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Morbide Symptome | Menschenrechte | bpb.de

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Morbide Symptome Die Krise der Menschenrechte - Essay

Stephen Hopgood

/ 9 Minuten zu lesen

In vielen Staaten des Westens gibt es Anzeichen einer schleichenden Entliberalisierung. Gleichzeitig gewinnen auf internationaler Ebene neue Mächte an Einfluss. Mit dem Ende der westlichen Führung geraten auch die Menschenrechte unter Druck.

Das neuartige Coronavirus hat Regierungen aller Art – liberal-demokratische, rechts- wie linkspopulistische, autoritäre und diktatorische – dazu veranlasst, Notstandsgesetze zu verabschieden und persönliche und bürgerliche Freiheiten zu beschneiden. Was können wir schon sagen, wenn es heißt, ein Verstoß gegen die Regeln gefährde das Überleben Zehntausender älterer Mitbürger? Die Sorge um das Leben anderer, Fremde eingeschlossen, kann sogar als Beleg für die Bedeutung der Menschenrechte jedes Einzelnen in der heutigen modernen Zivilisation gelten.

Aber werden uns die Regierungen unsere Freiheiten wiedergeben, wenn der Albtraum vorbei ist? Oder werden bei anhaltenden Maßnahmen selbst die Wachsamsten unter uns aufgrund der allgemeinen Angst immer gleichgültiger werden gegenüber Einschränkungen des täglichen Lebens, die uns zum Wohl der Allgemeinheit auferlegt sind? Werden einige Regierungen feststellen, dass das Bedienen der dunkleren Bedürfnisse der Menschen – ihre Angst, ihre Neigung, andere zu beurteilen, ihre Vorbehalte gegenüber Andersartigem, ihren Drang, anderen die Schuld zu geben – sie gefügiger macht? Werden Wahlen, ja vielleicht der gesamte demokratische Prozess mit der Begründung außer Kraft gesetzt werden, jetzt sei nicht die richtige Zeit, sich um die Freiheiten des Einzelnen zu sorgen? Sind wir wieder in einer ähnlichen Situation wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001, nur dieses Mal mit viel weitreichenderen Konsequenzen?

Schon bald werden wir unsere Welt in eine Zeit vor und nach Corona einteilen. Die Menschenrechte befinden sich jedoch bereits seit Längerem in Bedrängnis. Ihr Niedergang setzte spätestens mit der Militärintervention der Nato in Libyen ein – dem bis dato letzten Mal, dass China zuließ, dass die Nato und die USA die Unterstützung der Vereinten Nationen für ein Vorgehen erhielten, das Peking widerstrebte –, nach der der Einfluss der USA und des Westens deutlich zu schrumpfen begann. Die Welt, die Menschenrechte Geltung verschaffen konnte, existiert nicht mehr. Das Coronavirus beschleunigt diesen Transformationsprozess und gibt ihm eine unvorhersehbare Richtung.

In seinen "Gefängnisheften" schrieb der italienische Kommunist und Philosoph Antonio Gramsci über die 1920er und 1930er Jahre: "Die Krise besteht genau darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Zwischenreich tritt eine Vielzahl von morbiden Symptomen auf." Diese Symptome sind mit Blick auf die Menschenrechte schon seit einiger Zeit zu beobachten.

Schleichende Entliberalisierung

Das offensichtlichste Symptom ist der Aufstieg von Parteien und Demagogen, deren Nationalismus und Abschottungspolitik den Faschismus vergangener Zeiten anklingen lassen. In den EU-Mitgliedstaaten bemühen sich rechtsgerichtete Parteien, an die Regierung zu kommen, in einigen Ländern wie etwa in Ungarn haben sie es sogar schon geschafft. Doch auch in den USA ist das Aufkommen einer nationalistischen, personenfokussierten und gegen Einwanderung gerichteten Politik zu beobachten, in der Eliten und der Rechtsstaat als Hindernisse betrachtet werden, die es zu überwinden gilt. Unter Präsident Donald Trump kann die US-Regierung ungestraft lügen, Folter wird offen empfohlen, und in der Außenpolitik haben Drohungen und Aggressionen die internationale Zusammenarbeit und den Multilateralismus ersetzt. Diese Elemente hat es in der US-Politik zwar schon immer gegeben, doch findet sich in der jüngeren Vergangenheit kein US-Präsident, der seine rechten Instinkte so unverhohlen zum Ausdruck brachte wie Trump.

Das Problem ist nicht auf westliche Staaten beschränkt. Hunderttausende Uiguren sind derzeit in chinesischen Internierungslagern inhaftiert, und der chinesische Staatspräsident Xi Jinping scheint fest entschlossen, auf Lebenszeit an der Macht zu bleiben, ähnlich wie Präsident Wladimir Putin in Russland. In Syrien geht die Bombardierung der Zivilbevölkerung, bei der auch gezielt Krankenhäuser angegriffen werden, auf Befehl von Machthaber Assad und seinem Verbündeten Putin weiter. Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen, bei denen autoritäre Regierungen und Parteien in unterschiedlicher Form an umfangreichen Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind – in der Türkei, in Indien, auf den Philippinen, in Thailand, Ägypten, Iran, Saudi-Arabien, im Jemen, im Irak, in Venezuela, Myanmar und Brasilien, ganz zu schweigen von Nordkorea und den zentralasiatischen Republiken.

Ein Skeptiker könnte nun sagen: Viele dieser Länder hatten schon immer eine autoritäre Regierung, Viktor Orbán ist der einzige offen illiberale Politiker, der derzeit in Europa an der Macht ist, und Trump ist einfach eine Abweichung. Es wäre ein Fehler, so könnte der Skeptiker hinzufügen, von ein paar prominenten Beispielen auf einen Trend zu schließen.

Doch meiner Meinung nach sind hier Symptome einer tieferliegenden, schleichenden Entliberalisierung zu erkennen – Veränderungen unterhalb der Oberfläche, die eine populistische Politik in die Mitte demokratischer Gesellschaften rücken. Ihre Wurzeln liegen darin, dass das westliche, demokratisch-kapitalistische Modell des Wirtschaftswachstums nicht mehr haltbar ist und die Regierungen immer weniger in der Lage sind, etwas gegen seine "externen Effekte", etwa die massive Umweltzerstörung, zu unternehmen. Diese Form des Kapitalismus, bei der sich das Vermögen in den Händen von immer weniger Menschen konzentriert, die nicht mehr sinnvoll zur Verantwortung gezogen werden können, führt wohlhabende Gesellschaften in die Klemme: Auf der einen Seite stehen die Jungen, die gesellschaftlich progressive Arbeiterklasse und die Umweltbewussten sowie zahlreiche soziale Bewegungen, die allesamt eine gerechtere Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen fordern und von einem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Klimawandel ausgehen. Für viele von ihnen ist nicht weniger, sondern mehr Regulierung die Lösung. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die Ungleichheit damit erklären, dass ihnen das, was sie als ihr angestammtes Recht betrachten, von Menschen genommen wird, die nicht richtig zu ihrer Gemeinschaft gehören würden – Einwanderer, Muslime, Flüchtlinge – und denen die Ressourcen daher nicht zustehen.

Mit anderen Worten: Einem umweltbewussten demokratischen Sozialismus steht ein rechtsgerichteter Nationalismus gegenüber, die Linke gegen die Rechte. Auf jeder Seite herrscht Skepsis gegenüber Eliten, Höhergebildeten, Liberalen, gemäßigten Politikern der Mitte und generell gegenüber allem, was man als "Weiter so" bezeichnen könnte. Dieses "Weiter so" ist jedoch das Lebenselixier einer kapitalistischen Demokratie, zu deren wesentlichen Merkmalen die Menschenrechte gehören. In der Tat sind die Menschenrechte für die Linke schlicht keine effektive Grundlage für eine sinnvolle Solidarität, die daraus entsteht, dass viele Menschen ihr gemeinsames Interesse an einem radikalen Wandel erkennen und dieses Interesse gemeinsam verfolgen. Für die Rechte sind die Menschenrechte eine liberale Falle, eine Art Taschenspielertrick, mit dem man "wahren" Bürgern ihre angeborenen Rechte durch Verfahren rauben will, bei denen traditionelle nationale Identitäten eine untergeordnete Rolle spielen.

Wenn die Aussichten in immer mehr westlichen Staaten also düster sind, können wir dann wenigstens auf die breite Palette internationaler Instrumente zur Förderung der Menschenrechte zurückgreifen?

Das internationale System der Menschenrechte

Auf internationaler Ebene gibt es neben der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte neun grundlegende Menschenrechtsabkommen: für bürgerliche und politische Rechte, für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, gegen Rassendiskriminierung, gegen die Diskriminierung von Frauen, gegen Folter, zum Schutz der Kinder, zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitern, zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie gegen das Verschwindenlassen. Ihre Einhaltung wird von Expertenausschüssen überwacht. Hinzu kommen der UN-Menschenrechtsrat, der die Menschenrechtssituation in den UN-Mitgliedstaaten regelmäßigen Überprüfungen unterzieht, und das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, das die Menschenrechtsarbeit innerhalb der Vereinten Nationen koordiniert.

Jenseits der Vereinten Nationen gibt es mehrere regionale Menschenrechtsabkommen und -konventionen, von denen einige auch mit Mechanismen zu ihrer Überwachung ausgestattet sind. Ferner fungiert der Internationale Strafgerichtshof, der zwar offiziell für das Völkerstrafrecht zuständig ist, in vielerlei Hinsicht als Gericht für Menschenrechte, vor allem im Bereich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber hinaus ist eine ganze Reihe weltweit einflussreicher zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsorganisationen aktiv – die bekanntesten sind wohl Amnesty International und Human Rights Watch. Sie werden ergänzt durch unzählige regionale, nationale und lokale Menschenrechtsgruppen.

Auf den ersten Blick hat man also durchaus den Eindruck, dass die Menschenrechte international dauerhaft etabliert sind. Warum sollte jemand daran zweifeln? Es gibt zwei wesentliche Gründe: die grundlegende Bedeutung einer starken westlichen Vorreiterrolle für das Funktionieren des globalen Menschenrechtsapparates und das (Wieder-)Erstarken nationalistischer und religiöser Kräfte in der Politik. Da wir in manchen westlichen Staaten Politiker haben, die multilaterale und universale Forderungen nach Rechten zunehmend mit Skepsis betrachten, entwickelt sich nun eine Lücke, wo sich einst die Unterstützer der Menschenrechte sammelten. Und so überträgt sich die Situation von der nationalen auf die internationale Ebene.

Niedergang der westlichen Führung

Durch das Argument, dass mit der schwindenden westlichen Führung auch das Schicksal der Menschenrechte besiegelt ist, soll keineswegs außen vor bleiben, dass westliche Staaten häufig heuchlerisch und eigennützig mit den Menschenrechten umgegangen sind und selbst auch schwere Menschenrechtsverstöße begangen haben – man denke nur an die USA in Vietnam. Ich möchte damit Folgendes sagen: Wenn Menschenrechte weltweit zur Geltung kamen, dann weil zeitweise die Interessen der westlichen Zivilgesellschaften, im Verbund mit ähnlich gesinnten gesellschaftlichen Bewegungen in anderen Ländern, Hand in Hand gingen mit den Interessen der westlichen Regierungen. Diese zogen aus der Unterstützung der Menschenrechte einen doppelten Vorteil: Sie stellten ihre Bürger zufrieden, die verlangten, dass ein Staat die Menschenrechte achten müsse, und sie konnten eine gewaltfreie, aber wirkungsvolle Form der soft power einsetzen, um ihre Feinde zu dämonisieren: die moralische Ächtung. In der Spätphase des Kalten Krieges, als es darum ging, postkoloniale Regierungen so unter Druck zu setzen, dass sie auf Washington hörten, war diese Strategie sehr effektiv.

Verschiedene internationale Krisen haben gezeigt, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten nicht mehr so mächtig sind wie einst. Der deutlichste Beweis dafür ist der Krieg in Syrien, bei dem weder Drohungen und Luftangriffe seitens der USA, noch diplomatische Bemühungen im UN-Kontext Assad zum Einlenken bewegt haben oder Russland davon abbringen konnten, ihn zu unterstützen. Weitere Belege sind der wachsende Einfluss Irans, das Unvermögen, Nordkorea mit Blick auf seine Nuklearwaffen zu Zugeständnissen zu bewegen, und der immer wieder aufflackernde Handelskrieg zwischen den USA und China. Neu erstarkte Rivalen wie China und Russland haben kein Interesse an Menschenrechten. Viele aufstrebende Staaten im internationalen System haben keine liberale Rechtstradition, selbst wenn sie wie etwa Indien demokratisch verfasst sind. Daher stehen die Menschenrechte vermehrt in Konkurrenz zu anderen Konzepten wie Religion oder Familie, ganz abgesehen von der postkolonialen Kritik an den Menschenrechten und ihren eurozentrischen Grundannahmen.

Wir reden hier nicht vom "Ende des Westens", aber doch vom Ende der westlichen Dominanz. Die Bindung an die Menschenrechte wird auf die Vorstellung liberaler Werte als eine Reihe grundlegender Prinzipien schrumpfen, die westliche Staaten mithilfe der vielen multilateralen Institutionen und Foren, denen sie seit Jahrzehnten vorstehen, weltweit verbreiten und verankern wollten. Die in den kommenden Jahren entstehenden globalen Regeln werden von Regierungen festgelegt und angewandt werden, die eine andere Sichtweise vertreten als die westlichen Staaten. Sie müssen nicht mehr länger auf Washington oder Berlin, Paris und London hören, weil ihnen Peking und in deutlich geringerem Maße auch Moskau andere Optionen bieten.

Eine Führung durch den Westen wie bisher wird es nicht mehr geben und damit auch keine garantierte Fortsetzung des liberalen Projekts, an dem die Menschenrechte einen wesentlichen Anteil haben. Die Rede ist hier nicht nur von einem relativen Niedergang des Westens, sondern von einer Welt, in der keine einzelne Regierung es leisten kann, schwierige Übereinkommen mit einer Mischung aus Zwang, Anreizen und diplomatischer Überzeugung durchzusetzen. Kein einzelner Staat kann die Führung übernehmen – die USA nicht mehr, China aber auch nicht. Wer wird anderen Staaten dann sagen, dass sie ihre Journalisten nicht hinrichten, LGBT-Menschen nicht kriminalisieren und Frauen nicht die Gleichstellung verweigern dürfen? Oder dass sie religiöse Minderheiten tolerieren müssen? Oder dass sie Verträge einhalten sollen, die das Funktionieren des internationalen Systems mit Blick auf Handel, Sicherheit und – man wagt es kaum auszusprechen – Gesundheitsfürsorge gewährleisten?

Wir wissen nicht, wie diese Welt aussehen wird. Und wer würde angesichts der vielen Probleme, zu denen die Vereinten Nationen und ihre westlichen Verbündeten mit ihrem außenpolitischen Druck und ihren Militärinterventionen beigetragen haben, die Behauptung wagen, dass diese Welt zwangsläufig eine schlechtere sein wird? In Zukunft werden jedenfalls nicht alle in eine gemeinsame Richtung streben, ob das Ziel nun eine Gesellschaft und Regierung ist, die liberal, demokratisch und mehr oder weniger tolerant ist, oder ein anderes Regime. Kein Staat wird die Macht haben, die Regeln zu globalisieren, und in diesem Machtvakuum werden ganz unterschiedliche Arrangements entstehen. Menschenrechte werden immer wieder eine Rolle spielen, doch das globale Rechteregime hat seine größte Ausdehnung erreicht und befindet sich nun auf dem Rückzug. Wir müssen abwarten, was folgt, wenn die morbiden Symptome abgeklungen sind: Vielleicht eine neue Reihe globaler Institutionen, vielleicht wird es aber auch gar keine Institutionen dieser Art geben.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Professor für Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies der University of London, England. E-Mail Link: prodirectorintl@soas.ac.uk