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Ludwig Erhard revisited | bpb.de

Ludwig Erhard revisited

Bodo Gemper

/ 16 Minuten zu lesen

Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft ist mit dem Namen Ludwig Erhard auf das Engste verbunden. Was sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für Deutschland als Erfolgsstory erwiesen hat, muss nicht zwangsläufig auf andere Systeme übertragbar sein.

Einleitung

Die Erinnerung an Ludwig Erhard verbindet sich mit dem Bild des "Vaters des Deutschen Wirtschaftswunders", des gutmütigen Wirtschaftsministers mit der dicken Zigarre im Kabinett Konrad Adenauers, der mit gelassener Unnachgiebigkeit "das Gefüge einer freien und sozial verpflichteten Marktwirtschaft" errichtete; "von allen Schichten unseres Volkes Verständnis für das rechte Maßhalten und innere Disziplin" einforderte; zielstrebig danach trachtete, auf dem Wege "Wohlstand durch Wettbewerb", "Wohlstand für alle" zu mehren; die Symbiose zwischen der Stabilität der "Deutschen Mark" und der "Sozialen Marktwirtschaft" verkörperte und sogar von dem amerikanischen Nationalökonomen Paul A. Samuelson für seine "mutige Entscheidung im Jahre 1948" gelobt wurde: " ... Rationierung und Preiskontrollen, die die Wirtschaft Westdeutschlands knebelten, abgeschafft zu haben, was eine gewaltige wirtschaftliche Dynamik ausgelöst und entscheidend zur Verbesserung der Einkommen aller Beschäftigten geführt habe".


Wiederbesinnung auf die "Arbeits- und Marktgemeinschaft"

Bundespräsident Horst Köhler gibt zu bedenken, dass, "wenn wir die Globalisierung zum Wohle aller gestalten, (...) wenn wir auch weltweit Wettbewerb mit sozialem Ausgleich verbinden, wie es uns in Deutschland mit der Sozialen Marktwirtschaft gelungen ist, dann bleibt unser Bekenntnis glaubhaft, dass alle Menschen auf unserem Planeten Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben haben." Aber "welchen Ordnungsrahmen braucht unsere veränderte Welt, um Teilhabe für jeden Einzelnen an den Ressourcen, am Wachstum und am Fortschritt zu ermöglichen"? "Alle müssen am Erfolg teilhaben", war Erhards Credo, ist es doch "der soziale Sinn der Marktwirtschaft, daß jeder wirtschaftliche Erfolg (...) dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird". War nicht "eine gültige und wirksame Antwort auf die soziale Frage (...) nach vielen Irrwegen und katastrophalen Irrtümern im Grunde erst der Sozialen Marktwirtschaft" als "Zweckerfüllung einer Friedenswirtschaft" im Sinne Erhards gelungen? Selbst der letzte Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR (1965 - 1989), Gerhard Schürer, räumte ein, "dass sich die Soziale Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft als überlegen erwiesen hat" und er sich "wünschen würde, dass sie erhalten bleibt im Sinne von Ludwig Erhard - vor allem, dass man sie sozial erhält". Der "Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD" erwähnt "Soziale Marktwirtschaft". Mithin: Dieser Bezug auf die "Soziale Marktwirtschaft" und auf "Ludwig Erhards Ideal einer Gesellschaft von Teilhabern ist aktueller denn je." Vermag aber "das Programm der Sozialen Marktwirtschaft", dieser elegante "Gegenentwurf zum totalitären Sozialismus" und für das wirtschaftspolitische Erfolgsmodell des Wiederaufbaus Westdeutschlands, den Veränderungen, die sich im Laufe eines halben Jahrhunderts vollzogen haben, gerecht zu werden? Ist es auch ein Leitbildfürdas 21. Jahrhundert, oder eignet es sich sogar "zum Ordnungsmodell in ganz Europa"?

Die Vorstellungen über Soziale Marktwirtschaft, eine Idee, die neben Grundgesetz und dualer Berufsausbildung "die Menschen in der gesamten Welt inspirierte", lassen in Deutschland ein Beurteilungsspektrum erkennen, das entweder der schlichten Vorstellung entspringt, 1948 habe in Westdeutschland "die Preisfreigabe wie eine Initialzündung" gewirkt: "Über Nacht waren die Läden mit einem üppigen Warenangebot gefüllt. Das hat geklappt, weil die Menschen sehnsüchtig auf das Neue warteten." Oder aber Soziale Marktwirtschaft wird als ein ordnungspolitisches Konzept begriffen, das "eine marktwirtschaftliche und eine soziale Komponente" enthält, als Teil des "gesellschaftspolitischen Leitbildes" von Erhard.

Soziale Marktwirtschaft, "eine Leerformel"?

In diesem konzeptionellen Sinne wird gefragt: Ist eine "Reaktivierung der ursprünglichen Erhardschen Ordnungspolitik", die bereits im Jahre 1983 begonnen worden war, angezeigt? Hatte doch Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 in seinem "Programm der Erneuerung" als Leitsatz formuliert: "Die Ansprüche an den Sozialstaat können nicht stärker befriedigt werden, als die Leistungskraft der Wirtschaft zulässt", und daher "die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft" proklamiert. Mehr noch: "Brauchen wir für ihre Revitalisierung unter den neuen Bedingungen ein neues Leitbild?" Oder aber, hat diese "alte soziale Marktwirtschaft" bereits "ausgedient", ist gar "das Ende der Sozialen Marktwirtschaft" erreicht? Könnte es sich bei Sozialer Marktwirtschaft um "eine Leerformel" handeln?

Bundeskanzlerin Merkel ist davon überzeugt, dass "der politischen Kraft in Deutschland, der es gelingt, die Fähigkeit und die Bereitschaft aufzubringen, die Soziale Marktwirtschaft auf die dazu notwendige neue Stufe zu heben, sie also umfassend zu erneuern (...) die Zukunft in unserem Lande gehören" wird. Um "Orientierungen für eine erneuerte (...)", für eine "richtig verstandene Soziale Marktwirtschaft" im Sinne "von richtig verstandenem ordnungspolitischen Denken und Handeln" zu gewinnen, ist zu fragen: Wie sah "das ordoliberale Modell, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Gestaltung der deutschen Wirtschaftsverfassung geprägt hat," aus, das Erhards "Vorstellungen von den Aufgaben der Gegenwart und der nahen Zukunft" erklärt?

Wirtschaftspolitik als Ordnungspolitik

Als "die Nachfahren Ludwig Erhards gefragt" zu sein, wie "die Soziale Marktwirtschaft (...) wieder auf ihre Basis zurückgeführt werden" kann, liegt es nahe, in rückbesinnender Würdigung, aus seinem "Denkmodell' des vollkommenen Wettbewerbs" "das Gefüge der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung" entsprechend seinem "gesellschaftspolitischen Leitbild" der "Wirtschaftsgesellschaft im Ganzen" aufzufrischen und seine "ganzheitliche Wirtschaftspolitik" in Erinnerung zu rufen: zu lernen von Erhards "Wirtschaftspolitik aus einem Guß" "zur Festigung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung und zugleich zur Stärkung der (...) Arbeits- und Marktgemeinschaft überhaupt", die "- unabhängig von wirtschaftlichen Systemen - die soziale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik nicht nur zu einem Erfordernis, sondern auch zu einem Gebot macht."

Pflichtbewusster Bürger statt "sozialer Untertan"

Erhard hatte "das soziale Gefüge der gesellschaftlichen Ordnung", den "geschichtlichen Prozeß", und den "des strukturellen Aufbaues unserer Volkswirtschaft an den Werten zu orientieren," im Blick. Er erkannte, dass "wir mit wachsendem Wohlstand immer mehr auf den falschen Weg der Atomisierung sowohl der zu bewältigenden Aufgaben als auch unseres Lebens überhaupt geraten" könnten, an dessen Ende, "statt sich aus eigener Kraft (zu) bewähren (...) der soziale Untertan' steht". Sein "erstrebenswertes Ziel" war es, "die freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft mit den jener Wirtschaft immanenten Regulativen" zu etablieren, also "die Fesseln zu lösen", die "eigenen Märkte zu öffnen", um "so offenere Märkte... draußen zu finden", weil "die Wettbewerbswirtschaft die ökonomischste Form und zugleich die demokratischste Form der Wirtschaftsordnung" ist.

Gewinn ist nicht alles

Während "das Modell der Sozialen Marktwirtschaft (...) ein Produkt einer politischen, wirtschaftlichen und geisteswissenschaftlichen, kurz: einer gesellschaftlichen Entwicklung" ist, in der "der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft steht", wird sie gelegentlich mit neoliberaler Politik verwechselt, der es an sozialer Verantwortung mangele. Das Finanzkapital dominiere das Gewinnstreben. Nicht so bei Erhard: Bereits 1948 hat er an das Pflichtgefühl appelliert und "in letzter Konsequenz gerade den verantwortlichen Unternehmern, die über den Produktions- und Verteilungsapparat der Volkswirtschaft verfügen, die größten Opfer, die höchste Einsicht und Verantwortung" abverlangt. Deutschlands prominentester Bankier, Hermann J. Abs, ein Vertrauter Erhards, gab 1973 zu bedenken: "Unter dem Aspekt der Gesellschaftsbezogenheit des wirtschaftlichen Handelns wird der Unternehmer aber über die ihm gewohnte Orientierung am Markt noch hinausgehen und den gesellschaftspolitischen Auswirkungen seines Verhaltens, das heißt, zugleich der Tätigkeit seines ganzen Unternehmens, vorrangige Bedeutung einräumen." Er präzisierte: "Gewinn ist gut, aber nicht alles", ist doch "die Gewinnerzielung (...) nicht Selbstzweck, sondern ein Steuer- und Kontrollelement in der Wettbewerbswirtschaft. Der Gewinn ist eine Lebensvoraussetzung für jedes Unternehmen und so notwendig wie die Luft zum Atmen für den Menschen. Wie der Mensch aber nicht nur lebt, um zu atmen, so betreibt er auch nicht seine wirtschaftliche Tätigkeit, nur um Gewinn zu machen."

Sozialer Imperativ: "Maß halten" und "Teilhabe"

Da die Deutschen dazu neigten, "das Gefühl für die Realitäten des Lebens relativ rechtschnell zu verlieren", angesichts der "Anzeichen" von "Maßlosigkeit", ja "Hybris", versuchte Erhard, "den Marktteilnehmern (...) klarzumachen, wie sehr sich das Befolgen der Stimme des gesunden Menschenverstandes und der wirtschaftlichen Vernunft letztlich zu ihren eigenen Gunsten auswirkt". Zur "Aufrechterhaltung der sozialökonomischen Ordnung" sei zu verhindern, dass ein "Umleitungsprozeß bei der sozialen Beurteilung des Marktprozesses" und "das regulative Prinzip sozialer Interventionen in der Marktwirtschaft" den Produktivitätsfortschritt behindern, weil eine vom Leistungswettbewerb abgekoppelte "Sozialpolitik (...) immer die Funktionstüchtigkeit und damit auch diese soziale Dimension der Märkte" beeinträchtige.

Erhards Wirtschaftspolitik zeichnet ein Built-in Social Balancing aus: einen ständigen auf marktimmanentem Wege sich vollziehenden sozialen Ausgleich "im Interesse des sozialen Friedens". In der Tat: "Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft basiert auch darauf, dass die Marktwirtschaft bei funktionierendem Wettbewerb in sich bereits wichtige soziale Funktionen erfüllt." Sie ist auch nicht der sozialen Frage als Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts, dem Kollektivgedanken, verhaftet: Erhard beabsichtigte, "innerhalb der Sozialordnung der individuellen Verantwortung breiten Raum zu geben", damit "sich die Menschen als Individuen fühlen und sich gerade in der persönlichen Freiheit ihrer Kraft und Würde bewußt werden". Daraus erwachse die Pflicht des Einzelnen, in Freiheit zukunftsorientiert "selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen", für seine soziale Sicherung primär selbst zu sorgen: "Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin." Erhard band den Gehalt des Sozialen folgerichtig an die Chance zur Teilhabe am Arbeitsmarkt, auf dem der Einzelne Beschäftigung zu marktwirtschaftlichen Bedingungen und ein Einkommen finden kann, das sich - da "die Lohnkosten ... in ihrer jeweiligen Höhe ein Ausfluß der Produktivität" sind, am "Produktivitätsfortschritt" orientiert und damit gleichzeitig zur "Preisstabilität" beiträgt.

Vorrang der Arbeit und Soziale Balance

"Vollbeschäftigung" ist daher "das erstrebenswerte Ziel" von Erhards Politik, das er im Herbst des Jahres 1955 "in vielen Wirtschafts- und Regionalbereichen" erstaunlich früh erreichte: Für das Jahrzehnt 1950 bis 1960 ist stetiger Rückgang der Arbeitslosigkeit kennzeichnend, lediglich durch die Rezession 1957/58 unterbrochen.

Erhards Sozialverständnis von "der Rangordnung der Werte" in einer "sozialen Ordnung" bestimmte seine Politik, "die soziale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik nicht nur zu einem Erfordernis, sondern auch zu einem Gebot macht," weil "Wirtschaft nicht als seelenloser Mechanismus zu begreifen ist, sondern sie von lebendigen Menschen mit höchst individuellen Wünschen und Vorstellungen getragen wird". Die effektive Methode der Selbstfinanzierung aus Gewinnen regt ihn an, "mit steigender Produktivität und wachsendem Volkseinkommen die Grundlagen der privaten Vermögensbildung" zu schaffen, um der "Beteiligung der einzelnen Schichten an einer wachsenden Vermögensbildung" willen. Es sollte eine "Atmosphäre des Vertrauens geschaffen werden", die glaubwürdig die berechtigten Interessen "aller sozialer Schichten" ausbalanciert.

"Mut zum Konsum", "Mut zur eigenen Leistung"

Als Konsumforscher um "die wichtigsten Ankurbelungsmittel" auf dem Markt wissend, verstand er es, die Währungsreform 1948 nutzend, den Motor der westdeutschen Wirtschaft nicht nur aus dem Nichts anzuwerfen und am Laufen zu halten, sondern den Wiederaufbau - ohne staatliche Subventionen - in einen sich selbst tragenden Aufschwung überzuleiten. Statt der Schwer- und Investitionsgüterindustrie wandte Erhard sich als erstes den Not leidenden Menschen zu. Die von ihm maßgeblich geprägten "Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" führten in weiten Bereichen zur "Freigabe der Bewirtschaftung": Die nach dem Krieg hergestellten Waren, die bisher - statt gegen wertlose Reichsmark - lieber unter der Hand gegen andere Waren oder Versprechen handwerklicher Hilfe eingetauscht (kompensiert) oder in beachtlichem Umfange gehortet worden waren, lockte das neue Geld über Nacht ans Tageslicht. Ein Warenangebot weckte in der Bevölkerung Lebensmut. Erhard hatte mit seiner "historischen Weichenstellung" nicht nur das "Gedankengut der sozialen Marktwirtschaft den breiten Schichten der Bevölkerung verständlich", sondern auch erlebbar gemacht. Erhatte einen Built-in-Pump-priming-Effekt ausgelöst, indem seine Empfehlung, "Mut zum Leistungswettbewerb und zur Eigenverantwortung" zu beweisen, den "tätigen Menschen" anspornte, Mut zur eigenen Leistung aufzubringen, sein eigenes Einkommen zu verdienen und damit kaufkräftige Nachfrage auszuüben. Dieser "Mut zum Konsum" wurde belohnt: Es bildete sich ein Arbeitsmarkt, der zum Wechsel des Produktionsfaktors Arbeit in rentablere Verwendungen geradezu herausforderte.

Der sich so selbst verstetigende Wirtschaftskreislauf setzte einen Prozess in Gang, vergleichbar dem eines in den freien Markt eingebauten Wirkungsmechanismus: Es wird neues Einkommen generiert, weil die "menschliche Arbeit Wert und Sinn verhieß und der Fleiß" die Beschäftigten "an einer weiteren (...) gedeihlichen Entwicklung teilhaben" ließ und sie zu weiterer Nachfrage motivierte. Die Konsumwellen, an deren Beginn die Ess-, Bekleidungs-, Wohn- und Reisewelle standen, bezeugen Erhards Erfolgskurs. Seine "dynamische Wirtschaftspolitik" mit diesem Pumpmechanismus verlieh dem Marktprozess lange Zeit sich selbst revitalisierende Schubkraft, unterstützt u.a. von einer positiven Lohndrift: Wachstumsraten von Effektivlohnsätzen, die über den Tariflohnsätzen lagen, und einer beschäftigungsfreundlichen, "sozialpolitisch ausgewogenen Besteuerung" begleitet. "Eine Politik über massive Steuererhöhungen, die Einkommen der Staatsbürger zugunsten staatlicher Verwendungen abzuschöpfen, bringt sich selbst um den Erfolg."

Bewährte Grundlagen - neue Chance

Karl Schiller leitete mit der Wirtschaftspolitik einer "globalgesteuerten Marktwirtschaft" einen Substanzverzehr der Sozialen Marktwirtschaft ein. Erhard beklagte 1972, dass "mit dem Jahre 1966, (...) mit der Großen Koalition (1966 bis 1969, B.G.) (...) die Verneinung der Werte, an die wir vorher geglaubt haben", begonnen habe.

Die mit der Regierungsübernahme Helmut Kohls im Jahre 1982 einsetzende "Reaktivierung der ursprünglichen Erhardschen Ordnungspolitik" wurde "im Zeichen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik" in "Redynamisierungs-, Aufbau- und Umstrukturierungspolitik" verwandelt. Auch die zu Beginn der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder 1998 ventilierte Möglichkeit, auf Erhards "Prinzipien von Pragmatismus und Anti-Dirigismus" zu setzen, wurde verworfen. So blieb es der ihre Unabhängigkeit bewahrenden Deutschen Bundesbank vorbehalten, über die Ära Adenauer-Erhard hinaus die volle Last der Verantwortung für die Stabilität zu tragen: Die Deutsche Mark etablierte sich als Stabilitätsanker in Europa. Alle Präsidenten der Bundesbank standen "hinter dem stabilen Geld". Sie verkörperten die deutsche Stabilitätskultur.

Ausbalancierung der Internationalökonomie

Der 'Exportweltmeister' Deutschland erfährt im Zuge sich verändernder Koordinaten der Weltwirtschaft ungewohnten Wettbewerbsdruck seitens sich neu formierender 'Global Players'. Eine Umkehr der Globalisierung kündigt sich an: Rückzug auf nationale Positionen, sich wieder belebende protektionistische Tendenzen, feindliche Gesinnung gegenüber 'Hedge Fonds'. In dem Maße, wie der These "die Soziale Marktwirtschaft hat sich bewährt" zugestimmt werden kann, ist die daran anschließende zu hinterfragen: "Sie ist die beste Wirtschaftsordnung auch für dieZukunft." Ist damit eine Zukunft in Deutschland gemeint? In Europa? Weltweit? Lässt sich "nach Jahren des Verfalls der Ordnungspolitik" das Konzept Erhards für eine offene Volkswirtschaft, das auf "die geistigen Grundlagen gesunden Außenhandels" sowie die "Bereitschaft und Fähigkeit zu harmonischer Zusammenarbeit mit der ganzen Welt" setzte, auch in einem weltoffenen Markt anwenden, selbst wenn es einem zerstörten Land zur "Rückkehr zum Weltmarkt" verholfen hat? "Wirtschaftspolitik (...) und das sie tragende wirtschaftspolitische Konzept müssen auf den zweckmäßigen Weg der wirtschaftspolitischen Zielerfüllung überprüft werden"; das gilt erst recht für die Ordnungspolitik, denn: "Nationale Wirtschaftspolitik allein reicht unter den sich wandelnden Bedingungen nicht mehr aus, die wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen (...)", ist doch "eine internationale wirtschaftspolitische Kooperation (...) zu den nationalen wirtschaftspolitischen Instrumenten" hinzugetreten.

Da es keine Welt(-wirtschafts-)ordnung gibt, wird es auch keine Weltordnungspolitik geben, der das Modell Erhard Pate stehen könnte. Ob es für die Europäische Union als Referenzmodell dienen könnte, hängt vom Schicksal des "Vertrages über eine Verfassung für Europa" ab, der als eines der Ziele der Union "eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" benennt. Auch die Bundeskanzlerin weiß: "In dem Moment aber, in dem sich die Wirtschaft global ausbreitet, entzieht sie sich zunehmend der bisherigen Ordnungsfunktion des Nationalstaates."

Nachdenken und Neubewertung

Lässt sich eine Erfolgsgeschichte wiederholen, die aus einer historisch einmaligen Konstellation von Komponenten erwachsen ist, die in dieser idealen Zusammensetzung nicht wiederkehren kann? Diese optimale Kombination Erhard-Adenauer, zwischen einem "noblen Idealisten" und einem "kühl kalkulierenden, präzisen Rationalisten"; einem "Gegensatzpaar", das bei und wegen aller Gegensätzlichkeit eine schöpferische politische Symbiose eingegangen war: "Das Werk und die Leistungen der beiden Gründungsväter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard gehörten untrennbar zusammen - die Ära Adenauer war auch eine Ära Erhard"; die verständnisvolle Symbiose zwischen diesen beiden Staatsmännern mit den Westalliierten, insbesondere den anglo-amerikanischen, die bereit waren, auch einmal den konstruktiven Wert eigenmächtiger Entscheidungen erkennend, zu tolerieren oder Vernunft zu verordnen; die Überzeugungskraft Erhards, "kühle Köpfe und starke Herzen" zu gewinnen und die für den Einzelnen erkennbaren, vor allem erlebbaren Fortschritte; das so entstandene Einvernehmen zwischen Ludwig Erhard und der deutschen Bevölkerung, das es ihm gestattete, nicht bloß Adenauers Misstrauen mit wissenschaftlichem Beistand von Wilhelm Röpke zu neutralisieren, sondern auch die Angriffe seiner "sozialistischen Widersacher", gar einen "Generalstreik gegen die Marktwirtschaft" (12. November 1948) erfolgreich auszubremsen; die Motivation der 'Trümmerfrauen', der Kriegsheimkehrer, der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten sowie aus der sowjetischen Zone Deutschlands, die zusammen mit den Westdeutschen am Wiederaufbau beteiligt waren, sowie der Lastenausgleich; der beginnende Kalte Krieg, die Korea-Krise, die Marshallplanhilfe oder die Überbewertung des US-Dollars: So bedeutete zwar "die Fixierung der D-Mark in Höhe von DM 4.20 für den US-Dollar (...) zweifellos eine zu hohe Bewertung", belebte aber doch die Exporte.

Könnte sich Erhards Modell auch für Deutschland als ein Solitär erweisen, weil dem Land die Stabilitätskultur abhanden gekommen ist, sich die Gesellschaft sehr stark pluralisiert hat, echter Streit um bessere Alternativen mangels klarer konzeptioneller Konturen und personaler Profile selten ist und die Flucht in Formelkompromisse bequemer scheint? Es bleibt das historische Vorbild, zumal "die Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft auf jenen gleichen Maximen beruhen, die moderne soziale und freiheitliche Demokratie tragen sollen". Es war die eindeutige politische Absage Erhards an "Planwirtschaft" und "einen neuen Dirigismus" und die klare Ansage "für die Wahrung der menschlichen Freiheit", für "soziale Gerechtigkeit" im "Vertrauen in unseren Rechtsstaat" zur Verwirklichung der "Ordnungsgrundsätze", "die freiheitliche und echte menschliche Beziehungen sicherstellen sowohl auf dem menschlichen Felde als auch im Bereich des politischen Lebens".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diesen Begriff lehnte Erhard allerdings ausdrücklich ab, "weil sich in Deutschland kein Wunder ereignet hat, sondern eine auf freiheitlichen Prinzipien begründete Wirtschaftspolitik der menschlichen Arbeit, die Wert und Sinn verhieß, und der Fleiß und die Hingabe eines Volkes wieder Zwecken der menschlichen Wohlfahrt nutzbar gemacht wurden".

  2. Bundesminister für Wirtschaft vom 20. 9. 1949 bis zum 16. 10. 1963, seiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

  3. Sämtliche Anmerkungen sind belegt und beziehen sich auf folgende Werke von Ludwig Erhard: Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, Berlin-Nürnberg 1944, Faksimiledruck 1997; Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1954; Wohlstand für Alle, bearbeitet von Wolfram Langer, Düsseldorf - Wien 1964(8); Freiheit, Recht und Ordnung sind Voraussetzungen der Demokratie, in: Soziale Marktwirtschaft - Ordnung der Zukunft, in: Handelsblatt vom 3. 2. 1972, Sonderausgabe anlässlich des 75. Geburtstages von Ludwig Erhard; Soziale Marktwirtschaft - Heute und Morgen, in: Ludwig Erhard/Alfred Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Manifest '72, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1972; Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Reden und Schriften, herausgegeben von Karl Hohmann, Düsseldorf-Wien-New York 1988.

  4. Vgl. Bodo Gemper, Die Deutsche Mark und die Soziale Marktwirtschaft. Die Währungsreform als Beginn einer schöpferischen Symbiose vor 50 Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (1998) 24, S. 3 - 12.

  5. Paul A. Samuelson, Economics, Tokyo u.a. 1973(9), S. 806.

  6. Horst Köhler, "Freiheit und Teilhabe". Rede auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin am 22. Mai 2006, in: Horst Köhler, Reden und Interviews, Bd. 2, Berlin 2006, S. 301.

  7. Angela Merkel, Rede der Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Union Deutschlands auf dem 20. Parteitag der CDU Deutschlands. Auszug aus dem Stenographischen Protokoll, Dresden, 27. 11. 2006, S. 16.

  8. Ebd., S. 16.

  9. In der Europäischen Akademie Otzenhausen am 9.November 2003.

  10. Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SDP, Bonn-Berlin 2005, S. 20.

  11. H. Köhler (Anm. 6), S. 300.

  12. Christian Watrin, Fünf Jahrzehnte Soziale Marktwirtschaft: Eine Bilanz, in: Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Zum 100. Geburtstag von Wilhelm Röpke, Krefeld 2000, S. 17.

  13. Otto Schlecht, Die Bedeutung ordnungspolitischer Prinzipien heute und morgen, in: Ludwig-Erhard-Stiftung, Die Wirtschaftsordnungspolitik vor aktuellen Herausforderungen, Bonn 1991, S. 40.

  14. Angela Merkel, Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 4. Sitzung, vom 30.11. 2005, Protokoll 16/4, S. 77 II.

  15. Erhard habe zwar "erhebliche Widerstände zu überwinden" gehabt. "Dennoch war seine Aufgabe verhältnismäßig einfach. Er musste nur ein paar Generäle und ihre Berater überzeugen." Randolf Rodenstock, Chancen für alle. Die Neue Soziale Marktwirtschaft, Köln 2001, S. 31.

  16. Artur Woll, Wirtschaftspolitik, München 1992(2), S. 84.

  17. Horst Friedrich Wünsche, Die Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und ihr Verfall in den sechziger und siebziger Jahren, in: Otto Schlecht/Gerhard Stoltenberg (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft. Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, Freiburg-Basel-Wien, S. 62.

  18. Helmut Kohl, Programm der Erneuerung. Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 4.Mai 1983, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Reihe Berichte und Dokumentationen, Bonn 1983, S. 10.

  19. H. Kohl (Anm. 18), S. 12ff.

  20. Otto Schlecht, Brauchen wir ein neues soziales Leitbild?, in: Bodo B. Gemper (Hrsg.), Wirtschaftsfreiheit und Steuerstaat, Festvortrag von Prof. Dr. Paul Kirchhof zu Ehren des Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung, Prof. Dr. Christian Otto Schlecht, Lohmar-Köln 2001, S. 69.

  21. Ralf Dahrendorf, Wie sozial kann die Soziale Marktwirtschaft noch sein? 3. Ludwig-Erhard-Lecture am 28. 10. 2004 in Berlin, Chancen für alle, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin 2004, S. 21.

  22. Peter Koslowski, Das Ende der Sozialen Marktwirtschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11. 2006, S. 15.

  23. Helmut Jenkis, "Soziale Marktwirtschaft" - eine Leerformel? - Versuch einer Konkretisierung, in: Ders. (Hrsg.), Freiheit und Bindung. Beiträge zur Ordnungspolitik, Berlin 2006, S. 75 - 98.

  24. A. Merkel (Anm. 7), S. 13.

  25. O. Schlecht (Anm. 13), S. 49.

  26. J. Jürgen Jeske u a., Vorwort, in: Otto Schlecht, Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft. Erfahrungen, Orientierungen und Handlungsempfehlungen, Frankfurt/M. 2001, S. 5.

  27. O. Schlecht (Anm. 13), S. 40.

  28. Karen Ilse Horn, Moral und Wirtschaft. Zur Synthese von Ethik und Ökonomik in der modernen Wirtschaftsethik und zur Moral in der Wirtschaftstheorie und im Ordnungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft, Tübingen 1996, S. 115.

  29. Isabel Mühlfenzl, Laudationes (zum Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik 2006), in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, (2006) 110, S. II.

  30. Ebd., S. II.

  31. K. I. Horn (Anm. 28), S. 115.

  32. Vgl. Egon Edgar Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962(2). Nawroth würdigt "das Wesen der sozialen Marktwirtschaft" im Lichte der "Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus" und erklärt, worin sich u.a. F. Böhm, L. Erhard, W. Eucken oder A.Müller-Armack ordnungspolitisch unterscheiden und wie die Soziale Marktwirtschaft "in sich die Elemente der Freiheit, der Selbstbestimmung und Gemeinhaftung" vereinigt (S.374).

  33. Hermann J. Abs, Gewinn ist gut, aber nicht alles. Das Selbstverständnis des Unternehmens heute, in: Handelsblatt vom 16./17.2. 1973, S. 26.

  34. Ebd.

  35. Alfred Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 9. Bd., Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, S. 391.

  36. Gerhard Schwarz, An den Grenzen des Wohlfahrtsstaates, in: ders. (Hrsg.), Das Soziale der Marktwirtschaft, Zürich 1990, S. 13.

  37. Hans Tietmeyer, Soziale Marktwirtschaft und stabile Geldordnung: Zwei Seiten einer Medaille, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Ludwig-Erhard-Medaille für Verdienste um die Soziale Marktwirtschaft, Bonn 1999, S. 16.

  38. Vgl. Herbert Giersch u.a., The Fading Miracle. Four decades of market economy in Germany, Cambridge-New York-Melbourne 1994, S. 10.

  39. Vgl. B. Gemper (Anm. 4), S. 6 II.

  40. Zu würdigen im Kontext der Akzelerator- und Multiplikatorwirkungen.

  41. Karl A. Schiller, Reden zur Wirtschaftspolitik, Bundesministerium für Wirtschaft, BMWI-Texte, Bd. 1, Bonn 1967, S. 49.

  42. H. F. Wünsche (Anm. 17), S. 62.

  43. Ebd., S. 63.

  44. Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte, München-Düsseldorf 1998, S. 14.

  45. Die Köpfe hinter dem stabilen Geld, eine Ahnengalerie der Bundesbankpräsidenten (...), in: FAZ vom 12. 5. 2004, S. 15.

  46. Vgl. Manfred J. M. Neumann, Geldwertstabilität: Bedrohung und Bewährung, in: Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 343f.

  47. Vgl. http://www.ludwig-erhard-stiftung.de/organisation.htm (12.2. 2007).

  48. Ch. Watrin (Anm. 12), S. 17.

  49. Claus Köhler, Internationalökonomie. Ein System offener Volkswirtschaften, Berlin 1990, S. 5.

  50. Ebd.

  51. Europäischer Konvent, Vertrag über eine Verfassung für Europa, Entwurf, Luxemburg 2003, S. 9.

  52. A. Merkel (Anm. 7), S. 15.

  53. Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 8.

  54. Ebd., S. 759.

  55. Vgl. Wilhelm Röpke, Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig? Analyse und Kritik, Stuttgart-Köln 1950.

  56. Gesetz über den Lastenausgleich vom 14.8. 1952.

Dr. rer. pol., DCom., geb. 1936; Professor emeritus für Volkswirtschaftslehre an der Universität Siegen.