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Antisemitismus zwischen Schwertern und Pflugscharen - Essay | Antisemitismus | bpb.de

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Antisemitismus zwischen Schwertern und Pflugscharen - Essay

Natan Sznaider

/ 14 Minuten zu lesen

"Antisemitismus bedeutet, die Juden mehr als absolut notwendig zu hassen." So soll der jüdische Philosoph Isaiah Berlin einst Antisemitismus definiert haben. Er hatte wohl Recht. Antisemitismus, ob ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird, ist keine Unstimmigkeit der globalen Moderne, die durch Aufklärung behoben werden kann. Er ist Teil der Aufklärung.

Es ist gar nicht lange her, da war es schwer, einen bekennenden Antisemiten zu treffen. Man hatte das Gefühl, dass nach 1945 niemand mehr ein stolzer Antisemit sein wollte. Die Erinnerung an den Holocaust hatte den Hass auf Juden für längere Zeit für viele delegitimiert. Verschwunden war Antisemitismus selbstverständlich nie, aber man musste wie ein Archäologe arbeiten und Verborgenes aufdecken. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Man braucht keinen Archäologen mehr. Ein Smartphone ist genug. Der "unheimliche" Jude ist wieder da, begleitet von den noch "unheimlicheren" Muslimen. Nicht nur der Holocaust hat die gegenwärtigen Konzeptualisierungen des Antisemitismus kompliziert. Kompliziert wurde insbesondere der Antisemitismusbegriff, eine ewige Wahrheit, deren Sinn wir als Wissenschaftler durch richtiges Denken erkennen können. "Antisemitismus" ist, wie dieser Essay zeigen will, eher politischer Kampfbegriff und Erlebnis als wissenschaftliche Begriffsbildung, die experimentell nachgewiesen werden kann.

Israel und Antisemitismus

Die Gründung des Staates Israel als Ausdruck jüdischer politischer Souveränität macht es nicht einfacher, über Antisemitismus nachzudenken. Warum gibt es so viel Kritik an Israel? Ist die Kritik berechtigt? Oder ist es zu viel Kritik und die Motivation der Kritiker fragwürdig, also antisemitisch? Das sind Fragen, die sich einer schnellen Antwort entziehen, will man nicht in die Falle der Kritiklegitimationsdebatte fallen.

Nach 1945 schien es mehr als selbstverständlich, dass nur der Zionismus das für die Juden von den Nazis Zerschlagene wieder zusammenfügen kann. Ein mystisches Grundereignis, das politisch in die Forderung übersetzt wurde, ein staatenloses Volk zu einem Volk mit einem Staat und einer Heimat zu machen und den Juden das Gefühl zu geben, dass der Zionismus, der zwischen den Kriegen nur eine der verschiedenen politischen Alternativen für Juden war, sich als einzig mögliche Alternative für Juden, die nach 1945 lebten, erwies. Die politische und theologische Sprache der am 14. Mai 1948 verkündeten Unabhängigkeitserklärung Israels erklärt sich so eindeutig. Gleich nach der Staatsgründung riefen die Oberrabbiner Israels "Das Gebet für den Frieden des Staates Israel" in die Welt. Darin heißt es: "Unser himmlischer Vater, Fels Israels und sein Erlöser, segne den Staat Israel, den Anfang der Blüte unserer Erlösung." Wenn der Staat Israel als Anfang der jüdischen Erlösung aufgefasst wird, muss also die Kritik am politischen Handeln Israels zugleich auch Kritik an dieser Erlösung sein.

Neben dieser theologischen Dimension begann der neu gegründete Staat Israel mit einer ethnischen Definition seiner Nation und musste versuchen, aus der Pluralität jüdischer Diasporaexistenzen eine nationale Einheit zu schaffen. Was heterogen war, sollte nun homogen werden. Der Zionismus war die politische Antwort auf den Antisemitismus. Deshalb sind diese beiden Begriffe miteinander verwoben. Das Konzept der Souveränität des israelischen Staates stellte die jüdische Vision des Lebens in der Diaspora infrage. Und hier beginnt die Kritik an Israel als europäisches ethnonationales, wenn nicht sogar koloniales Projekt. Es ist in erster Linie Kritik an der Ausübung jüdischer politischer Souveränität. Und es ist eine Kritik an der gewaltsamen Landnahme durch die Zionisten. Denn die Idee eines "jüdischen Staates" konnte nur mit Gewalt durchgesetzt werden. Diese Idee eines Staates, in dem Juden und die jüdische Religion ausschließliche Privilegien haben, von denen nichtjüdische Bürger für immer ausgeschlossen werden, ist für viele Kritiker, die Israel weder theologisch noch historisch aus der jüdischen (und auch deutschen) Situation verstehen wollen, schwer zu ertragen. Es scheint aber der Fall zu sein, dass alle Beteiligten der Debatte(n) mit der Rhetorik des Verdachts arbeiten: Der Antisemitismusvorwurf gründet auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist. Wie also lässt sich Antisemitismus entschlüsseln, wenn als "Antisemiten" Bezeichnete von sich behaupten, keine zu sein?

Moralische Narrative des 20. Jahrhunderts

Es gibt zwei große moralische Narrative des 20. Jahrhunderts. Israel und die Juden befinden sich im Brennspiegel von beiden. Das eine fokussiert den Holocaust und alle historische Konsequenz für Juden, die in Israel den Garanten ihrer Sicherheit sehen. Hier dient die Gründung Israels in der Tat als Erlösung. In dem anderen moralischem Narrativ spielt der Holocaust keine zentrale Rolle. Hier stehen die Grausamkeiten des Westens gegen die Welt, die außerhalb des Westens steht, im Vordergrund. Nicht Holocaust, sondern Kolonialismus und Imperialismus sind die semantischen Markierungen. In diesem Narrativ sind Israelis weiße Siedler und Israel eine Siedlergesellschaft, die die bereits vorher dort wohnhafte Bevölkerung unterwirft und als Handlangerin des Westens gesehen wird. Sicher sind diese beiden Narrative nicht klar voneinander zu trennen, sondern sie sind sowohl in Geschichtsschreibung als auch in politischen Annäherungen miteinander verknüpft. Gerade im Nahostkonflikt sind sie überlagert. Das kolonialistische Narrativ, das anfänglich im Westen kaum wahrgenommen wurde, ist insbesondere in den vergangenen Jahren durch Einwanderung und globale Medien in Europa angekommen und konkurriert mit dem Narrativ des Holocaust.

Im deutschen Erinnerungsraum werden die Auffassung, Israel sei ein Projekt von Kolonialismus und Ausbeutung, sowie daran anschließende Boykottaufrufe gegen den israelischen Staat – und damit gegen Juden – besonders negativ konnotiert und rufen sofort Antisemitismusbeauftragte aufs erkenntnistheoretische Spielfeld. Das musste auch der postkolonialistische Denker Achille Mbembe anlässlich seiner Einladung erfahren, die Ruhrtriennale im Sommer 2020 zu eröffnen. Die Reaktionen waren abzusehen. Mbembe wurde als Antisemit, Israelhasser und Holocaustleugner von der einen politischen Ecke bezeichnet, während die andere ihn als legitimen Kritiker des israelischen Kolonialismus auszeichnen oder auch sein Recht auf Kritik verteidigen wollte. Wir drehen uns im Kreis des Gesagten und des nicht Gemeinten. Für seine Gegner reicht es nicht, wenn Mbembe von sich behauptet, kein Antisemit zu sein. Die Seite, die Mbembe verteidigt, argwöhnt hingegen, der Antisemitismusvorwurf diene nur dem Interesse Israels, legitime Kritik zum Schweigen zu bringen. Das sind keine wissenschaftlichen, sondern interessengeleitete politische Debatten, wie auch im Beitrag von Achille Mbembe selbst zur Debatte sehr deutlich wird: Wohl nicht zufällig nannte er diesen "Die Welt reparieren", eine Anspielung auf das gleichnamige Konzept aus dem Judentum (Tikun Olam), das messianische Hoffnung ausdrücken soll. So schafft Mbembe es, sich an die jüdische Israelkritik anzukoppeln, was wiederum die Solidarität dieses Milieus mit ihm nicht nur erklären, sondern auch versprechen kann. Er ist bereit, den politischen Kampf gegen Israel und seine Politik auch mit Boykott und Isolation zu unterstützen. Diese beiden Worte sind eindeutig politische Kampfbegriffe und sicher keine wissenschaftliche Abhandlung über die israelische Politik.

Der Soziologe Max Weber hob in einem Vortrag, den er 1917 vor Studierenden in München hielt, einst hervor, politische Ideen seien "nicht Pflugscharen zur Lockerung des Erdreiches des kontemplativen Denkens, sondern Schwerter gegen die Gegner: Kampfmittel." Auch in der Debatte um Achille Mbembe nutzen alle Beteiligten ihre Worte als Schwerter. Dem Verständnis des Antisemitismus als integraler Teil der Moderne dienen sie nicht, dem politischen Kampf schon. Selbstverständlich gibt es auch in Israel selbst ein politisches radikales Milieu in der akademischen Welt, das den Zionismus als Kolonialprojekt analysiert. Ende April 2020 veröffentlichten israelische Wissenschaftler, die dem sogenannten kritischen Lager angehören, einen Aufruf, in dem sie Mbembe im Namen der Meinungsfreiheit in Schutz nehmen und die Absetzung des Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, fordern. Diese Stimmen bemühen einen kritischen israelischen Blick, ohne den deutschen Kontext der Debatte zu verstehen. Ein Spiegelbild der Israelverteidiger im deutschen Kontext, die oft die politischen Realitäten Israels nicht im Auge haben, sondern deutsche Befindlichkeiten bemühen.

Die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und ideologischem Wissen sind durchlässig, Tatsachen und Werturteile sind nicht immer sauber zu trennen und voneinander zu unterscheiden. Aber gerade in der Diskussion über Antisemitismus sollte man sich bemühen, dies zu tun. Denn es geht hier auch um die intellektuelle Redlichkeit.

Antisemitismus und Emanzipation

Für viele Juden, aber nicht nur für diese, galt im 19. Jahrhundert das Motto des russischen jüdischen Aufklärers Jehuda Leib Gordon: "Sei ein Jude zu Hause und ein Mensch in der Welt." Die Emanzipation war der Beginn des "unsichtbaren" Juden, der durch das Versprechen der Staatsbürgerschaft wie alle anderen Menschen sein konnte. In einer Zeit, in der Modernität auch den Übergang von "Gemeinschaft" zu "Gesellschaft" bedeutete, wurde dies zu einer Anklage gegen Juden. Sie seien immer noch eine enge Gemeinschaft und würden damit die allgemeinen Ansprüche der Staatsbürgerschaft unterminieren, zugleich jedoch die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft nutzen – das war die Meinung derjenigen, die in "den Juden" Feinde der Nation sahen. Juden waren in einer Doppelbindung gefangen. Sie wurden als zu partikular angesehen, um universelle Bürger zu sein, und als zu universell, zu kosmopolitisch, um partikulare Bürger zu sein. So reflektierte Karl Marx in seiner Schrift "Zur Judenfrage" 1843 über die politische Emanzipation der Juden und darüber, warum sie versagen musste. Marx glaubte nicht, dass dieses Spannungsfeld mit rechtlichen Mitteln aufgelöst werden könne. Die Staatsbürgerschaft war seiner Meinung nach nicht das Problem – der Kapitalismus war es. "Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum", mit diesen Worten beendete Marx seinen Text. Diese Aussage wurde nicht nur für die Feinde der Juden zu einem Schlachtruf, sondern auch für die Juden selbst, die im Sozialismus eine jahrhundertealte jüdische Sehnsucht zur Errettung sahen. In dieser politischen Sichtweise ging es nicht mehr um die Emanzipation von Juden, sondern um die Emanzipation von Menschen. Juden als Juden unterminierten diesen universellen Anspruch der Menschwerdung. Partikulare Juden gehörten in dieser Argumentation der Vergangenheit an und mussten angeblich "verbessert" werden, um zu Menschen zu werden. Die Juden wurden zum Symbol aller modernen Paradoxien: Als Figuren der Partikularität unterminierten sie den universellen Anspruch der Aufklärung, wurden zu Außenseitern derselben und lebten immer noch in Fantasiewelten eng verwurzelter Gemeinschaften.

Ein gutes Beispiel für diese Argumentation in heutiger Zeit ist die deutsch-internationale vierteilige Miniserie "Unorthodox", die seit März 2020 auf Netflix zu sehen ist. Es geht um die Emanzipationsgeschichte der 19-jährigen Esther "Esty" Shapiro aus einer ultraorthodoxen Religionsgemeinschaft in Brooklyn. Sie "flieht" nach Berlin, wo sie eine kosmopolitische Gruppe junger Musiker findet, sich mit ihnen anfreundet und sich am Ende sowohl sexuell als auch künstlerisch befreit. Die Schlüsselszene ist eine "Wiedertaufe" im Wannsee, wo sie die Perücken der verheirateten jüdisch-orthodoxen Frauen ins Wasser wirft und mit gekreuzigten Armen im See schwimmt. Danach ist der Weg in die Berliner Nachtklubszene offen. Esty hat ein erfüllendes sexuelles Erlebnis mit einem jungen Berliner Musiker, versöhnt sich mit der ehemals orthodoxen Mutter, die mit einer deutschen Frau in Paarbeziehung lebt, und "findet" sich selbst als Sängerin im kosmopolitischen Berlin. Es ist dieses Berlin, das am Ende die junge Jüdin aus den partikularen "Klauen" der Ultraorthodoxen rettet. Diese Juden, die von Anfang an falsch lagen und als Unterdrücker weiblicher Sexualität und freier Lebensformen geschildert werden, wurden von der Stadt Berlin und ihren kosmopolitischen Bürgern in die Schranken verwiesen.

Das Dilemma der "Normalität"

Um was geht es also? Steht Esty stellvertretend für den Staat Israel? Kann es sein, dass das von der Französischen Revolution ins Leben gerufene Dilemma der sichtbaren Partikularität gegenüber dem "unsichtbaren" Universalismus heutzutage auch für Israel gilt, einem partikularistischen Staat par excellence, der sich jenseits des postnationalen Zeitgeistes definiert? Israel definiert sich ethnisch und dadurch, dass die Kriterien für die israelische Staatsbürgerschaft ebenso wie die Kriterien für das kollektive Gedächtnis partikular sind, was so viel heißt, dass man an den Holocaust als Verbrechen gegen das jüdische Volk und nicht als Verbrechen gegen die Menschheit erinnert. Andere Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und Gedächtnis würden verlangen, dass Israel diese Kriterien, die wiederum eine historische Reaktion auf den Antisemitismus sind, aufgibt. Als man Juden vorwarf, eine Nation innerhalb einer Nation zu sein, waren sie nicht imstande, sich diesem Dilemma zu entziehen: Je mehr sich Juden assimilierten, desto "weniger" waren sie Juden. Und wenn man sich trotz assimilierter, "normaler" Lebensweise weiterhin als Jude fühlte, dann war es ein Zeichen dafür, dass man nicht völlig assimiliert war. Es scheint, dass diese Problematik auch für Israel gilt, das nicht imstande sein kann, universale Kriterien der Zugehörigkeit zu schaffen. Israel definiert sich sowohl als demokratisch als auch als jüdisch, sodass seine Universalität inhärent begrenzt ist.

Antisemitismus oder nicht, es gibt Kritiker Israels, die die Vorstellung eines ethnischen Staates, in dem Juden Privilegien genießen, ablehnen. Diese kritisieren Israel auch für seine Bereitschaft zu militärischen Aktionen. Aber Israels Selbstverständnis umfasst die Souveränität, was auch Gewaltbereitschaft bedeutet. Auf diesem Selbstverständnis beharrt Israel auch dann, wenn jemand dem Staat vorwirft, Menschenrechte und Völkerrecht zu verletzen. Auch hier sollte man den historischen Hintergrund in Betracht ziehen. In der israelischen kollektiven Erinnerung zeichnet sich das klägliche Scheitern des internationalen Völkerrechts ab, das während des Holocaust nicht für den Schutz der Juden sorgen konnte. Dies ist einer der Gründe, warum sich die israelische Souveränität nicht der internationalen Rechtsprechung verpflichtet sieht. Und an dieser Stelle beginnen nun politische Probleme, die das politische Handeln mitbestimmen. Israel steht einem vereinten (West-)Europa gegenüber, das sich gerne universell definiert. Es gibt eine lebendige Erinnerungskultur in Europa hinsichtlich des Holocaust, aber es ist eine Erinnerung ohne jüdische Sprachen, ohne jüdische Kulturen und ohne jüdische Politik. Deswegen sind die Bezüge auf eine diasporische jüdische Kultur für Europa nicht wirklich relevant. Dort existiert sie nicht mehr. Als Ersatz dafür wird auf dem Einsatz für die "Menschheit" und der universellen Staatsbürgerschaft beharrt.

Bei der Gründung Israels war es ein Ziel, die jüdische Lebenswelt grundlegend zu ändern. Israelische Juden sollten "normales" Verhalten zeigen, das Verhalten der Nichtjuden, sich vollständig in die Geschäfte der Staatspolitik einzumischen. Sobald die Juden ein Zuhause hatten, sollten sie ihre "Fremdartigkeit" verlieren und als politisch Gleichberechtigte der Weltzivilisation mitwirken. Das wird oft nicht akzeptiert. Es besteht immer noch die Erwartung, dass die Juden aufgrund ihrer Vergangenheit "edler" als Europäer und andere hätten handeln sollen. Es wird erwartet, dass Israel Chauvinismus und Militarismus hätte vermeiden und eine perfekte Demokratie sein sollen – als ob staatliches und politisches Handeln so möglich wäre, zumal in einer feindlichen Umgebung, die die Ausübung jüdischer politischer Souveränität nicht akzeptieren kann und will. Schon der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli wies darauf hin, dass die Definition von "Normalität" im politischen Verhalten Gewalt und Gewaltausübung umfasst. Wenn Juden also "normal" werden, ist es dann vernünftig zu erwarten, dass sie eine ideale politische Gesellschaft bilden und unhistorisch oder moralischer als andere handeln? Dies ist ein Dilemma, das der Staat Israel nicht gelöst hat und auch nicht lösen konnte. Die Verwirklichung politischer Normalität und Freiheit durch Juden, wie sie sich im täglichen Verhalten Israels ausdrückt, ist für viele Juden und Nichtjuden zutiefst anstößig. Es ist daher auch nicht überraschend, dass die Berichterstattung über Israel unausgewogen ist. Das ist nicht zwangsläufig antisemitisch, kann aber aus der Geschichte des Antisemitismus heraus erklärt werden. Verwunderlich wäre es, wenn die Berichterstattung ausgewogen wäre. Es ist klar, dass Israel anders als andere Nationalstaaten gemessen und beurteilt wird. Israel kann in seiner jetzigen Form nicht erwarten, wie alle anderen Nationen behandelt zu werden, da die jüdische Existenz in und außerhalb Israels nicht mit der Existenz anderer Gruppen vergleichbar ist.

Das muss zu Konflikten führen. Der Konflikt zwischen denjenigen, die ein normales Leben für die Juden einfordern und denen, die glauben, Juden müssten über der Politik stehen, ist Teil dieses Diskurses. Das ist auch, was meiner Meinung nach hinter extremer Israelkritik steht. Selbstverständlich kann man sagen, das sei auf Israel übertragener Antisemitismus. Dies mag sogar stimmen, aber ich glaube, man macht es sich so zu einfach. Es geht um mehr: Humanitäres Denken und Fühlen soll universell, unabhängig und unparteiisch sein. Diese Prinzipien existieren auch in Israel, sie werden aber anders konnotiert. Die Zugehörigkeit zum Nationalstaat ist der Normalfall, aber es war dieser Normalfall, der vor der Gründung Israels die Situation für viele Juden, die in ihren Staaten als nicht dazugehörig galten oder staatenlos flüchteten, zu einer Situation der Vernichtung werden lassen sollte. Die Konsequenzen, die die Juden für Israel aus dem Versagen des nationalstaatlich orientierten Völkerrechts zogen, zielen aber nicht auf eine Delegitimierung des Nationalstaates, sondern auf Souveränität und die militärische Fähigkeit, sich zu wehren. Macht und Machtausübung wie auch politische Gewalt werden in Israel durchaus positiv eingeschätzt. Das kompliziert die Debatten über Israel und Antisemitismus.

Man kann natürlich weiter davon träumen, Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln, wie man auch von einer Welt ohne Antisemitismus träumen kann. Es ist eine prophetische Vision der Weltreparatur. Aber solange es Juden gibt, wird es wohl auch Antisemiten geben. Oder in den Worten Franz Kafkas: "Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird." Wie man bis dahin politisch damit umgeht, ist die wahre Frage.

ist Professor für Soziologie am Academic College of Tel-Aviv-Yaffo. nE-Mail Link: atan@mta.ac.il