Europäische Solidaritäten
Es wird vorgeschlagen, unterschiedliche Solidaritätstypen zu unterscheiden. Darauf aufbauend lässt sicher genauer untersuchen, inwieweit Europa durch einen Mangel an Solidarität charakterisiert ist.Einleitung
Solidarität bezeichnet einen Zusammenhang zwischen Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, der sich durch eine besondere Form von Verbundenheit und wechselseitiger Verpflichtung auszeichnet.[1] Er steht für spezifische Formen sozialer Kooperation, die auf Bindungen innerhalb eines kollektiven Zusammenhangs und daraus hervorgehenden Gemeinwohldefinitionen zurückgehen.[2] Als wichtige Merkmale eines Solidaritätszusammenhanges gelten, dass gegenseitige Hilfe gegeben wird, dass es eine spezifische Legitimität der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer spezifischen Ziele gibt und dass der Solidaritätszusammenhang nicht einfach objektiv gegeben, sondern von den solidarisch Verbundenen auch wahrgenommen und für bedeutsam gehalten wird.[3] Solidarität wird in vielen Kontexten geübt, so in der Familie, in Freundeskreisen, sozialen Klassen oder auch dem Nationalstaat. Der Nationalstaat gilt gemeinhin als der Ort, in welchem sich besonders umfassende Solidaritätszusammenhänge entwickeln konnten, so beispielsweise durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungssysteme. In der Literatur ist deshalb von der "Nationalisierung der Solidaritätspraktiken"[4] gesprochen worden.In der Diskussion um die Perspektiven der Europäisierung ist häufig von der Notwendigkeit europäischer Solidarität die Rede. Politische und wirtschaftliche Integrationsbestrebungen, also Formen der "kalten Integration", reichen in den Augen vieler Beobachter nicht aus, um der Europäischen Gemeinschaft Sinn und Legitimität zu verleihen. Wenn Zugehörigkeit, Kollektivität und solidarische Verpflichtung nationalstaatlich organisiert sind, ist supranationale Solidarität aber keine Selbstverständlichkeit. So unterschiedliche Autoren wie Lepsius[5], Offe[6], Streeck[7] und Münch[8] bescheinigen Europa einen Mangel an Solidarität und empfehlen daher Zurückhaltung bei der Aneignung von weitergehenden Solidaritätspflichten jenseits des Nationalstaates. Da das europäische Gebilde nicht die gleichen Binnenstrukturen hinsichtlich Gemeinsamkeit und normativ-politischer Verfassung aufweist wie die Nationalstaaten, gilt es ihnen als unwahrscheinlich, dass sich die EU als Solidaritätszusammenhang etablieren kann.