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Die Atomvereinbarung mit Iran | Iran | bpb.de

Iran Editorial Die Atomvereinbarung mit Iran. Gegenstand, Genese, Gefahren Sicherheitsdenken und Machtprojektion. Iran im Nahen Osten Schiiten und Sunniten. Ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart Von Verbündeten zu Erzfeinden. Zur kurzen, aber wirkmächtigen Geschichte der USA-Iran-Beziehungen Eine Theokratie hinter republikanischen Fassaden. Machtstrukturen der Islamischen Republik Iran Irans Wirtschaft im Zeichen von US-Sanktionen und Corona-Krise Irans Zivilgesellschaft. Soziales Engagement und politischer Aktivismus in einem autoritären Staat Karten

Die Atomvereinbarung mit Iran Gegenstand, Genese, Gefahren

Azadeh Zamirirad

/ 15 Minuten zu lesen

Die im Juli 2015 erzielte Atomvereinbarung mit Iran galt als historische Errungenschaft europäischer Außenpolitik. Doch der Rückzug der USA im Mai 2018 hat den Verhandlungserfolg nachhaltig untergraben. Schon bald könnte die EU vor einer neuen Proliferationskrise stehen.

Die Atomvereinbarung mit Iran galt als historische Errungenschaft europäischer Außenpolitik. Der im Juli 2015 erzielte Kompromiss war das Resultat frühzeitiger diplomatischer Bemühungen der sogenannten E3 (Deutschland, Frankreich und Großbritannien), denen bei den Nuklearverhandlungen eine wesentliche Vorreiterrolle zukam. Der Ansatz, den Nuklearkonflikt mit Iran innerhalb eines kleinen, informellen und multilateralen Rahmens beilegen zu wollen, bot mehrere Vorteile. Minilaterale Formate schaffen aufgrund der geringen Anzahl an Beteiligten nicht nur eine größere Vertraulichkeit, sondern erleichtern auch den Prozess der Konsensbildung. Gleichzeitig mangelt es ihnen häufig an politischem Gewicht. Dies zeigte sich auch in den Verhandlungen mit der Islamischen Republik, in denen sich die USA als der mit Abstand wichtigste Einflussfaktor erwiesen. Die herausragende Rolle Washingtons wurde einmal mehr deutlich, als sich die US-Administration im Mai 2018 entschloss, ihren Verpflichtungen aus der Nuklearvereinbarung nicht länger nachzukommen. Der Rückzug der USA hat die Vereinbarung in einen Krisenmodus versetzt, der bis heute anhält.

Genese

Die nukleare Übereinkunft ist das Ergebnis von mehr als zwölf Jahren internationaler Verhandlungen. 2003 war das iranische Atomprogramm erstmals Gegenstand einer diplomatischen Initiative, die den Nuklearkonflikt friedlich beilegen sollte. Zuvor war bekannt geworden, dass die Islamische Republik den Bau einer Urananreicherungsanlage in Natanz und einer Schwerwasseranlage in Arak begonnen hatte, ohne sie gegenüber der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zu deklarieren. Die Meldung verstärkte die Befürchtung, dass Iran ein verdecktes militärisches Programm vorantreibt. Um offene Fragen im Zusammenhang mit Irans Nuklearprogramm klären zu können, setzte die Europäische Union auf einen politischen Dialog. Die EU war nach der US-Intervention im Irak nicht nur bestrebt, eine erneute militärische Eskalation in ihrer erweiterten Nachbarschaft zu verhindern, sondern auch einer zusätzlichen Proliferationskrise zuvorzukommen, nachdem Anfang 2003 bereits Nordkorea aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) ausgestiegen war. Die Beilegung des Atomkonflikts mit Iran galt als wesentliches europäisches Interesse. In ihrer Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 hatte die EU die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als potenziell größte Bedrohung für die europäische Sicherheit definiert.

Der diplomatische Ansatz der Europäer unterschied sich grundlegend von der Position der US-Administration. Während Washington darauf setzte, Iran politisch und wirtschaftlich zu isolieren, verfolgte die EU einen zweigleisigen Ansatz (dual track), der sowohl politische Anreize als auch Druckmittel umfasste. Ein vom damaligen Schweizer Botschafter in Iran übermitteltes Angebot Teherans, mit den USA direkte Gespräche über das Atomprogramm und weitere kritische Fragen aufzunehmen (grand bargain), darunter auch Irans Regionalpolitik, traf in der Bush-Administration auf Skepsis und blieb unbeantwortet. Gegen Widerstände aus Washington nahmen die E3 im Herbst 2003 Verhandlungen mit der Islamischen Republik auf, denen sich ab 2004 auch die EU als eigenständige Partei anschloss. Teheran erklärte sich dazu bereit, die Anreicherung von Uran temporär auszusetzen und das sogenannte Zusatzprotokoll zu ratifizieren, das der IAEO weitreichendere Kontrollmöglichkeiten eröffnet. Wesentlicher Streitpunkt blieb die Frage der Urananreicherung. Die Europäer sahen in einem dauerhaften Verzicht die einzige "objektive Garantie" dafür, dass Irans Atomprogramm ausschließlich zivilen Zwecken dient. Dagegen betrachtete Teheran bereits das Bekenntnis zum Zusatzprotokoll als ausreichend. Die Forderung der Europäer nach einem dauerhaften Anreicherungsstopp (zero enrichment) widersprach den nuklearpolitischen Präferenzen iranischer Entscheidungsträger lagerübergreifend und war innenpolitisch nicht durchzusetzen. Inneriranische Machtverschiebungen zugunsten von konservativen Hardlinern erschwerten eine Verhandlungslösung zusätzlich. Unter Präsident Mahmoud Ahmadinejad baute die Islamische Republik ihre nuklearen Kapazitäten sukzessive aus. Während seiner Amtszeit gelang es Teheran, Uran auf bis zu 20 Prozent anzureichern und damit eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur Nuklearwaffenkapazität zu erreichen.

2006 wurde der Verhandlungskreis erweitert: Neben den E3 und der EU nahmen nun auch China, Russland und die USA (Gruppe der E3/EU+3) an den Atomverhandlungen teil. Im selben Jahr verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erstmals nuklearbezogene Sanktionen gegen Iran. Zugleich zeichnete sich eine vorsichtige Annäherung europäischer und US-amerikanischer Iranpolitik ab. Die EU schloss sich 2011/12 US-amerikanischen Energiesanktionen an. Diese zielten in erster Linie auf den Ölexport, der eine wesentliche Devisenquelle für den iranischen Staat darstellte. Das Ölembargo traf den iranischen Energiesektor schwer. Innenpolitische Faktoren trugen zusätzlich dazu bei, dass Teheran seine Nukleardiplomatie neu ausrichtete. Massenproteste nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2009 und machtpolitische Auseinandersetzungen hatten Ahmadinejad innenpolitisch stark geschwächt. Für die iranische Führung zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Irans nuklearpolitische Interessen mit einer reinen Konfrontationspolitik nicht durchzusetzen waren. Durch die Wahl Barack Obamas 2008 bot sich ein Gelegenheitsfenster für eine nuklearpolitische Annäherung. Unter Obama unterstützte Washington verstärkt den Dual-track-Ansatz der EU. Teheran und Washington erklärten sich 2011 zu Back-channel-Gesprächen im Oman bereit. Diese erlaubten eine vorsichtige, direkte Verständigung über Grundsatzfragen und legten den Grundstein für den späteren Verhandlungserfolg.

Eine Verhandlungslösung zeichnete sich 2013 ab, als die E3/EU+3 erstmals offiziell von ihrer Forderung nach einem dauerhaften Anreicherungsstopp abrückten. Angesichts der erheblichen technischen Fortschritte, die das iranische Atomprogramm seit Ausbruch der Nuklearkrise 2002 gemacht hatte, schien ein Anreicherungsstopp nicht länger realistisch. Ziel war es nunmehr, Iran davon abzuhalten, den Grad der Urananreicherung noch weiter zu erhöhen. Neben den veränderten innenpolitischen Bedingungen in den USA und in Iran erwiesen sich die Abkehr vom Anreicherungsstopp, die direkte Beteiligung Washingtons an den Verhandlungen und nicht zuletzt der Dual-track-Ansatz als entscheidende Faktoren für den Durchbruch bei den Verhandlungen. Am 14. Juli 2015 verkündeten die Verhandlungsparteien den erfolgreichen Abschluss einer Atomvereinbarung, den Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA).

Gegenstand

Der JCPOA ist kein rechtlich bindender Vertrag zwischen der Islamischen Republik und den E3/EU+3. Erst durch die im Juli 2015 verabschiedete Sicherheitsratsresolution der Vereinten Nationen (Resolution 2231) wurden die Maßnahmen völkerrechtlich verbindlich. Die Vereinbarung bietet den institutionellen Rahmen dafür, das iranische Atomprogramm sowohl technisch zu beschränken als auch effektiv zu kontrollieren. Iran wird formal das Recht zugesprochen, Anreicherungsaktivitäten vorzunehmen, jedoch unter klar festgelegten Bedingungen. Die Vereinbarung setzt nicht nur Obergrenzen für den Grad der Anreicherung fest (maximal 3,67 Prozent), sondern unter anderem auch für den Bestand an bereits angereichertem Uran (maximal 300 Kilogramm) und die Anzahl der erlaubten Zentrifugen (maximal 5060). Zuvor hatte die Islamische Republik Uran auf bis zu 20 Prozent angereichert, 9000 Kilogramm leicht angereichertes Uran gelagert und mehr als doppelt so viele Zentrifugen im Betrieb. Durch die technischen Beschränkungen sollte die sogenannte Ausbruchszeit (break out time) verlängert werden – demnach die Zeit, die ein Staat benötigt, um ausreichend waffenfähiges Uran für den Bau einer einzelnen Atombombe produzieren zu können. Durch die Maßnahmen im JCPOA stieg Irans potenzielle Ausbruchszeit von zuvor schätzungsweise drei auf nunmehr zwölf Monate.

Neben der technischen Beschränkung des Atomprogramms erlaubte die Vereinbarung auch weitreichende Kontroll- und Verifikationsmöglichkeiten. Die Islamische Republik verpflichtete sich dazu, das Zusatzprotokoll umzusetzen und ein Ratifizierungsverfahren einzuleiten. Darüber hinaus erklärte sich Teheran dazu bereit, Inspekteuren der IAEO nicht nur Zugang zu Nuklearanlagen, sondern in begründeten Fällen auch zu Militäranlagen zu gewähren, unter vorab auszuhandelnden Bedingungen. Im Gegenzug für die technische Begrenzung des Atomprogramms und das neue Kontrollsystem sicherten die E3/EU+3 Iran zu, nuklearbezogene Sanktionen auszusetzen. Nachdem die IAEO im Januar 2016 bestätigte, dass Teheran die Bestimmungen der Vereinbarung umgesetzt hat, wurden insgesamt sieben Resolutionen des Sicherheitsrates aufgehoben, die zwischen 2006 und 2015 im Zusammenhang mit Irans Atomprogramm verhängt worden waren. Damit entfielen alle nuklearbezogenen UN-Sanktionen gegen Iran. Auch die EU hob nuklearbezogene Sanktionen auf.

Während der JCPOA international auf großen Zuspruch traf, stieß er in einigen Staaten auf Ablehnung. Kritiker in den USA, Israel und Saudi-Arabien bemängelten nicht nur, dass Irans Regionalpolitik und ballistisches Raketenprogramm nicht Gegenstand der Vereinbarung waren. Sie hielten auch die festgehaltenen nuklearen Maßnahmen für unzureichend, insbesondere da einige Auflagen nur zeitlich begrenzt gelten. Bei den zeitlich beschränkten Vorgaben handelt es sich jedoch zum einen um Sonderbestimmungen, die über die üblichen Maßnahmen im NVV hinausgehen, darunter im Bereich der Anreicherungsaktivitäten und Transparenzmaßnahmen. Zum anderen bleibt ein grundlegendes Inspektionsregime auch nach Ablauf des JCPOA und weiterer Sonderprovisionen bestehen. Dies wird durch eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls gewährleistet. Als Mitglied des NVV stünde Iran zu jedem Zeitpunkt ausschließlich das Recht auf ein ziviles Atomprogramm zu.

Um mögliche Streitfälle bei der Umsetzung der Vereinbarung klären zu können, wurde im JCPOA ein Streitschlichtungsmechanismus festgelegt (Artikel 36). Jede Partei kann sich in strittigen Fragen an eine eigens gegründete Gemeinsame Kommission (Joint Commission) wenden. Die Kommission besteht aus insgesamt acht Parteien, die gleichberechtig vertreten sind – neben Iran auch die E3+3 sowie die EU. Sobald eine der Parteien den Streitschlichtungsmechanismus auslöst, hat die Gemeinsame Kommission 15 Tage Zeit, das Anliegen zu diskutieren. Gelingt keine Einigung in diesem Zeitraum, kann sie die jeweiligen Außenminister der Mitgliedsstaaten für weitere 15 Tage mit der Angelegenheit befassen. Alternativ oder parallel dazu kann sie auch einen dreiköpfigen Beratungsausschuss einberufen. Anschließend hat die Gemeinsame Kommission bei Bedarf erneut fünf Tage Zeit, zu beraten. Gelingt nach diesen insgesamt 35 Tagen keine Einigung, kann die klagende Partei den Fall vor den Sicherheitsrat bringen.

Es ist möglich, den Zeitraum für die klärenden Gespräche auf unbestimmte Zeit zu verlängern, wenn darüber unter den acht Parteien Einstimmigkeit herrscht. Hat die Angelegenheit jedoch einmal den Sicherheitsrat erreicht, stehen nur noch maximal 30 Tage für eine Klärung des Disputs zur Verfügung. Eine Verlängerung ist ausgeschlossen. Die Weiterleitung an den Sicherheitsrat stellt eine kritische Schwelle dar. Denn sollte der Sicherheitsrat nach Ablauf dieser 30 Tage nicht aktiv beschließen, dass der JCPOA weiterhin gültig ist, treten alle zuvor aufgehobenen Sanktionen sofort wieder in Kraft. Dieser snap back von Sanktionen war vorgesehen, um Iran von einem Verstoß gegen die Vereinbarung abzuschrecken. Der Streitschlichtungsmechanismus war vornehmlich anhand des Szenarios entwickelt worden, dass Teheran gegen die Vereinbarung verstoßen könnte, nicht Washington oder andere Mitglieder der E3/EU+3. Der US-amerikanische Verstoß und der Mangel an Möglichkeiten Teherans, innerhalb des JCPOA effektive Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, führten dazu, dass die Islamische Republik ihren nuklearpolitischen Ansatz im Mai 2019 änderte.

Teherans Flucht nach vorn

Obwohl die IAEO in ihren Quartalsberichten wiederholt bestätigte, dass Iran die Bestimmungen des JCPOA umsetzt, kündigten die USA im Mai 2018 an, sich von ihren Verpflichtungen zurückzuziehen. Seither verstößt Washington faktisch gegen die Sicherheitsratsresolution 2231. Die Trump-Administration lehnte die zeitliche Limitierung der Sonderprovisionen ab und forderte überdies, dass auch Irans Regionalpolitik und ballistisches Raketenprogramm Teil einer neuen Vereinbarung sein müssten. Zugleich bestand Washington auf einen vollständigen und dauerhaften Anreicherungsstopp. Gemäß einer Politik des "maximalen Drucks" wurden unilaterale US-Sanktionen schrittweise wiedereingesetzt und darüber hinaus neue Sanktionen gegen Iran verhängt. Die Sanktionen trafen alle wesentlichen Wirtschaftszweige des Landes, darunter den Öl- und Gassektor, die Automobilbranche sowie das Banken- und Finanzwesen. Die USA setzten aber nicht nur unilaterale Sanktionen wieder in Kraft. Durch die extraterritoriale Reichweite von Sekundärsanktionen hinderten sie auch andere Staaten daran, Handelsbeziehungen mit der Islamischen Republik aufrechtzuerhalten. Aus Sorge vor US-amerikanischen Bußgeldern sahen zahlreiche internationale Unternehmen davon ab, in iranische Infrastrukturprojekte zu investieren oder anderweitig wirtschaftlich mit Iran zu kooperieren. Die Sanktionen trafen insbesondere den iranischen Energiesektor. Teheran konnte selbst auf seinem größten Absatzmarkt in Asien nur noch begrenzte Mengen an Erdöl exportieren. Der Ölexport nach Europa kam vollständig zum Stillstand. Als die USA ab Mai 2019 überdies keine Ausnahmegenehmigungen mehr an wesentliche iranische Handelspartner wie China, Indien oder die Türkei vergaben, sanken Irans Ölexporte von zuvor mehreren Millionen Barrel pro Tag auf wenige 100.000.

Während die USA auf maximalen Druck setzten, hielt die EU weiterhin an der Atomvereinbarung fest und sicherte der Islamischen Republik wirtschaftspolitische Unterstützung zu. Unter anderem kündigte die EU an, einen vom US-Dollar unabhängigen Finanzierungskanal für den Handel mit Iran einrichten zu wollen, der auch den Export iranischen Erdöls nach Europa ermöglichen sollte. Doch die Gründung einer neuen Finanzinstitution, heute bekannt unter dem Namen INSTEX (Instrument in Support of Trade Exchanges), verzögerte sich mehrfach und sah entgegen der ursprünglichen Planung vorerst nur den Handel mit "humanitären Gütern" vor. Obwohl diese von US-Sanktionen ausgenommen sind, ist der humanitäre Warenverkehr in der Praxis spürbar eingeschränkt. Unternehmen, die medizinische oder pharmazeutische Güter nach Iran exportieren wollen, haben aufgrund des Sanktionsregimes unter anderem Probleme, Banken zu finden, die den Zahlungsverkehr abwickeln würden. INSTEX sollte hier Abhilfe schaffen. Doch die reine Absicherung von sanktionsfreien Gütern blieb weit hinter den Erwartungen der iranischen Führung zurück.

Im Mai 2019, exakt ein Jahr nach dem Rückzug der USA aus dem JCPOA, vollzog die Islamische Republik einen taktischen Wandel in ihrer Atompolitik. Zuvor hatte Teheran einen Ansatz "strategischer Geduld" verfolgt und darauf gesetzt, dass die EU effektive Instrumente schafft, um den iranisch-europäischen Ölhandel aufrechtzuerhalten und damit ihren Verpflichtungen im JCPOA nach Sanktionserleichterungen für Iran nachzukommen. Doch der stetig wachsende Druck aus Washington und die Einsicht, dass europäische Akteure über keine adäquaten Gegenmittel verfügten, änderten die Kalkulation in Teheran. Der Ansatz strategischer Geduld wurde zugunsten einer schrittweisen Eskalation aufgegeben. In einem Statement des Obersten Nationalen Sicherheitsrats kündigte Iran an, die Atomvereinbarung nur noch in Teilen umsetzen zu wollen, bis die verbliebenen Parteien im JCPOA praktische Maßnahmen ergreifen, mit denen Sanktionshindernisse im Bereich des Erdölexports und Bankenwesens überwunden werden könnten. Die iranische Führung setzte hierfür eine Frist von 60 Tagen. Nach Ablauf dieser Zeit sollten alle 60 Tage weitere Maßnahmen folgen. Seither hat Iran in insgesamt fünf Schritten gegen die technischen Bestimmungen in der Vereinbarung verstoßen. Unter anderem überschritt Teheran den erlaubten Höchstwert für den Bestand an angereichertem Uran und erhöhte den Anreicherungsgrad auf bis zu 4,5 Prozent. Im Januar 2020 vollzog die Islamische Republik den letzten Schritt, als sie ankündigte, keine operationalen Beschränkungen im JCPOA mehr anzuerkennen.

Teheran versprach sich von der taktischen Neuausrichtung der Nuklearpolitik vornehmlich drei Dinge: den Druck auf die verbliebenen Parteien im JCPOA zu erhöhen, die Trump-Administration von drastischeren Maßnahmen abzuschrecken und sukzessive politisches Kapital anzuhäufen, um die eigene Verhandlungsposition für den Fall von erneuten Gesprächen zu stärken. Iran begegnete der Politik des maximalen Drucks aber nicht nur mit nuklearen Gegenmaßnahmen, sondern auch mit einem riskanten Eskalationsansatz am Persischen Golf und im Irak. Um die regionalpolitische Krise zu entschärfen und die Atomvereinbarung zu retten, versuchten die Europäer die Lage mit neuen Gesprächsangeboten zu deeskalieren. Doch ein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron unternommener Vermittlungsversuch zwischen Teheran und Washington blieb erfolglos. Zwar erklärte sich die Islamische Republik bereit, nicht nur das derzeitige Atomprogramm, sondern auch die eigene Regionalpolitik zur Diskussion zu stellen. Iran erwartete jedoch, dass zunächst Sanktionen aufgehoben werden müssten. Derartige Vorleistungen wurden von Washington abgelehnt. Seit die USA im Januar 2020 Quasem Soleimani, den Kommandeur der iranischen Quds-Brigaden, bei einem gezielten Angriff im Irak töteten, sind die Aussichten auf einen diplomatischen Vermittlungserfolg unter der derzeitigen US-Administration weiter gesunken.

Eine neue Proliferationskrise am Horizont

Während die Islamische Republik technische Beschränkungen ihres Atomprogramms schrittweise aussetzte, führte sie ihre Kooperation mit der IAEO fort. Der für die Vereinbarung unentbehrliche Bereich der Verifikation blieb von den bisherigen nuklearen Gegenmaßnahmen unberührt. Damit steht Irans Atomprogramm weiterhin unter internationaler Kontrolle. Im April 2020 meldete die IAEO, dass sie trotz der Corona-Pandemie ihre globalen Aktivitäten fortführt, darunter auch im Bereich der Verifikation. Dabei kann sie auch auf vorinstallierte Verifikationssysteme in Nuklearanlagen zurückgreifen. Trotz anhaltender Kontrollen gibt Irans partieller Rückzug aus dem JCPOA Anlass zur Sorge. Seit die Islamische Republik keine operativen Beschränkungen ihres Atomprogramms mehr anerkennt, hat sie ihre nuklearen Kapazitäten ausgebaut. In ihrem Bericht vom März stellte die IAEO fest, dass Irans Bestand an angereichertem Uran 1020,9 Kilogramm umfasst, 700 Kilogramm mehr als gemäß JCPOA zulässig sind. Damit verringert sich auch die nukleare Ausbruchszeit.

Die EU reagierte auf Irans Verstöße zunächst zögerlich. Erst im Januar 2020 lösten die E3 den Konfliktregulierungsmechanismus nach Artikel 36 aus. Seither berät die Gemeinsame Kommission über mögliche Lösungsansätze und hat von der im JCPOA festgeschriebenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Gesprächszeitraum nach eigenem Ermessen zu verlängern. Sowohl die Europäer als auch China und Russland sind bestrebt, Iran von zusätzlichen Nuklearaktivitäten abzuhalten, die die Ausbruchszeit noch weiter senken könnten. Die Islamische Republik hat ihrerseits wiederholt gemahnt, dass sie aus dem NVV austreten wird, wenn der Disput im Sicherheitsrat enden sollte. In Teheran mehren sich die Stimmen, die schon jetzt den Ausstieg aus dem NVV fordern. Kritiker im Land bemängeln, dass der JCPOA weder mit wirtschaftlichen noch mit sicherheitspolitischen Zugewinnen für die Islamische Republik einhergegangen sei.

Durch die US-amerikanische Sanktionspolitik hat auch der Snap-back-Mechanismus im Sicherheitsrat seinen Abschreckungscharakter verloren. Das derzeitige Sanktionsregime ist so weitreichend, dass der zusätzliche wirtschaftliche Schaden durch UN-Sanktionen nur noch gering ausfällt. Auch die sicherheitspolitische Lage hat sich für die Islamische Republik verschlechtert. Seit der gezielten Tötung Soleimanis ist die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen Iran und den USA gestiegen, und auch regime change steht in Washington wieder vermehrt zur Debatte. Nicht nur unter iranischen Hardlinern, sondern auch in der politischen Mitte verstärkt sich die Wahrnehmung, dass Teheran durch die Kooperation mit der IAEO nichts mehr zu gewinnen und durch den Abbruch der Zusammenarbeit kaum noch etwas zu verlieren hätte. Dabei hat der Zuspruch zur Übereinkunft auch innerhalb der Bevölkerung merklich abgenommen. Während die Zuspruchsrate laut einer repräsentativen Umfrage im August 2015 noch bei 75 Prozent gelegen hatte, sank sie im Oktober 2019 auf 42 Prozent. Vor diesem Hintergrund könnte der taktische Wandel in der iranischen Atompolitik von einem strategischen Wandel abgelöst werden. Derzeit sind drei Entwicklungen denkbar:

Iran versucht, den JCPOA zu erhalten. Teheran könnte darauf setzen, dass sich im Zuge der Präsidentschaftswahlen in den USA ein neues Gelegenheitsfenster für eine politische Verständigung öffnet. Der anhaltende Konfliktregulierungsprozess in der Gemeinsamen Kommission könnte allen Parteien dabei dringend benötigte Zeit verschaffen. Im Gegenzug für Sanktionserleichterung könnte Iran weiterhin anbieten, die Atomvereinbarung wieder vollständig umzusetzen. Doch die Aufrechterhaltung des JCPOA dürfte sich als schwierig erweisen. Schon jetzt sucht Washington nach Möglichkeiten, einen snap back im Sicherheitsrat auszulösen, um zu verhindern, dass ein Waffenembargo gegen Iran im Oktober 2020 ausläuft. Teheran könnte sich dennoch entscheiden, einen NVV-Austritt nur anzudrohen, um Gespräche zu forcieren.

Iran tritt aus dem NVV aus und geht neue Verhandlungen ein. Dieser Schritt könnte nach einem möglichen snap back erfolgen und ist mit politischen Kosten verbunden. Teheran wäre weitgehend isoliert und könnte nicht ohne Weiteres auf europäische, russische oder chinesische Unterstützung hoffen. UN-Sanktionen würden umgehend wieder in Kraft treten, und die internationale Staatengemeinschaft könnte Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta ergreifen. Gezielte Militärschläge gegen iranische Nuklearanlagen wären wahrscheinlich und könnten in einem Krieg münden. Ein Austritt aus dem NVV würde Teheran aber auch Chancen bieten: Zum einen würde er die Dringlichkeit für eine Lösung im Nuklearkonflikt erhöhen. Zum anderen stünde Iran ein starker politischer Hebel in etwaigen Neuverhandlungen zur Verfügung.

Iran tritt aus dem NVV aus und strebt nach Nuklearwaffen. Teheran könnte nach einem Austritt aber auch versuchen, verdeckt ein militärisches Programm voranzutreiben. Das Risiko einer militärischen Eskalation wäre höher als im zweiten Szenario. Teheran könnte jedoch zum Schluss gelangen, dass die Bedingungen für den Ausstieg derzeit günstig sind. Gezielte Militärschläge gegen iranische Nuklearanlagen würden das Atomprogramm zwar zurückwerfen, doch möglicherweise nicht aufhalten können. Darüber hinaus könnte die iranische Führung darauf spekulieren, dass Akteure wie die USA insbesondere in der Wahlkampfphase nicht nur das Risiko einer größeren militärischen Eskalation vermeiden wollen, sondern sich im Zuge der Corona-Krise auch verstärkt dem innerstaatlichen Krisenmanagement widmen müssen.

Angesichts der Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre wird das Szenario eines iranischen Austritts aus dem NVV immer wahrscheinlicher. Dies ist umso mehr der Fall, seit sich die USA auf ihren gescheiterten Ansatz der frühen Verhandlungsjahre zurückgezogen haben, in denen Washington einen vollständigen Anreicherungsstopp gefordert und allein auf Zwangsmittel gesetzt hatte. Zugleich wächst der innenpolitische Druck auf die iranische Führung, jegliche Zusammenarbeit mit der IAEO einzustellen. Solange die Politik des maximalen Drucks Teheran nur eine politische Kapitulation in Aussicht stellt, um die Krise zu beenden, steigt die Wahrscheinlichkeit an, dass die iranische Führung Nuklearwaffen als einzige effektive Maßnahme für den Systemerhalt ansehen wird.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Forschungsgruppenleiterin der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: azadeh.zamirirad@swp-berlin.org Twitter: @zadehmiri