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Religionen in Konflikten - eine Herausforderung für die Friedenspolitik

Andreas Hasenclever Alexander De Juan Alexander De Andreas Hasenclever / Juan

/ 16 Minuten zu lesen

Glaube und Gewalt gehen in vielen kriegerischen Konflikten eine unheilvolle Allianz ein. Dies hängt auch damit zusammen, dass religiöse Traditionen von politischen Eliten zur Legitimation von Gewaltstrategien instrumentalisiert werden.

Einleitung

Für viele Zeitgenossen besteht zwischen Glaube und Gewalt ein einfacher Zusammenhang. Demnach machen religiöse Unterschiede den Ausbruch von Kriegen wahrscheinlicher und erhöhen ihre Dauer. Ein kurzer Blick auf die einschlägigen Statistiken zeigt allerdings schnell, dass die Zusammenhänge komplexer sind. Während beispielsweise die Zahl der bewaffneten Konflikte seit Mitte der neunziger Jahre überall auf der Welt rückläufig ist, melden Soziologen seit Mitte der achtziger Jahre ein globales Erstarken religiöser Bewegungen. Entsprechend kann die offenkundige Renaissance der Religion nicht unmittelbar als Gefahr für den Frieden gelten, denn sonst müssten wir ja eine Zunahme und nicht eine Abnahme militärischer Konflikte beobachten können.





Allerdings darf diese abstrakte Beobachtung nicht darüber hinwegtäuschen, dass Glaube und Gewalt in vielen Konflikten nachweislich eine unheilvolle Allianz eingehen. Religiöse Differenzen tragen immer wieder dazu bei, dass Kriege ausbrechen und mit größter Härte geführt werden. Eine verbreitete "primordialistische" Erklärung für diese unheilvolle Allianz besagt, dass dogmatische Differenzen zwischen politischen Gruppen zwangsläufig zu sozialen Abgrenzungsprozessen führen, die das Misstrauen zwischen den Gruppen maßlos steigern und die Bereitschaft der Gruppenmitglieder erhöhen, Gruppeninteressen mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Die empirische Kriegsursachenforschung widerspricht aber auch der "primordialistischen" Perspektive. Religiöse Überlieferungen sind in kriegerischen Auseinandersetzungen nur selten der primäre Konfliktgegenstand. Vielmehr werden Kriege in aller Regel aus politischen und ökonomischen Gründen geführt. Dabei kommt rational handelnden Eliten eine zentrale Bedeutung zu. Sie versuchen in den hochdynamischen Entscheidungskontexten von Gewaltkonflikten immer die Strategie zu wählen, mit der sie meinen, ihre Ziele mit möglichst geringem Mitteleinsatz erreichen zu können. Religiöse Traditionen dienen in diesem Zusammenhang als Mobilisierungsressource. Sie werden benutzt, um Gefolgschaft und Gewaltbereitschaft zu motivieren. Im Umkehrschluss gilt deshalb: Je besser eine religiöse Gemeinschaft vor einer solchen Vereinnahmung ihrer Traditionen durch gewaltbereite Eliten geschützt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass religiöse Differenzen konfliktverschärfend wirken. Entsprechend ist eine präventive Instrumentalisierungsprophylaxe als zentrale Herausforderung der Friedenspolitik zu verstehen. Ein erster Blick auf religiöse Friedensbewegungen legt dabei nahe, dass sich entsprechende Maßnahmen an vier Merkmalen gewaltresistenter Glaubensgemeinschaften orientieren können: Dem Grad religiöser Aufklärung, der Ausrichtung institutionalisierter religiöser Diskurse, dem Autonomiepotenzial und der Öffentlichkeitsstruktur einer Religionsgemeinschaft.

Religiöse Differenzen sind keine Kriegsursache

Die bekannten Thesen von Samuel Huntington zum Verhältnis von Religion und Gewalt im 21. Jahrhundert halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Mit Blick auf die internationale Politik zeigt eine ganze Reihe von Studien, dass das Kriegsrisiko zwischen Staaten aus unterschiedlichen Religionskreisen nicht signifikant höher ist als das zwischen Staaten aus ein und demselben Religionskreis. Deshalb lassen sich internationale Gewaltkonflikte nach wie vor plausibel als Macht- und Interessenrivalitäten interpretieren, die mit religiösen Differenzen einhergehen können, es aber nicht müssen.

Ein ähnliches Bild zeigt die Analyse von Bürgerkriegen. Zwar gab und gibt es viele blutige Auseinandersetzungen, in denen sich Andersgläubige gegenüberstanden und -stehen. Denken wir nur an die Ausschreitungen in Thailand, Indonesien oder auf den Philippinen, an Nigeria, die Elfenbeinküste oder auch an den Kosovo und Tschetschenien. Aber es lassen sich weltweit etwa gleich viele Gewaltkonflikte ohne religiöse Konnotationen identifizieren. Die schiere Zahl von Bürgerkriegen zwischen Angehörigen ein und derselben Religion hat zur Folge, dass Glaubensunterschiede in quantitativen Untersuchungen bedeutungslos werden. Das Kriegsrisiko einer Gesellschaft wird offenkundig nicht wesentlich von ihrer religiösen Struktur beeinflusst.

Gleichzeitig unterstreichen statistische Analysen die große Bedeutung ökonomischer und politischer Faktoren für die Gewaltanfälligkeit von Ländern. So wächst das nationale Bürgerkriegsrisiko in direkter Abhängigkeit von Wirtschaftskrise und Staatsverfall. Anhaltende Knappheit führt regelmäßig zu massiven Verteilungskonflikten zwischen konkurrierenden Eliten. Dabei können Proteste von der herrschenden Elite so lange unterdrückt werden, wie ihre Repressionsapparate funktionieren. In dem Maße, in dem das nationale Einkommen aber abnimmt, schwindet die staatliche Kontrollfähigkeit. Die Anreize zur Bildung bewaffneter Oppositionsbewegungen durch Gegeneliten steigen. Dies wiederum hat eine deutliche Erhöhung der Bürgerkriegswahrscheinlichkeit zur Folge. Es ist deshalb kein Zufall, dass bewaffnete Feindseligkeiten vor allem in krisengeschüttelten Regionen des Südens zu beobachten sind, während sie in reichen Ländern außergewöhnlich selten bleiben.

Instrumentalisierung religiöser Traditionen

Im Gegensatz zum ersten Eindruck sinnloser Gewalt und maßloser Brutalität in vielen Bürgerkriegsregionen lässt sich im Verhalten der Konfliktparteien ein erschreckend hohes Maß an instrumenteller Rationalität beobachten. Wie auch zwischenstaatliche Kriege, beginnen Bürgerkriege in aller Regel weder spontan, noch werden sie willkürlich geführt. Vielmehr stehen sie am Ende einer oftmals langen Planungs- und Entscheidungskette, in deren Verlauf sich politische Eliten in die Lage versetzen, anhaltende Kampfhandlungen zur Wahrung ihrer Interessen zu organisieren. Sie rekrutieren Truppen, stellen deren Versorgung mit Nahrung, Waffen und Transportmitteln sicher und erschließen interne wie externe Finanzquellen für die notwendige Logistik. Im Zuge der Auseinandersetzungen müssen sie die verfügbaren Verbände strategisch einsetzen, gegnerische Bewegungen so weit wie möglich antizipieren und die interne Disziplin ihrer Truppen optimieren.

In diesem Zusammenhang lässt sich der Rückgriff auf religiöse Traditionen als Strategie interpretieren, Gefolgschaft zu mobilisieren und Gewalt gesellschaftlich zu legitimieren. Dabei zeigt eine Reihe von quantitativen Studien, dass religiöse Differenzen unter bestimmten Bedingungen mit einem erhöhten Eskalationsrisiko für Konflikte einhergehen - allerdings nur als intervenierende Variable. Ihre Wirksamkeit beruht immer auf vorhandenen Macht- und Interessenkonflikten. Wenn beispielsweise religiöse Diskriminierung oder religiöse Unzufriedenheit Macht- oder Wohlfahrtskonflikte begleiten, dann eskalieren diese ungewöhnlich oft.

Religiöse Unterschiede und religiöse Unzufriedenheit wirken mithin nicht als Brandursache, sondern als Brandbeschleuniger. Sie legen das Feuer nicht, an dessen Ausbreitung sie dann beteiligt sind. Damit ergänzen und bestätigen quantitativen Studien eine in der qualitativen Forschung gut dokumentierte Vermutung: Konflikte eskalieren schneller und heftiger, wenn politische Eliten sie mit religiöser Symbolik anreichern. Einschlägige Beispiele für eine solche Instrumentalisierung religiöser Differenzen durch gewaltbereite Eliten sind der Rückgriff Slobodan Milosevics und Franjo Tudjmans auf christliche Symbolik im bosnischen Bürgerkrieg, die muslimische Rhetorik korrupter Eliten in Nordnigeria und der indische Hindu-Chauvinismus.

Instrumentalisierungsresistente Glaubensgemeinschaften

Wenn die strategische Vereinnahmung religiöser Traditionen durch gewaltbereite Eliten zur Konflikteskalation beitragen kann, stellt sich die Frage nach Möglichkeiten effektiver Instrumentalisierungsprophylaxe. Wie lassen sich religiöse Traditionen vor politischer Instrumentalisierung schützen? Einen Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage bildet der Blick auf religiöse Friedensbewegungen, die in Krisensituationen entstanden sind und die sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Gewalt und für friedlichen Wandel eingesetzt haben. Dass diese Bemühungen durchaus effektiv sein können, zeigt beispielsweise das Engagement der katholischen Kirche auf den Philippinen. Sie war Mitte der achtziger Jahre maßgeblich an der "People's Power Revolution" gegen das Marcos-Regime beteiligt und sorgte dafür, dass der Diktator nach gefälschten Wahlen und gegen den Willen der amerikanischen Regierung das Land verlassen musste. Ein weiteres Beispiel ist Südafrika, in dem seit Ende der siebziger Jahre der South African Council of Churches unter der Leitung von Desmond Tutu im gewaltfreien Protest gegen das Apartheidregime engagiert war. Es ist unstrittig, dass nicht zuletzt der Einsatz von Tutu und seiner Gemeinde das Land Ende der achtziger Jahre vor dem Abgleiten in einen blutigen Bürgerkrieg bewahrt hat. Schließlich zeigt sich die Effektivität des Engagements religiöser Akteure für den Frieden auch im Irak. Wenngleich auch die Grenzen des Einflusses des schiitischen Klerus mittlerweile erreicht oder sogar schon überschritten wurden, bleibt für viele Beobachter evident, dass Großayatollah Ali al-Sistani in der Vergangenheit einen ganz entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, den Ausbruch eines offenen Bürgerkriegs zu verhindern.

Nach unserer Einschätzung lassen religiöse Friedensbewegungen bei allen Unterschieden im Detail eine gewisse Familienähnlichkeit im Wittgenstein'schen Sinne erkennen, die auf vier Merkmalen beruht: "Religiöse Aufklärung", "strukturelle Toleranz", "Autonomiepotenzial" und "innerreligiöse Öffentlichkeit". Dabei gehen wir davon aus, dass die gewaltbeschränkende Wirkung der beiden letzten Merkmale maßgeblich von den beiden ersten beeinflusst wird. Nach unserer Überzeugung weisen diese vier Merkmale auf einen viel versprechenden Ansatz für die Entwicklung einer erfolgreichen Instrumentalisierungsprophylaxe hin.

Religiöse Aufklärung

Unter religiöser Aufklärung verstehen wir die Achtung vor der Komplexität religiöser Traditionen. Dabei macht es die Komplexität der Traditionen notwendig, sie vernünftig zu interpretieren - wohl wissend, dass diese Interpretation immer nur vorläufig sein kann. Arbeiten zum Verhältnis von Religion und Gewalt zeigen regelmäßig, dass Glaubensüberschreitungen vor allem dann eskalierend wirken, wenn sie selektiv und mit radikalem Absolutheitsanspruch interpretiert werden. Während diejenigen Traditionen von militanten Eliten betont werden, die Gewalt im endzeitlichen Kampf mit aggressiven Frevlern als angemessen erscheinen lassen und möglicherweise sogar fordern, werden gegenläufige Überlieferungen, welche die fundamentale Würde aller Menschen hervorheben, unterdrückt.

Dieser Mechanismus lässt sich beispielsweise an der Taliban-Bewegung in Afghanistan studieren, deren Anhänger einen Steinzeitislam verkündeten und keinerlei Verständnis für die differenzierte Tradition zum Recht auf kollektive Selbstverteidigung in Notwehrsituationen zeigten. In ähnlicher Weise lässt sich bei der hindu-nationalen Bewegung in Indien ein äußerst selektiver Umgang mit den komplexen Überlieferungen des Subkontinents erkennen. Letztere werden vor allem in den Schulen des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) so aufbereitet, dass sie die gewaltsame Ausgrenzung von Christen und Muslimen fordern und rechtfertigen.

Studien zeigen darüber hinaus, dass Vereinfachungsstrategien umso erfolgreicher sind, je geringer die religiöse Bildung innerhalb der Konfliktgruppen ist. Scott Appleby macht beispielsweise den "religiöse Analphabetismus" von Serben und Kroaten für ihre Toleranz gegenüber der Gewaltpolitik ihrer Regierungen im Bosnienkrieg verantwortlich. Umgekehrt zeichnen sich religiöse Friedensbewegungen in der Regel durch ein hohes Verständnis für die Komplexität ihrer Traditionen aus, die jeder simplen Schwarz-Weiß-Malerei entgegensteht. So wurden beispielsweise innerhalb der christlichen Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika auf sehr hohem Niveau und durchaus kontrovers Fragen des gerechtfertigten Krieges diskutiert.

Schließlich zeigen entwicklungspsychologische und religionspädagogische Untersuchungen, dass die Anfälligkeit für selektive Interpretationen oder auch die Neigung, autoritär strukturierten religiösen Gruppen beizutreten, mit zunehmender religiöser Entwicklung und Aufklärung abnimmt. In diesem Zusammenhang nennt beispielsweise Heinz Streib die Überwindung buchstäblicher Interpretationen und die Förderung des Bewusstseins um die Mehrdeutigkeit sowohl der eigenen Überlieferungen als auch der Komplexität fremder Religionen als zentrale Ziele der religiösen Bildung. Sind die Gläubigen auf diese Weise in den Mythen, Ritualen und zentralen Aussagen ihrer Religion geschult und sich der Komplexität und Interpretationsbedürftigkeit ihrer Inhalte bewusst, sind sie in der Lage, selektive, radikale Auslegungen gewaltbereiter Eliten infrage zu stellen und mit Alternativen aufzuwarten.

Strukturelle Toleranz

Die Inhalte religiöser Schriften und Botschaften sind meist nicht unmittelbar auf bestimmte Situationen anwendbar. Vielmehr müssen sie ausgelegt und konkretisiert werden. Entsprechend hängt die Wirkung religiöser Traditionen weniger von objektivierbaren Dogmen als von kontextbezogenen Interpretationen ab. Dabei entspricht es der grundsätzlichen Natur von Religionen, dass divergierende Deutungen weder bewiesen noch widerlegt werden können. Somit sind auch die Interpretationen anerkannter Autoritäten prinzipiell durch gegenläufige Deutungen angreifbar. Die reine Vorherrschaft toleranter Interpretationen ist daher für sich genommen ebenso wenig ein Garant für die Instrumentalisierungsresistenz religiöser Gemeinschaften wie exklusiv-fundamentalistische Grundausrichtungen für ihre Instrumentalisierungsanfälligkeit. Erst wenn spezifische Deutungen innerhalb religiöser Gemeinschaften auch institutionalisiert werden, können sie deren Instrumentalisierbarkeit beeinflussen. Eine solche Institutionalisierung geht mit der Herausbildung von Praxen und Strukturen einher, in denen sich die inhaltliche Ausrichtung spezifischer Interpretationen materialisiert. Im Falle religiöser Deutungen gehören hierzu etwa religiöse Rituale, die Aufnahmebedingungen religiöser Gemeinschaften, die Ausbildung zukünftiger Geistlicher oder Verhaltenskodizes. In dem Maße, in dem solche Infrastrukturen ausgebildet werden, verfestigt sich ein religiöser Diskurs. Die Flexibilität religiöser Inhalte wird reduziert - eine inhaltliche "Kehrtwende" wird erschwert.

Im Kontext andauernder politischer oder sozialer Konflikte können oftmals radikale religiöse Botschaften institutionalisiert werden und damit die Instrumentalisierungsanfälligkeit religiöser Gemeinschaften erhöhen. In Nigeria beispielsweise wurden Eliten in ihren Verteilungskämpfen um die Gewinne der nigerianischen Ölwirtschaft jahrzehntelang von muslimischen und christlichen Geistlichen mit radikalen Interpretationen unterstützt. Bestandteile einer institutionellen Verfestigung dieser polarisierenden Botschaften sind die Bildung radikaler religiöser Studentengruppen, die Gründung religiöser Dachorganisationen, die als Beschützer ihrer respektiven Glaubensgemeinschaften auftreten, oder die Verbreitung selektiv übersetzter und kommentierter heiliger Schriften. Die institutionelle Stabilität dieser Interpretationen behindert den Einfluss moderater Gegenstimmen und erleichtert die religiöse Mobilisierung durch lokale und nationale Eliten.

Andererseits kann die Institutionalisierung moderater bzw. toleranter religiöser Haltungen die Instrumentalisierungsresistenz religiöser Gemeinschaften erhöhen. Unter den führenden schiitischen Gelehrten Mushin al-Hakim und Abu al-Qasim al-Kho'i wurde die quietistische Tradition des Islam im Irak schrittweise institutionalisiert. Al-Hakim und al-Kho'i zählen zu den Vertretern eines moderaten, apolitischen Islam, der jede Form des schiitischen politischen Aktivismus verurteilt. Beide gehörten zu den einflussreichsten schiitischen Gelehrten ihrer Zeit, publizierten zahlreiche Schriften und bauten weit reichende Netzwerke aus schiitischen Laien und Geistlichen auf. Unzählige junge 'Ulama (muslimische Religionsgelehrte) studierten unter ihrer religiösen Anleitung. Auf diese Weise konnte die quietistische Tradition über mehrere Generationen hinweg institutionalisiert werden und dem eskalierenden politischen Aktivismus von al-Sadr insbesondere in der frühen Phase nach dem Sturz des Baath-Regimes entgegenwirken.

Autonomiepotenzial

Zudem zeigt sich immer wieder, dass Religionen umso leichter instrumentalisiert werden können, je größer die Abhängigkeit etablierter und mitgliederstarker Glaubensgemeinschaften von Staat oder Gesellschaft ist. Etablierte Religionsgemeinschaften mit einer großen Zahl von Gläubigen brauchen Ressourcen: Gotteshäuser, Geistliche und karitative Leistungen müssen finanziert werden; die Ausübung und Vermittlung des Glaubens erfordert entsprechende institutionelle und gesetzliche Rahmenbedingungen. Hierzu gehört beispielsweise die Möglichkeit, religiöse Feste öffentlich zu feiern oder Religionsunterricht anzubieten. Sind religiöse Gemeinschaften beim Zugriff auf diese Ressourcen von der Willkür und dem Wohlwollen staatlicher oder gesellschaftlicher Akteure abhängig, besteht die Gefahr, dass sich ihre Führer zur Legitimierung staatlicher Gewaltpolitik einspannen lassen, um das institutionelle Überleben ihrer Gemeinschaften zu sichern. Dieses Phänomen lässt sich beispielsweise an der Haltung der orthodoxen Kirche zur serbischen Kriegführung im Bosnienkonflikt oder auch an der Instrumentalisierung des katholischen Klerus durch lateinamerikanische Diktaturen studieren.

Umgekehrt ist es für gewaltresistente Glaubensgemeinschaften kennzeichnend, dass sie gegenüber Staat und Gesellschaft autonom sind und dass sie über eigene Finanzquellen und Institutionen verfügen, um ihre Traditionen zu pflegen und eine zeitgemäße Auslegung von Glaubenswahrheit zu betreiben. So war für die konsequente Anti-Apartheid-Politik südafrikanischer Kirchen die Verfügbarkeit über eigenständige theologische Ausbildungsstätten wie das Christian Institute in Johannesburg von entscheidender Bedeutung. Und das Zweite Vatikanische Konzil führte nicht zuletzt deswegen die Institution nationaler Bischofskonferenzen ein, um die Unabhängigkeit der Landeskirchen von weltlichen Mächten zu stärken. Auch der schiitische Klerus verfügt traditionell über eine vergleichsweise große Eigenständigkeit gegenüber staatlichen Instanzen, weil die Gläubigen verpflichtet sind, ihre geistlichen Führer direkt zu unterstützen. Aufgrund seiner engen Kontakte zur al-Kho'i-Stiftung in London ist al-Sistani auch von irakischen gesellschaftlichen Akteuren weitestgehend unabhängig. Die al-Kho'i-Stiftung wurde von al-Sistanis Mentor Abu al-Qasim al-Kho'i ins Leben gerufen und erhält heute den größten Teil der weltweit geleisteten religiösen Spenden der Schiiten ("Khums").

Für die Diagnose der jeweiligen Instrumentalisierungsresistenz bzw. -anfälligkeit religiöser Gemeinschaften ist schließlich zu beachten, dass weniger der tatsächliche Grad der institutionellen und finanziellen Abhängigkeit einer religiösen Gemeinschaft entscheidend ist als vielmehr ihre Fähigkeit, sich gegebenenfalls aus dieser zu lösen. Maßgeblich ist somit nicht die tatsächliche Autonomie, sondern das vorhandene Autonomiepotenzial. Diese Unterscheidung berücksichtigt, dass die beobachtbare Unabhängigkeit einer religiösen Gemeinschaft nicht zwangsläufig impliziert, dass sie tatsächlich autonom überlebensfähig und daher einer Vereinnahmung durch ressourcenstarke Eliten nicht zugänglich ist. Die serbisch-orthodoxe Kirche beispielsweise war vor der Machtübernahme Milosevics durchaus unabhängig von staatlichen Strukturen. Infolge einer jahrzehntelangen Marginalisierung durch das kommunistische Regime der jugoslawischen Föderation hatte sie jedoch ihr Autonomiepotenzial nahezu gänzlich eingebüßt und war daher der unseligen Koalition mit der serbischen Regierung zugänglich. Ebenso bedeutet die aktuelle Abhängigkeit einer religiösen Gemeinschaft nicht, dass sie sich nicht aus dieser lösen könnte, um eine konstruktive Rolle einzunehmen. Der Zugriff auf externe Finanzquellen ermöglichte es beispielsweise der katholischen Kirche in Chile, sich aus dem engen Abhängigkeitsverhältnis zur Regierung zu befreien und eine kritische Position gegenüber dem Pinochet-Regime zu vertreten.

Innerreligiöse Öffentlichkeit

Schließlich lässt sich beobachten, dass religiöse Gemeinschaften dann besonders instrumentalisierungsanfällig sind, wenn ihre Strukturen es einzelnen Autoritäten erleichtern, ihre Anhänger mit exklusiven Interpretationen zu versorgen und vor alternativen Deutungen abzuschirmen. Solange die Auslegungen einzelner Autoritäten konkurrenzlos bleiben, können die Gläubigen nur schwerlich beurteilen, ob es sich um die selektive Interpretation eines radikalen und isolierten Predigers oder den Konsens des religiösen Establishments handelt. In Nigeria beispielsweise verhindern zahlreiche Einzelkonflikte innerhalb und zwischen verschiedenen Sufi-Bruderschaften sowie selbsternannten Vertretern des orthodoxen Islam die Integration der islamischen Gemeinschaft und damit eben auch die Isolierung radikaler Prediger sowie die Infragestellung ihrer selektiven Interpretationen.

Umgekehrt zeichnen sich viele instrumentalisierungsresistente Gemeinschaften durch komplexe intrareligiöse Strukturen aus, welche die Etablierung von Deutungsmonopolen im oben genannten Sinne verhindern. Zwei Faktoren spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle: innerreligiöse Koalitionsbildungen und transnationale Vernetzung. So können dezentrale Zusammenschlüsse von Geistlichen dazu beitragen, radikale Strömungen zu isolieren und gegenüber den Gläubigen zu delegitimieren. In solchen innerreligiösen "Deutungskoalitionen" bündeln moderate Interpreten ihre Autorität und stellen die Rechtmäßigkeit selektiver Auslegungen in Frage. Im Irak beispielsweise haben sich die Großayatollahs in Najaf angesichts des wachsenden Einflusses des militanten Predigers Moqtada al-Sadr öffentlich koordiniert, um ihre Autorität durch gemeinsame religiöse Anweisungen zu erhöhen. Auf gleiche Weise hat das buddhistische religiöse Establishment (Sangha) auf Sri Lanka in den neunziger Jahren gezielt darauf hingearbeitet, Entscheidungen zwischen verschiedenen religiösen Führern abzustimmen, um die Abspaltung einzelner Geistlicher zu verhindern und ein starkes interpretatives Gegengewicht gegenüber radikalen Mönchen zu bilden.

Schließlich kann die Verbreitung selektiver Interpretationen auf der Basis der gleichen Mechanismen auch durch die transnationale Vernetzung religiöser Gemeinschaften erschwert werden. So hat beispielsweise die Verurteilung der Apartheid und die korrespondierende Unterstützung gewaltfreier Protestbewegungen durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und die World Alliance of Reformed Churches (WARC) den Wandel der großen Mehrheit der südafrikanischen Kirchen von Befürwortern der Rassendiskriminierung zu ihren schärfsten Kritikern nachhaltig beeinflusst. Diese transnationale Einbindung ermöglichte den Gemeinden einen kritischen Blick auf die eigenen Überlieferungen und ihre politische Verantwortung, der schließlich dazu führte, dass dem Regime in Pretoria mehrheitlich die Unterstützung entzogen wurde und es sich für einen möglichst gewaltfreien Wandel eingesetzt hat.

Schlussbemerkungen

Kriege werden in aller Regel aus politischen oder ökonomischen Gründen geführt. Gleichwohl können Religionen einen nachhaltigen Einfluss auf den Konfliktverlauf nehmen. Sie können dazu beitragen, dass manche Konflikte eskalieren, die ohne Beimischung religiöser Symbolik nicht eskaliert wären, und sie können verhindern, dass manche Konflikte eskalieren, die ohne Engagement von Glaubensgemeinschaften sicherlich eskaliert wären.

Eine Betrachtung religiöser Friedensbewegungen deutet darauf hin, dass sich instrumentalisierungsresistente Glaubensgemeinschaften insbesondere durch vier Merkmale auszeichnen: Respekt vor der Komplexität ihrer Überlieferungen, strukturelle Toleranz in Form von institutionalisierten moderaten Diskursen, ein hohes Autonomiepotenzial gegenüber Staat und Gesellschaft sowie eine diversifizierte innerreligiöse Öffentlichkeit. Zweifellos existieren weitere Faktoren, welche von der zukünftigen Forschung zu identifizieren sind. Zudem sind die Wechselwirkungen zwischen den genannten Merkmalen bislang unzureichend erforscht. Schließlich ist unstrittig, dass jedes dieser Merkmale für sich genommen auch kontraproduktiv wirken kann und es auf die stimmige und selbstverstärkende Komposition von religiöser Aufklärung, struktureller Toleranz, institutioneller Autonomie und innerreligiöser Öffentlichkeit ankommt.

Erweisen sich die genannten Eigenschaften dennoch als Leitvariablen, ergeben sich hieraus unmittelbare friedenspolitische Handlungsempfehlungen. Es ginge dann darum, eine Religionsaußenpolitik ins Werk zu setzen, die darauf abzielt, religiöse Bildung zu stärken, die institutionelle Festigung moderater Interpretationen voranzutreiben, religiöse Autonomie zu fördern sowie die interne Koalitionsbildung und transnationale Vernetzung von Glaubensgemeinschaften zu unterstützen. Zwar würde dies erfordern, dass der weltanschaulich neutrale Staat über seinen "säkularen Schatten" springt, doch verdeutlichen die derzeit im Irak beobachtbaren Entwicklungen die Notwendigkeit, die Instrumentalisierungsprophylaxe als Herausforderung der Friedenspolitik ernst zu nehmen.

Richtigstellung

In APuZ 1-2/2007 schreibt Matthias Biskupek auf S.18, die Argumentation des Journalisten Hans-Joachim Föller gegen Landolf Scherzers Buch "Der Grenz-Gänger" gipfele in dem Vorwurf, Scherzer habe ein "verzerrtes Weltbild". Das Zitat ist falsch. Diesen Begriff hat Föller in seinen Besprechungen des Buches nicht verwendet. Auf Seite 17 findet sich das korrekte Zitat aus Föllers Rezension im "Tagesspiegel": "Scherzer (...) arbeitet mit verfälschten, irreführenden und erfundenen Zitaten und konstruiert ein Zerrbild von den wirklichen Verhältnissen." Die Landesbeauftragte des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Hildigund Neubert, legt Wert auf die Feststellung, dass sie im Rahmen einer Ausstellung im Thüringer Landtag, aus der eine Werner-Tübke-Graphik entfernt worden ist, kein "verbindliches Weltbild" gefordert habe, wie von Biskupek behauptet wird. Eine solche Forderung habe sie auch anderen Orts nicht erhoben.

Die Redaktion

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien 1996.

  2. Vgl. Giacomo Chiozza, Is There a Clash of Civilizations? Evidence from Patterns of International Conflict Involvement, 1946 - 1997, in: Journal of Peace Research, 39 (2002) 6, S. 711 - 734; Erik Gartzke/Kristian Skrede Gleditsch, Identity and Conflict: Ties that Bind and Differences that Divide, in: European Journal of International Relations, 12 (2006) 1, S. 53 - 87.

  3. James D. Fearon/David D. Laitin, Ethnicity, Insurgency, and Civil War, in: American Political Science Review, 97 (2003) 1, S. 75 - 90; Jonathan Fox, Religion, Civilization, and Civil War. 1945 Through the New Millenium, Lanham u.a. 2004.

  4. Vgl. Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität von Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt (KZfSS Sonderheft 37), Opladen 1995, S. 86 - 101.

  5. Vgl. R. Scott Appleby, The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham u.a. 2000 ; Volkhard Krech, Opfer und Heiliger Krieg: Gewalt aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Opladen 2002, S. 1254 - 1275.

  6. Vgl. Guido Steinberg, Die irakische Aufstandsbewegung: Akteure, Strategien, Strukturen, SWP- Studie, Berlin 2006; Faleh A. Jabar, The Worldly Roots of Religiosity in Post-Saddam Iraq, in: Middle East Report, (Sommer 2003), S. 12 - 18.

  7. Vgl. S. Appleby (Anm. 5).

  8. Vgl. Heinz Streib, Fundamentalism as a Challenge for Religious Education, in: Religious Education, 96 (2001) 2, S. 227 - 244.

  9. Vgl. Thomas Scheffler, Introduction. Religion between Violence and Reconciliation, in: ders. (Hrsg.), Religion between Violence and Reconciliation. Beiruter Texte und Studien, Bd. 76, Würzburg 2002, S. 13.

  10. Vgl. Jibrin Ibrahim, Religion and Political Turbulence in Nigeria, in: The Journal of Modern African Studies, 29 (1991) 1, S. 115 - 136.

  11. Vgl. Pierre-Jean Luizard, The Nature of Confrontation Between the State and Maja'ism. Grad Ayatollah Mushin al-Hakim and the Ba'th, in: Faleh A. Jabar (Ed.), Ayatollahs, Sufis and Ideologues. State, Religion and Social Movements in Iraq, London 2002, S. 90 - 100; Yousif Al-Kho'I, Grand Ayatollah Abu al-Qassim al-Kho'i: Political Thought and Positions, in: F. A. Jabar, ebd., S. 223 - 230.

  12. Eine solche apolitische Ausrichtung ist nur eine Form möglicher religiöser Haltungen, deren Institutionalisierung die Instrumentalisierungsresistenz religiöser Gemeinschaften fördern kann. Eine weiteres wäre etwa das "ökumenischen Bewusstsein" religiöser Gemeinschaften. Der von Karl-Josef Kuschel (Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt - und was sie eint, Düsseldorf 2001) geprägte Begriff bezeichnet die grundsätzliche Anerkennung der inneren Würde anderer Religionen. Mit einem ökumenischen Bewusstsein verbindet sich also ein grundlegender Respekt vor fremden Traditionen, der sich aus der Erkenntnis gemeinsamer Werte und Abhängigkeiten ableitet. In einer Analyse zweier islamischer Bewegungen in Besatzungssituationen kann Michael Hörter (Das Konfliktverhalten islamischer Bewegungen in Besatzungssituationen. Tübinger Arbeitspapier Nr. 49, 2006) zeigen, dass unter sonst durchaus vergleichbaren Bedingungen ökumenisches Bewusstsein mit gewaltfreiem Widerstand einhergeht, während ein exklusives Heilsverständnis gewaltsamen Widerstand nach sich zieht.

  13. Vgl. F. A. Jabar (Anm.6), S.17.

Dr. rer. soc., geb. 1962; Professor für Friedensforschung und internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, Melanchthonstr. 36, 72074 Tübingen.
E-Mail: E-Mail Link: andreas.hasenclever@uni-tuebingen.de

M.A., geb. 1979; Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs "Globale Herausforderungen - Transnationale und transkulturelle Lösungswege" an der Universität Tübingen.
E-Mail: E-Mail Link: alexander.de-juan@uni-tuebingen.de