer sozialen Bewegung beteiligt hätten, sondern auch das erste Mal, dass sie sich ernsthaft mit Politik und der Frage beschäftigt hätten, was es bedeutet, in China unter Xi Jinping in Hongkong zu leben.

Die dritte Bewegung nahm 2019 ihren Anfang in den Protesten gegen das Auslieferungsgesetz, entwickelte sich jedoch rasch zu einem weiter gefassten Kampf für die Demokratie, einer Schlacht um die Seele Hongkongs und zu einem wütenden Aufschrei gegen Ungerechtigkeit, bei dem die mangelnde politische Verantwortlichkeit von Polizei und Staat offen zutage trat.

Bevor ich mich aber mit den aktuellen Protesten befasse, folgen zunächst Überlegungen zur Hongkonger Identität und der Frage, wie sie von Repression und Widerstand geprägt wurde.

Aufeinanderprallende Identitäten

Die Einwohner Hongkongs, die heute im Teenageralter oder in ihren Zwanzigern und Dreißigern sind, bilden die erste Generation, die nach der Übergabe an China heranwuchs. Mit Heranwachsen meine ich, dass entweder ihr ganzes Leben oder ihr erwachsenes Leben nach 1997 stattgefunden hat. Sie wuchsen in einer Art Identitätsvakuum auf, das – anders als bei ihren Eltern oder Großeltern – kaum noch eine Verbindung zur kolonialen Vergangenheit der Stadt unter britischer Herrschaft oder zur Lebensweise auf dem chinesischen Festland aufwies. Das Vakuum wurde in zunehmendem Maße von einer eigenen Hongkonger Identität ausgefüllt, die sich über die Abgrenzung zum chinesischen Festland definiert. Diese Entwicklung ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass sich Menschen naturgemäß in Abgrenzung zu anderen definieren. Zudem war das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" eigens darauf ausgelegt, das zu schützen, was Hongkong von China unterschied, darunter Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit. Warum sollten die Angehörigen der jüngeren Generation in einem speziellen Gebiet mit eigener Sprache (Kantonesisch), einer eigenen Flagge, einer eigenen Verfassung und einer eigenen Währung auch nur daran denken, dass sie etwas anderes sein sollten als Hongkonger?

Doch anstatt eine Möglichkeit zu suchen, die spezifische Hongkonger Identität einzubinden, bedrohte Peking mit seinem zunehmend harten Vorgehen gegenüber der Stadt die Lebensweise und das Selbstgefühl der Hongkonger. Die Identität der Hongkonger wurde dadurch jedoch nur weiter gestärkt, und auch ihre Abwehrhaltung gegenüber einer chinesischen Identität, die laut Kommunistischer Partei untrennbar mit ihrer Herrschaft über die Nation verbunden ist, nahm zu. Umfragen des Meinungsforschungsinstituts der Universität Hongkong zeigen, dass das Identitätsgefühl im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts deutlich gewachsen ist, während gleichzeitig das Vertrauen in das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" massiv zurückging. Zwischen Juni 2008 und Juni 2019 stieg der Anteil der Einwohner, die ihre ethnische Identität mit dem Begriff "Hongkonger" beschreiben, von 18 auf 53 Prozent. Bei den 18- bis 29-Jährigen schnellte der Anteil sogar von 23 auf 75 Prozent.

Ein weiteres anschauliches Beispiel für den wachsenden Identitätskonflikt sind die Buhrufe beim Abspielen der chinesischen Hymne vor Fußballspielen. Hongkong hat eine eigene Fußballnationalmannschaft, vor deren Spielen jedoch die chinesische Nationalhymne ertönt (im Gegensatz zur walisischen und schottischen Mannschaft, deren Spieler jeweils ihre eigene Hymne singen, anstatt wie die Spieler der englischen Nationalmannschaft "God Save the Queen" anzustimmen). Jüngere Fans begannen zu buhen, wenn der "Marsch der Freiwilligen" erklang, wie die chinesische Nationalhymne genannt wird, um ihrer Hongkonger Identität und ihrer Ablehnung der chinesischen Regierung Ausdruck zu verleihen, die ihnen die "Ein Land"-Doktrin aufzwingen will. Die Reaktion Pekings war zu erwarten. Die Regierung Hongkongs wurde angewiesen, ein drakonisches Gesetz zu erlassen, das mangelnden Respekt gegenüber der Nationalhymne mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren ahndet.

Hier ergibt sich ein interessanter Vergleich zu Schottland und Katalonien. Auch dort gingen die Versuche der jeweiligen Zentralregierung, Regionen an der Peripherie stärker zu integrieren, nach hinten los und führten zu einer Stärkung der Unabhängigkeitsbewegungen. In direkter Folge des Drucks aus Peking entstand auch in Hongkong eine separatistische Bewegung. Bei den Parlamentswahlen 2016 unterstützte etwa ein Fünftel der Wähler Kandidaten, die sich für mehr Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit aussprachen.

Die Bewegung der jüngsten Proteste ab 2019 basiert in vielerlei Hinsicht auf der sogenannten Regenschirm-Revolution von 2014. Laut einer Umfrage nahm die Hälfte der Teilnehmer bereits an den Demonstrationen von 2014 teil. Doch in anderer Hinsicht unterscheidet sich die aktuelle Protestbewegung – ebenso wie die Reaktion der Regierung – deutlich von den früheren Protesten.

Revolution of our Time

Im Gegensatz zur Regenschirm-Revolution hat die aktuelle Bewegung keine Anführer. Ihr Fehlen ist auch darauf zurückzuführen, dass sich mehrere bekannte Aktivisten in Haft befinden oder unter Anklage stehen und sich daher nicht beteiligen können. Auch der geistige Vater der Proteste, der junge Harvard-Absolvent Edward Leung, befindet sich derzeit in Haft, dennoch wurde sein politischer Slogan "Liberate Hong Kong, Revolution of our time" zum Motto des Aufstands. Weil sie keine Anführer hat, hat die Regierung jedoch auch kaum Möglichkeiten, gegen die Bewegung vorzugehen. Außerdem wollen die Demonstranten mit dieser bewusst gewählten Strategie integrierende und dezentrale Entscheidungsprozesse fördern, um den Hongkongern bei den Themen ein Mitspracherecht zu bieten, wo es ihnen die Regierung verwehrt.

Die Aktivisten haben ihre Strategie seit 2014 auch in anderer Hinsicht verändert und dadurch dem Gefühl einer gemeinsamen Identität (vereint gegen einen gemeinsamen Feind) enormen Auftrieb gegeben. Die Regenschirm-Bewegung und ihr Nachspiel wurden durch bittere interne Richtungskämpfe unter den Aktivisten über die zukünftige Ausrichtung der Bewegung getrübt. Die harte Gangart Pekings schien sich auszuzahlen, der Protest verlor an Schwung und Hoffnung. Daher entschieden sich die Protestierenden 2019 bewusst dafür, geeint aufzutreten und ihre taktischen und ideologischen Differenzen zugunsten des gemeinsamen Ziels beizulegen. Der Ansatz wurde in einem weiteren populären Slogan zusammengefasst: "Den Berg gemeinsam erklimmen, seinen eigenen Beitrag leisten".

Die Demonstranten an vorderster Front waren auch deutlich gewaltbereiter gegenüber der Polizei und all denjenigen, die ihrer Meinung nach versuchten, ihre Sache zu untergraben. Auch viele gemäßigte Demonstranten, die nicht unbedingt dafür waren, Molotowcocktails gegen Polizisten zu werfen und Geschäfte in chinesischem Staatsbesitz zu verwüsten, hielten sich aus verschiedenen Gründen mit Kritik an der Gewalt zurück. Erstens wollten sie die Einheit der Oppositionsbewegung nicht gefährden. Zweitens waren sie empört über die eskalierende Polizeigewalt und daher der Ansicht, dass die mangelnde politische Verantwortlichkeit der Behörden einen militanteren Widerstand rechtfertige. Drittens sagten mir einige Veteranen der Demokratiebewegung, die sich in der Vergangenheit stets gegen Gewalt ausgesprochen hatten, mittlerweile hielten sie Gewalt unter bestimmten Umständen für angebracht, immerhin sei die Regierung dadurch in die Defensive gezwungen und dazu gebracht worden, das Auslieferungsgesetz zurückzuziehen.

Die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt, die im Namen der Demokratie und Freiheit 2019 in Hongkong angewandt wurde, ist offensichtlich wichtig, doch diese Debatte muss separat geführt werden. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass die Eskalation das Gefühl einer besonderen Hongkonger Identität bei vielen jungen Leuten verstärkt hat, aber auch bei all den anderen, die durch die Bewegung zusammengefunden haben. Die Polizei beharrt zwar darauf, dass sie nicht für Todesfälle verantwortlich sei, doch viele Anhänger der Demokratiebewegung glauben, dass einige, wenn nicht sogar Dutzende Demonstranten, von den Behörden getötet wurden, ihr Tod jedoch vertuscht oder als Selbstmord ausgegeben wurde. Ob wahr oder nicht: Es ist faszinierend, wie die Hongkonger regelmäßig an improvisierten Schreinen für die angeblichen – und oft namenlosen – Opfer zusammenkommen. Das erinnert an die Art und Weise, wie Nationen kollektiv an Gedenkstätten wie den Grabmalen des unbekannten Soldaten trauern; ein typisches Symbol für die Macht der imagined communities.

Die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz begannen bereits im März 2019, doch zu den ersten Demonstrationen kamen nur ein paar Tausend Menschen. Es dauerte einige Zeit, bis die Bewegung an Schwung gewann. Ohne die sture Haltung der Hongkonger Regierung und die überzogenen Reaktionen der Polizei wäre die Entwicklung vielleicht ganz anders verlaufen. An vorderster Front der Proteste findet man oft viele junge Leute, doch sie konnten auch ältere Hongkonger für die Bewegung gewinnen. Als Demonstranten nach ihrer Blockade des Hongkonger Flughafens gestrandet waren, weil die Behörden den Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel einstellen ließen, fuhren Dutzende Autobesitzer (in einer Stadt wie Hongkong ein Luxus, den sich nur Wohlhabende leisten können) los und sammelten sie ein. Büroangestellte im Anzug und mit Designerhandtaschen halfen in ihrer Mittagspause den Protestierenden beim Bau von Barrikaden im zentralen Geschäftsdistrikt. Anwälte, Ärzte und Buchhalter bieten Rechtsberatung, medizinische Hilfe und logistische Unterstützung. Alfred Wong, ein Kardiologe, der verletzten Demonstranten erste Hilfe leistete, erklärte dazu: "Das ist keine einzelne Schlacht, sondern ein sehr langer Weg. Um zu siegen, ist die Weisheit der Älteren und die Energie der Jüngeren erforderlich."

Schlussfolgerung

Im aktuellen politischen Diskurs des Westens wird "Identitätspolitik", überwiegend als ein negatives Konzept betrachtet. Doch das Beispiel Hongkong zeigt, dass sie auch eine positive Kraft sein kann. Der Wunsch, eine gemeinsame Hongkonger Identität zu schützen, eint eine heterogene Gruppe in ihrem wichtigen Kampf zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie gegen autoritären Druck. Obwohl in den Nachrichten Bilder gewalttätiger Zusammenstöße dominieren, weist die Protestbewegung auch ein starkes kreatives Element auf. Die Beteiligten haben neue Wege gefunden, ihrem sich verändernden Identitätsgefühl Ausdruck zu verleihen. Die Einwohner Hongkongs widersetzen sich nicht nur dem Autoritarismus, sondern kämpfen auch für Werte, die viele im Westen zwar behaupten hochzuhalten, jedoch selten verteidigen müssen: Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Vermutlich werden Hunderte aufgrund ihrer Beteiligung an den Protesten ins Gefängnis kommen, viele weitere werden ihre Arbeit verlieren und ihre Karriereaussichten ruinieren, wenn die Säuberungsmaßnahmen gegen die Demokratiebewegung intensiviert werden. Doch das harte Durchgreifen wird eine weitere Gegenreaktion hervorrufen. Derzeit lässt sich nur schwer absehen, wie sich die Aufnahme Hunderter weiterer Häftlinge, die praktisch politische Gefangene sind, auf die Hongkonger Gefängnisse mit ihrer relativ kleinen Insassenzahl von 8000 auswirken wird.

Klar ist, dass die jungen Hongkonger entschlossen sind, den Widerstand aufrechtzuerhalten und der weiteren Entwicklung mit ihrer eigenen Version des Kampfes ihren Stempel aufzudrücken. Von den Buhrufen gegen die chinesische Nationalhymne vor einigen Jahren und vor allem von der aktuellen Krise inspiriert, haben Aktivisten eine eigene Hymne verfasst, "Ruhm und Ehre für Hongkong". Im Text erinnern sie unter anderem an die Opfer von 2019 und betonen den langen Kampf, der noch vor ihnen liegt. Die Menschen werden aufgefordert, das Land zu befreien und für Hongkong einzustehen. Die Hymne wird in der ganzen Stadt gesungen, an den Schulen ebenso wie in Einkaufszentren und auch weltweit, da die Aktivisten den Einfluss und die Verbindungen der Hongkonger in der Diaspora nutzen, die sich von Sydney über San Francisco bis nach London und darüber hinaus erstreckt. Auch dies ist letztlich ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Identitätsbildung in Hongkong eng mit dem Kampf für Freiheit und Demokratie verbunden ist und umgekehrt.

Peking und die Regierung Hongkongs haben dieses entscheidende Zusammenspiel mehrfach verkannt, was dazu geführt hat, dass ihre Maßnahmen genau das Gegenteil dessen bewirkten, was ursprünglich vorgesehen war. Wenn die chinesischen Machthaber keinen Weg finden, den Hongkongern ihre politischen Rechte zuzugestehen und ihnen zu erlauben, ihrer eigenen Identität Ausdruck zu verleihen, wird sich der Konflikt weiter verschärfen.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lowy Institute in Sydney, ehemaliger Hongkong-Korrespondent der "Financial Times" und Autor des Buches "Generation HK: Seeking Identity in China’s Shadow" (2017).