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Amerika kommt auf Deutschland zu - Essay | USA | bpb.de

USA Editorial Amerika kommt auf Deutschland zu - Essay Die Außenpolitik der Bush-Administration Defizite der Vorbild-Demokratie USA Das handelspolitische Erbe der Bush-Administration Die Wirtschaft der USA unter George W. Bush Die außenpolitischen Positionen von Obama und McCain US-Präsidenten: "Real Men" oder "Sissies"? Essay

Amerika kommt auf Deutschland zu - Essay

Andrew B. Denison

/ 9 Minuten zu lesen

Die kombinierten Herausforderungen, die auf den nächsten amerikanischen Präsidenten zukommen, sind atlantisch geprägt. Deutschland täte gut daran, sich darauf vorzubereiten.

Einleitung

Was bedeutet es, wenn John McCain oder Barack Obama am 20. Januar 2009 ins Weiße Haus in Washington einziehen werden? Was bedeutet Amerikas Präsidentenwahl 2008 für Deutschlands Zukunft?



Eine nüchterne Lagebestimmung und Analyse der Handlungsoptionen sind für Deutschland wichtig. Für einen der einflussreichsten Staaten dieser Welt ist diese Analyse notwendig, um Frieden, Freiheit und Wohlstand für Deutsche sowie für andere zu fördern, aber ebenso, um die Gefährdung dieser hehren Ziele abzuwenden. Deutschland liegt inmitten einer wohlhabenden, friedlichen, sehr exponierten Halbinsel Eurasiens, mitten in einer Europäischen Union (EU) mit einer immer größeren, sehr instabilen Peripherie, in einer immer kleineren, sich immer schneller drehenden Welt. In dieser Welt muss Deutschland sich fragen: Ist Amerika schwach oder stark? Ist Amerika gut oder schlecht?

In welchen Punkten kann Deutschland mit Amerika, wo nur gegen Amerika agieren? Ist Demokratie Zukunft oder Vergangenheit? Ist die Welt multipolar oder atlantisch? Ist Deutschland Westen oder Osten? Ist Amerika einzubinden oder auszubalancieren? Ist eine amerikanische Weltordnung im Einklang mit einer europäischen Weltordnung zu organisieren - oder abzulehnen? Befremdlich und doch willkommen, ermutigend und doch verunsichernd; das politische Amerika wird die deutschen Gemüter im kommenden Jahr bewegen wie selten zuvor. Amerika kommt - wie eine Wetterfront - auf Deutschland zu.

Amerikanischer Wahlkampf ist spannend und schicksalhaft; in einer globalisierten Welt ist er immer von außenpolitischen Themen durchdrungen. Amerika in einer für Amerikaner viel versprechenden, doch sehr gefährlichen Welt ist ein Dauerbrenner im Wahlkampf - auch in Zeiten der heimischen Wirtschaftskrise. Die Ereignisse stürmen weiter auf Amerika ein: Iran reichert an; Russland greift an; Irak dauert an; Afghanistan heizt sich auf. Außenpolitik ist Pflicht, auch und gerade für Amerika. Vor allem ist es der geografische Gürtel rund um Europa, der Amerika ständig zu schwierigen Entscheidungen zwingt: Amerika, auch im Wahlkampffieber, sieht sich vor einem wachsenden Dilemma: mit wem - und gegen wen? Man kann die Chancen eines Machtwechsels in Washington herunterreden - nicht alles, was glänzt, ist Gold. Aber nur Zyniker würden es ablehnen, mit einer neuen Regierung nach neuen Partnerschaften zu suchen.

Die Welt ist atlantisch

Die Welt ist weiter atlantisch - trotz aller Unterschiede. Kern und Motor der weltweiten Wertschöpfung, des weltweiten Fortschritts bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika und die weniger vereinigten Staaten von Europa - häufiger zusammen als getrennt. Mit weniger als einem Sechstel der Weltbevölkerung machen sie zusammen fast die Hälfte der globalen Wertschöpfung aus. Die aufsteigenden Mächte Asiens, ob Indien, China oder Russland, verzeichnen beeindruckende Wachstumsraten, und dennoch, im Pro-Kopf-Einkommen sind sie Jahrzehnte entfernt von einem Gleichziehen mit der EU und den USA. Macht und Möglichkeiten von Europa und Amerika bleiben enorm. Die Verhältnismäßigkeit sollte man weder bei der Betrachtung der gegenwärtigen Schwächen der USA noch derer der EU aus den Augen verlieren. Vor allem Amerika steht nicht kurz vor dem Untergang, wie manchmal der Eindruck erweckt wird. Dieses schnell wachsende, demographisch gesunde, politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch führende Land bleibt im Mittelpunkt des Weltgeschehens wie kein anderes - und dies noch für lange Zeit. Und das ist gut so.

Die amerikanische Supermacht wird nicht von der Bühne verschwinden. Ihr Markt bleibt enorm, und für die "Weltwerkstatt" China und die "Welttankstellen" Venezuela, Russland und den Nahen Osten ist der Zugang zu diesem Markt lebenswichtig - um zu verkaufen, aber auch, um mit den angehäuften Dollar-Reserven einzukaufen. Die USA bleiben auch für Deutschland und Europa von existentieller Bedeutung, nicht nur, weil ihre Militärmacht, ob auf den Weltmeeren oder im Weltall, ob im Cyberspace oder beim Häuserkampf, allen überlegen ist. Diese Lagebestimmung zeigt die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen und die Notwendigkeit ihrer Reparatur, nicht nur für Amerika, sondern auch für Deutschland.

Atlantika ist wieder "in" - auf beiden Seiten des Atlantiks, so möchte man hoffen. Die Europäer konnten im vergangenen Jahr in "Foreign Affairs" aus der Feder des Präsidentschaftskandidaten Barack Obama genau dies lesen: Amerika muss wieder enger mit den Alliierten zusammenarbeiten. Der Senator aus Chicago fügte hinzu: "America cannot meet this century's challenges alone; the world cannot meet them without America."

Die Wünsche der Europäer und der Deutschen, Atlantika möge wieder "in" sein, sind ebenfalls hier und da zu erkennen. Die Sehnsucht nach dem "guten Amerikaner", ob aus Gründen der liberalen Identitätsbildung oder aus Gründen der realpolitischen Interessenverfolgung - sie bleibt bestehen. Dieses globale Begehren nach dem guten Amerikaner und seinem amerikanischen Traum ist auch eine Quelle des amerikanischen Einflusses. Vorbild ist doch mächtiger als Feindbild - so möchte man hoffen. Vorbild füreinander ist man schon lange. Amerikaner geben gerne zu: Von den Europäern kann man lernen, mit den Europäern sollte man teilen - auch die Verantwortung der Macht. Umgekehrt stellt sich die Frage: Kann Deutschland von amerikanischen Verhältnissen und amerikanischen Abenteuern auch lernen, vielleicht sogar profitieren?

Etwas davon hatten sich die am 24. Juli 2008 vor der Siegessäule in Berlin Versammelten versprochen. Die Faszination von Amerika gibt es schon lange, eine solche Menschenmenge zum Thema "Amerika" aber noch nie, außer vielleicht im kurzen Moment der "uneingeschränkten Solidarität" nach "9/11", als vor dem Brandenburger Tor Hunderttausende gemeinsam trauerten. Aber dies ist Wahlkampf! Also: Abstimmen durch Hingehen, mitmachen, an der Hoffnung teilhaben, auch wenn deutsche Bürger den amerikanischen Kandidaten nicht unbedingt Geld spenden und am ersten Dienstag im November wählen gehen können. Hier ist nicht nur die Macht Obamas zu erkennen, sondern auch die Macht Amerikas - trotz, vielleicht auch wegen, acht langer Jahre mit George W. Bush.

Mit dem Aufruhr, mit der Obamania, wuchsen auch die Warnungen der Kleinkarierten: Das Volk sei verführt worden, zu groß die Mehrheiten für Obama, warnten die spitzen Stifte. Fast religiös sei dieses Pathos; gefährlich die unvermeidliche Enttäuschung; so schrieben Leitartikler fast einstimmig über ihr fasziniertes Volk. Hype über Hype. Nur Träume? Wohl kaum. 200 000 Zuhörer in Berlin bieten mehr Hoffnung als Bedrohung für die transatlantische Partnerschaft.

Angst und Hoffnung nach George W. Bush

Die einen sagen, es kann mit Amerika nach George W. Bush nur besser werden. Die anderen warnen vor falschen Hoffnungen: Amerika sei halt Amerika - immer noch "Mr. Big", in der Lesart des Ur-Atlantikers, Josef Joffe. Auch Peter Rudolf von der Stiftung Wissenschaft und Politik meint, die Dinge blieben eher beim Alten: "Kontinuität (...) ist wahrscheinlicher als grundlegender Wandel." Mit einer öffentlichen Meinung in Deutschland, die weiterhin von Misstrauen gegenüber Amerika geprägt ist, wäre Kontinuität jedoch zu bedauern. Die Streitfragen sind erkennbar und verdienen Diskussion. Seien es Heimatschutz, religiös motivierte Militäreinsätze, oder Protektionismus - es gibt eine Menge Stolpersteine: "Gleich wer die Präsidentschaftswahl gewinnt - transatlantische Probleme werden eher zu- als abnehmen." Greift man die These auf, die Beziehungen würden immer enger, die gemeinsame Wertschöpfung immer reichhaltiger, so könnte man optimistisch behaupten: Die Probleme steigen im Verhältnis zur Dichte der Beziehung - aber die Vorteile steigen stärker.

Wirtschaft. Die amerikanischen und europäischen Wissenswirtschaften vermischen sich rasch. Die USA und die EU erwirtschafteten jeweils etwa 13 Billionen Euro im Jahr 2007, fast die Hälfte der Weltwirtschaft. In der Schnittmenge steht eine transatlantische Wirtschaft von fast 4 Billionen Euro in gegenseitigem Handel und Investitionen. Ob Kontinuität oder zunehmende Probleme, eines ist klar: Mit wachsenden gegenseitigen Investitionen und immer engerer Zusammenarbeit sind Europa und Amerika so eng verflochten wie noch nie. Im Zeitalter der rapiden Globalisierung ist die Wirtschaft ein elementarer Teil der Außen- und Sicherheitspolitik. Massenarbeitslosigkeit zerstört die Außenpolitik, denn eine nur langsam wachsende Wirtschaft lässt wenig politisches Kapital für die Welt jenseits der eigenen Grenzen übrig. Doch gegenseitige Abschottung wäre nicht nur schädlich, sondern auch gegen den Trend der vernetzten Wertschöpfung.

Klima. Im Zeitalter der Klimagefährdung ist Umweltvorsorge ein elementarer Teil der Wirtschaft und der Sicherheit. Öl und Kohle sind die Plagen des 21. Jahrhunderts, sie verursachen eine Verseuchung der Umwelt - und der politischen Kultur. Energiepolitik ist zur Wachstumsbranche Nummer Eins der transatlantischen Beziehungen geworden. Alle, auch McCain und Obama, wollen Klimaschutz (aber nicht als einzige dafür bezahlen). Da gibt es genügend Stoff für atlantische Diskussionen und Verhandlungen; Kyoto lässt grüßen.

Werte. Mit den USA kann man gut reich werden, CO2-frei vielleicht auch, aber wie ist es mit den gemeinsamen Werten? Ist da nicht eine unüberwindbare Kluft, spätestens seit Guantanamo und Abu Ghraib, wenn nicht schon seit My Lai oder gar Wounded Knee oder den Ursünden der Sklaverei? Hier muss, hier will der nächste Präsident, ob Obama oder McCain, zusammen mit den Europäern, die Legitimation der westlichen, liberalen, demokratischen Macht zurückerobern. Im Wissenszeitalter ist Legitimation eine sehr starke, wenn auch nicht allein ausreichende Form der Macht - Wille und Wirksamkeit gehören dazu. Nachhaltig stabile Beziehungen erfordern ein gemeinsames und gewachsenes Verständnis der verfassungsrechtlichen Begrenzung der staatlichen Macht. Egal ob Kombattanten, Kriminelle, Milizionäre oder Einzeltäter mit Massenvernichtungswaffen - die westliche Gemeinschaft wird sich (gemeinsam) mit diesen Fragen der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit beschäftigen müssen. Die eigenen Werte und Interessen zu verteidigen, ohne sie zu opfern, ist die größte Herausforderung unserer Zeit.

Sicherheit. Deutsch-amerikanische Beziehungen sind viel mehr als Sicherheitspolitik. Aber Sicherheitspolitik im Zeitalter der Massenvernichtung darf man nicht ignorieren. Wertschöpfen und Wirtschaften braucht ein Mindestmaß an Sicherheit. Die heutige Welt der Staaten und nichtstaatlichen Akteure bleibt eine, in der Gewalt und Gegengewalt weiterhin wichtige Währungen des Einflusses sind. Neu sind die Gefahren der Sicherheit, doch auch sehr alt - wie die NATO, die mit dem neuen amerikanischen Präsidenten bald ihren 60. Geburtstag feiern wird. Und wie bisher bleibt die europäische Peripherie, größer als je zuvor, für die NATO das Kerngeschäft.

Trotz aller Unterschiede über den Atlantik hinweg hat "9/11" die NATO tief in die Machenschaften des für Europa sehr Nahen Ostens hineingeführt. Die Zukunft der NATO ist somit eng mit Deutschlands Entscheidung über Afghanistan verbunden: aufstocken oder abziehen? Um das Bündnis zu reparieren, muss Amerika sich vor allem auf Deutschland konzentrieren, so der Demokrat James Rubin. Mit Deutschland ist mit Europa viel zu erreichen, ohne Deutschland nur wenig, so auch der Gedanke Obamas, als er sich für eine Rede in Berlin entschied. Ob aus der NATO ein neues Bündnis der Demokratien erwachsen wird, wie es McCain hofft und wie viele es nach dem 8. August 2008 und dem russischen Angriff auf Georgien fordern, bleibt unwahrscheinlich. Eher bleibt die NATO dabei, sich flexibel an den Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit allen Akteuren zu orientieren (ob rund um das Mittelmeer oder bis tief nach Asien hinein, bis Japan, Australien und Neuseeland). Die wichtigere Frage ist die, ob der Wille aufzubringen ist, gemeinsam Erfolge zu erzielen und gemeinsam die Lasten für ihre Erfüllung zu tragen.

Demokratie. Die Demokratie als beste Verteidigung bleibt Hauptaufgabe der NATO und der atlantischen Gemeinschaft; die Verbreitung von Demokratie ist ihre Geschichte und ihre Zukunft. Mancher Deutsche, mancher Europäer reagiert skeptisch auf diese These: Es sei blauäugig und naiv, die Verbreitung der Demokratie zum Kern der Sicherheitspolitik zu machen. Mehr noch, die Amerikaner seien die ersten, die ein Schwarzweiß-Verständnis von Gut und Böse in der Welt aufgäben, wenn es um das kaltblütige Kalkül des Machterhalts in einer sehr gefährlichen Welt ginge; Demokratie sei weder ein ehrliches noch ein erreichbares Ziel der Amerikaner und ihrer Heuchelei. In der Frage der Demokratie und der begrenzten Staatsmacht darf es aber nie heißen: Wenn nicht überall und immer, dann nie und nimmer. Eine wahre, nachhaltige Alternative zur begrenzten, transparenten, accountable Staatsmacht gibt es nicht. Überall und gleichzeitig ist dieses Ziel der besseren und begrenzten Staatsmacht sicher nicht zu erreichen; schwer und kostspielig wird es sein. Dies sollte aber kein Grund sein, denen Beifall zu spenden, die behaupten, es sei naiv, die Globalisierung des liberalen, westlichen Staatsverständnisses zu fördern und zu fordern.

Die kombinierten Herausforderungen, die auf den nächsten amerikanischen Präsidenten zukommen, sind atlantisch geprägt. Deutschland täte gut daran, sich darauf vorzubereiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Barack Obama, Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs, (2007) Juli/August.

  2. Vgl. Josef Joffe, Short-Term Relationship, in: The New Republic vom 24.7.2008.

  3. Peter Rudolf, US-Außenpolitik und transatlantische Sicherheitsbeziehungen nach den Wahlen (SWP Aktuell), Berlin, Juli 2008.

  4. Josef Braml/Eberhard Sandschneider/Simon Koschut, Netzwerke entscheiden: Nicht alles wird gut nach den US-Wahlen im November (DGAP Standpunkt), Berlin, Juli 2008.

  5. Vgl. Josef Quinlan, The U.S. Presidential Election and the Prospects for Transatlantic Trade and Investment (German Marshall Fund, Opinion), Berlin 2008.

  6. "In the absence of a sea change in German public attitudes, the government in Berlin will have little room to maneuver. That is why the United States must make Germany its primary focus in rebuilding the NATO alliance." James Rubin, Alliance: Restoring America's Partnership With Europe, in: Foreign Affairs, (2008) Juli/August.

Dr. phil., geb. 1962; Journalist und Publizist; Direktor von Transatlantic Networks, Pleiserhohner Straße 93, 53639 Königswinter.
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