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Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung

Siegfried Schieder Rachel Folz Simon Musekamp Simon Rachel Folz / Musekamp Siegfried Schieder /

/ 15 Minuten zu lesen

Entwicklungspolitik bezieht ihre legimatorische Absicherung vor allem aus dem Gebot der Solidarität als einer besonderen Form der reziproken Verbundenheit und Verpflichtung. Dies wird am Beispiel Frankreichs, Deutschlands und Schwedens aufgezeigt.

Einleitung

Solidarität wird seit langem ganz selbstverständlich als wichtige soziomoralische Ressource demokratischer Gesellschaften angesehen. Daher erstaunt es, dass der Solidaritätsgedanke bislang in der Politik- und Gesellschaftstheorie die Rolle eines "Stiefkindes" gespielt hat. Auch im Bereich der Internationalen Beziehungen ist Solidarität bislang kaum theoretisiert worden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein unterschiedliches Verständnis von Solidarität existiert und entsprechend verschiedene Begründungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Das können spezifische Gemeinsamkeiten wie soziale oder räumliche Nähe, die Zugehörigkeit zu einer "imaginierten Gemeinschaft" (Benedict Anderson) oder auch gemeinsame Interessen sein.






Man könnte vermuten, dass sich die Bereitschaft, Solidarität zu zeigen, mit zunehmender räumlicher Distanz zwischen Individuen und Gruppen verringert und letztlich verliert. Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen: Jenseits des Nationalstaates hat sich ein über spontane Hilfsbereitschaft hinausgehendes institutionelles Beziehungsgeflecht herausgebildet, das Staaten und ihre Bürger als Träger von solidarischen Rechten und Pflichten in zwischenstaatlichen Zusammenhängen ausweist. Dies gilt natürlich in besonderem Maße auf europäischer Ebene, aber auch in anderen zwischenstaatlichen Zusammenhängen. Am deutlichsten sichtbar wird internationale Solidarität an finanziellen Transferleistungen wie etwa der Vergabe von öffentlicher Entwicklungshilfe.

Traditionell jedoch gilt Entwicklungshilfe vor allem als Instrument außenpolitischer Strategien der Allianzbildung oder zur Gewinnung neuer Absatzmärkte. Aber diese Sichtweise greift zu kurz: Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Entwicklungshilfe sich weder auf ökonomischen Eigennutzen noch auf strategische Erwägungen reduzieren lässt. Vielmehr ist der Anstieg der offiziellen Entwicklungshilfe auch die Folge "the misery of those far away having been brought home to the peoples of the richer countries". So resümiert Enzo R. Grilli in seiner Studie zur Entwicklungspolitik der EU gegenüber Afrika: "[I]f the African continent remains a priority in EC development, it is more for historical and humanitarian reason (...) than for the protection of European economic interests considered to be vital."

Auch wir gehen davon aus, dass sich die europäische Entwicklungspolitik kaum alleine interessengeleitet erklären lässt. Wenn dies der Fall wäre, gäbe es keine plausible Erklärung für den Anstieg der Entwicklungshilfe für Afrika nach 1989: Geostrategisch und wirtschaftlich hat der Kontinent seither insgesamt an Bedeutung verloren. Vielmehr muss - so das zentrale Argument - auf Solidarität als konstitutives Element für die Erklärung von Entwicklungspolitik zurückgegriffen werden. Zunächst skizzieren wir einen solidaritätssoziologischen Ansatz, der es ermöglicht, das Gewicht von Solidarität in der Entwicklungspolitik analytisch zu erfassen. Illustriert wird die Bedeutung von Solidarität danach am Beispiel der Sonderbeziehungen der EU gegenüber den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP). Wir vergleichen dabei exemplarisch die nationalen AKP-Politiken Frankreichs, Deutschlands und Schwedens beim Zustandekommen des Cotonou-Abkommens (2000). Dabei fragen wir nach den Gründen, weshalb sich Europa nach wie vor für die AKP-Staaten engagiert, und warum bestimmte EU-Mitgliedsstaaten politisch und finanziell stärker für diese Staaten einstehen als andere.

Solidarität als Faktor in der Außenpolitik

Als wichtigste Ziele von Außenpolitik werden gemeinhin die Bewahrung der Sicherheit eines Staates bzw. seiner Bevölkerung und deren (wirtschaftliches) Wohlergehen angesehen. Entsprechend sind alle Bemühungen, anderen Staaten zu helfen, ohne dabei derartige Interessen zu verfolgen, zunächst sekundär. Autoren neuerer konstruktivistischer Außenpolitikanalysen halten dieser Sichtweise aber entgegen, dass sowohl normative und geschichtliche Kontexte als auch intersubjektiv geteilte Wirklichkeitskonstruktionen wesentliche Bedeutung dafür haben, welche Interessen Staaten wahrnehmen und wie sie diese verfolgen. Normen und Werte, Ideen und Identitäten - und damit auch Solidarität - können sich deshalb ebenfalls außenpolitisch auswirken.

Was ist Solidarität? Obwohl die konstruktivistische Wende inzwischen Einzug in die Außenpolitikforschung gehalten hat, ist Solidarität bis heute ein vernachlässigter Faktor geblieben. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Solidarität ein mehrdimensionaler Begriff ist, sondern auch damit, dass "soziale Solidarität als ein (...) moralisches Phänomen der unmittelbaren, exakten Beobachtung nicht zugänglich [ist]. (...) Um es also klassifizieren wie vergleichen zu können, muss man die innere Tatsache, die sich uns entzieht, durch eine äußere Tatsache ersetzen, die sie symbolisiert, und die erste vermittels der zweiten erforschen."

Während Durkheim als sichtbares Symbol das Recht wählt, untersuchen wir in diesem Beitrag internationale Solidarität über Handlungsprinzipien. In Anlehnung an die Gaben- und Reziprozitätstheorie definieren wir Solidarität als eine gegenseitige Erfüllung von moralischen Handlungsrechten und -pflichten, die sich aus Verbundenheit ergeben. Diese Rechte und Pflichten können im Einzelnen unterschiedlich konstruiert werden, wobei jeweils verschiedene Formen der Solidarität in den Mittelpunkt gestellt werden. Der jeweilige Solidaritätszusammenhang ist dabei nicht nur objektiv gegeben, sondern wird von den solidarisch miteinander Verbundenen vor allem auch als bedeutsam wahrgenommen.

Die Besonderheit solidarischer Bindekraft besteht nun darin, dass solidarisches Handeln sich der Dichotomie von Eigennutz versus Altruismus entzieht. Eigennütziges kooperatives Handeln kann deshalb nicht als Solidarität verstanden werden, weil interessengeleitete Kooperation zur Bedingung hat, dass auf ein Entgegenkommen der einen Seite eine direkte Gegenleistung der anderen erfolgt. Im Sinne der Theorie der Gabe, die sowohl freiwillig als auch verpflichtend ist, sprechen wir von Solidarität als "erweiterte Reziprozität". Solidarität unterscheidet sich aber auch von einer universalistischen Norm - sie wirkt verpflichtend nur gegenüber einer bestimmten Gruppe, nicht gegenüber allen Menschen. Solidarität grenzt sich damit klar von universellen Gerechtigkeitsnormen und allgemeinen Hilfsnormen der Barmherzigkeit bzw. Caritas ab. Allerdings wird Solidarität nur selten als alleiniger Handlungsgrund nachzuweisen sein. So dürften bei der Entwicklungszusammenarbeit auch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen im Spiel sein - und zwar durchaus auch dann, wenn internationale Solidarität beschworen wird. Aber das bedeutet eben nicht, dass Solidarität in diesem Zusammenhang völlig belanglos wäre.

Zur solidarischen Struktur in der Entwicklungspolitik: Während sich Solidaritätszusammenhänge ursprünglich auf den Mikrobereich der Familie oder der dörflichen Gemeinschaft bezogen haben, hat auf kollektiver Ebene der moderne Wohlfahrtsstaat die Organisation von Solidarität übernommen. Wohlfahrtsstaaten normieren auf spezifische Weise moralische Solidaritätsrechte und -pflichten für die nationale Solidargemeinschaft, die auf dem Grundsatz beruhen, dass Menschen in sozialen Problemlagen geholfen werden sollte. Menschen scheinen aber nicht nur auf interne, sondern auch auf externe Ungerechtigkeit sensibel zu reagieren. Daher ist anzunehmen, dass Solidarität grundsätzlich nicht an nationale Grenzen gebunden ist.

Gesellschaftlich verankerte solidarische Überzeugungen übersetzen sich nicht unmittelbar in außenpolitisches Regierungshandeln. Vielmehr werden unterschiedliche Forderungen an das politische Entscheidungssystem gerichtet, so dass Solidarität mit Forderungen nach Sicherheit oder Herrschaft konkurriert. Ist Solidarität schon innerhalb von Nationalstaaten schwierig einzufordern, so trifft dies umso mehr jenseits des Nationalstaats zu. Internationale Solidarleistungen sind nämlich nicht geschuldete Rechtspflichten, sondern vielmehr freiwillig und gegenüber den Steuerzahlern rechtfertigungsbedürftig. Welchen Stellenwert Regierungen Solidaritätspflichten gegenüber Dritten einräumen und wie sie diese erfüllen, hängt letztlich von der jeweiligen Argumentations- bzw. Diskursstruktur ab, mit der Solidarität vertreten wird. Drei unterscheidbare Handlungsmotive bestimmen dabei vor allem die Verteilung von moralischen Rechten und Pflichten in der jeweiligen Solidargemeinschaft: Bedürftigkeit, Bindung und Eigenanstrengung.

Nach dem ersten Handlungsprinzip ist Solidarität abhängig von der Bedürftigkeit der Hilfsempfänger. So erhalten insbesondere solche Individuen, Gruppen oder Staaten finanzielle Hilfe und politische Unterstützung, deren Armut und Not am größten ist. Je größer die Bedürftigkeit der Empfänger, umso größer ist der solidarische Handlungsdruck auf die Geberländer, diesen zu helfen.

Nach dem zweiten Handlungsprinzip sind es die besonderen Bindungen zwischen Geber und Empfänger, welche solidarisches Handeln begründen. Moralische Bindungen können aufgrund einer gemeinsamen Geschichte, kulturellen Nähe oder aus einer Verbindung im "Geiste" (z.B. Glaubensgemeinschaften) resultieren. Je stärker diese Bindungseffekte ausgeprägt sind, umso größer ist der solidarische Handlungsdruck.

Solidarität wird aber auch abhängig gemacht vom Prinzip der Eigenanstrengung. Die Bereitschaft zu Solidarität gegenüber Bedürftigen kann dann leiden, wenn letztere Hilfeleistungen nicht entsprechend der vereinbarten Zielsetzungen einsetzen. Die Eigenanstrengung bestimmt dann in diesem Kontext letztlich, wer aus solidarischen Gründen Hilfsansprüche geltend machen kann und so Solidarität "verdient".

Die EU-Sonderbeziehungen zu den AKP-Staaten

Mit dem Abkommen von Cotonou vom 23. Juni 2000 wurde die bis zu den Römischen Verträgen zurückreichende, privilegierte Entwicklungspartnerschaft der EU mit inzwischen 78 AKP-Staaten bis 2020 erneuert und verlängert. Die Verhandlungen des Abkommens und des Finanzprotokolls waren schwierig und langwierig. Drei Verhandlungsgegenstände erwiesen sich als besonders kontrovers: erstens die Definition der AKP-Gruppe, zweitens die finanzielle Ausstattung des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) und drittens die Konditionalisierung der Hilfe.

Erstens: Die EU-AKP-Sonderbeziehungen schließen Länder ohne historische Bindungen an die EU-Mitgliedstaaten aus, darunter einige der ärmsten Länder der Welt. Ausgewählten Partnern einseitige Handelspräferenzen zu gewähren, verstößt zudem gegen die WTO-Grundregel der Gleichbehandlung und war bisher allein mit Hilfe einer Ausnahmeregelung zulässig. Während Frankreich - flankiert durch die AKP-Staaten - das "partikuläre" Handelsregime und die AKP-Gruppe zu bewahren versuchte, sprachen sich andere Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland und Schweden, für eine Einbeziehung der AKP-Politik in die "globale" EU-Südpolitik aus, konnten sich aber damit nicht durchsetzen.

Zweitens: Neben der Gewährung einseitiger Handelspräferenzen erhalten die AKP-Staaten über den EEF Finanzhilfen. Der neunte EEF wurde für den Zeitraum 2000 - 2007 mit 13,2 Mrd. Euro dotiert. Zusätzlich standen zum Zeitpunkt des Abschlusses von Cotonou 9,9 Mrd. Euro an nicht abgeflossenen Mittel aus vorangegangenen Laufzeiten zur Verfügung. Während Deutschland und Schweden sich für das Einfrieren des EEF aussprachen, war es vor allem Frankreich, das sich für eine großzügige Dotation des EEF einsetzte.

Drittens: Mit Cotonou wurde die politische Dimension gestärkt. Das Abkommen von Cotonou erlaubt der EU bei Verstößen gegen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie schwerer Korruption einseitige Maßnahmen bis hin zur Einstellung der eigentlich vertraglich zugesicherten Hilfe zu ergreifen. Aufgrund massiver Gegenwehr der AKP-Staaten wurden die Sanktionierungsmöglichkeiten in Hinblick auf das Prinzip der "verantwortungsvollen Regierungsführung" jedoch stark eingeschränkt. Zentraler Streitpunkt unter den EU-Mitgliedstaaten war nicht die Frage, ob die Hilfe an politische Konditionen zu knüpfen sei, sondern wie auf nichtkonformes Handeln reagiert werden sollte. Frankreich favorisierte ein weicheres Vorgehen, welches auf politischen Dialog statt auf Sanktionen setzt. Schweden und Deutschland befürworteten hingegen die Anwendung von Sanktionen bei Verstößen gegen die vereinbarten politischen Bedingungen.

Frankreichs "familiäre" Beziehungen zu den AKP-Staaten: Die besondere Bindung Frankreichs an seine ehemaligen Kolonien bzw. an den afrikanischen Kontinent insgesamt wird in der Forschung einstimmig als zentrales Merkmal französischer Entwicklungszusammenarbeit angesehen. Die Beibehaltung einer spezifischen Konvention zwischen der EU und den AKP-Staaten sei "ein für Frankreich essentielles Element der unabdingbaren europäischen Solidarität mit Afrika," so Entwicklungsminister Charles Josselin im Juni 1998. Der Bezug auf die Verbundenheit Frankreichs mit den AKP-Staaten, deren Privilegien gegen Widerstände seitens anderer Mitgliedstaaten zu verteidigen sind, zieht sich wie ein roter Faden durch die französische Debatte über die AKP-Politik.

Die Dominanz des Bindungsprinzips zeigt sich auch im Einsatz Frankreichs für eine gute finanzielle Ausstattung des EEF. Frankreich zahlt seit den 1990er Jahren einen überproportionalen Anteil (24,3 gegenüber 17 Prozent am EU-Haushalt) in diesen Fonds ein, um dessen Gesamthöhe abzusichern. Dies zeigte sich auch in den Verhandlungen zum neunten EEF, in denen die französische Regierung ihre ursprüngliche Forderung nach einer Senkung des eigenen Beitrags fallen ließ, um die Höhe des Fonds nicht zu gefährden. Da die EEF-Mittel ausschließlich für die AKP-Staaten bestimmt sind, lässt sich diese Haltung am besten mit der engen Bindung Frankreichs an viele dieser Staaten erklären. In diese Richtung weist auch der Umstand, dass in der AKP-Debatte zwar der Aspekt der Bedürftigkeit stets hervorgehoben wurde, sich in der Definition der französischen Empfängerländer allgemein aber eher nicht widerspiegelt.

Auch das Anstrengungsprinzip spielte in der französischen Debatte eine Rolle. Zwar sprach sich die französische Regierung entsprechend der Reformen in ihrer bilateralen Entwicklungspolitik für eine politische Konditionalisierung von AKP-Hilfen aus. Allerdings betonte Paris die Schwierigkeiten bei der Anwendung von Sanktionen und sah den politischen Dialog als vorrangiges Instrument beim Umgang mit Verstößen gegen die Konditionalitätskriterien. In der Vergangenheit hat Frankreich ehemalige Kolonien immer wieder vor der Anwendung harscher Sanktionsmaßnahmen bewahrt.

Deutschland und die "Normalisierung" der AKP-Politik: Das Bindungsprinzip zeigte sich in der deutschen Cotonou-Debatte dagegen wenig erklärungsmächtig. Insgesamt stand Deutschland den europäischen Sonderbeziehungen mit den AKP-Staaten eher skeptisch gegenüber. In der deutschen Debatte zum Cotonou-Abkommen wurde so wiederholt gefordert, die "koloniale Hypothek" der Sonderbeziehungen zu den AKP-Staaten zu überwinden und die Entwicklungspolitik für weitere Least Developed Countries (LDCs) zu öffnen.

Das geringe Interesse an einer privilegierten EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft wird auch daran deutlich, dass Deutschland stets bestrebt war, den eigenen Beitrag zum EEF gering zu halten. So gehörte Deutschland auch bei den Verhandlungen des Finanzprotokolls von Cotonou zu den Ländern, die sich gegen eine Erhöhung des EEF aussprachen. Die Ablehnung der Sonderbeziehungen mit den AKP-Staaten wird in der deutschen Debatte häufig mit dem Ausschluss einiger LDCs aus der Gruppe der Privilegierten begründet und mit der Forderung nach einer AKP-Politik verknüpft, die sich stärker an der Bedürftigkeit von Empfängern orientiert. Gleichwohl legt die bilaterale deutsche Entwicklungszusammenarbeit gerade keinen Schwerpunkt auf LDCs, sondern konzentriert sich auf "Middle Income Countries". Als handlungsleitend erwies sich in der deutschen Debatte das Prinzip der Anstrengung: Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul legte Wert darauf, dass "im Abkommen von Cotonou das Prinzip der verantwortungsvollen Regierungsführung verankert worden [und] in Fällen schwerer Korruption die Möglichkeit der Unterbrechung der finanziellen Hilfe von Seiten der Europäischen Union gegeben ist". Die Bindung von Entwicklungshilfe an politische Kriterien und Eigenanstrengungen findet seit Anfang der 1990er Jahre auch in der bilateralen Entwicklungspolitik Anwendung, und die hier gültigen Konditionen und Sanktionsinstrumente weisen in die gleiche Richtung wie diejenigen im Cotonou-Abkommen.

Schwedens skeptische AKP-Politik: In der schwedischen Entwicklungsdebatte nimmt das Bedürftigkeitsprinzip eine herausragende Stellung ein. So hat sich die schwedische Regierung wiederholt für eine Auflösung der AKP-Gruppe und für eine Überführung dieser Politik in eine einheitliche europäische Hilfspolitik für alle Entwicklungsländer ausgesprochen: "We wish the separate system of preferences for the ACP countries to be discontinued." Zwar gehört der Großteil der AKP-Staaten zur Gruppe der LDCs, die schwedische Regierung argumentierte jedoch, dass die Höhe und die geographische Verteilung von EU-Hilfen generell nach dem Entwicklungsstand des jeweiligen Empfängers bemessen werden sollten. Die skeptische Einstellung Schwedens gegenüber der Sonderstellung der AKP-Gruppe äußert sich auch in den EEF-Einzahlungen. Zwar ist Schweden bilateral einer der großzügigsten Geber weltweit, seine Beiträge zum Europäischen Entwicklungsfonds sind aber moderat. In den neunten EEF zahlte Schweden entsprechend seinem EU-Haushaltsanteil ein, während sich Berlin und Paris überproportional an den Kosten für die AKP-Politik beteiligten.

Nach der Bedürftigkeit war das politische Anstrengungsprinzip prägend in der schwedischen AKP-Debatte. Schweden trat sehr für die Einführung einer politischen Dimension in das Cotonou-Abkommen sowie für die Anwendung von Sanktionsklauseln ein, wenn gegen vereinbarte politische Grundsätze verstoßen wird.

Im Gegensatz zu den ehemaligen europäischen Kolonialmächten und als eher junges EU-Mitglied verfügt Schweden über keine historisch motivierten Bindungen zu den AKP-Staaten. AKP-Politik wird nicht als Priorität schwedischer Entwicklungspolitik, sondern als Instrument angesehen, das der Armutsbekämpfung in afrikanischen LDCs dienen sollte.

Zusammenfassung und Fazit

Der Vergleich der Präferenzen Frankreichs, Deutschlands und Schwedens in der Cotonou-Debatte hat gezeigt, dass Solidarität mit den AKP-Staaten in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Weise zum Tragen kommt. Während sich im Falle Frankreichs das - positiv konstruierte - Bindungsprinzip aus der engen historisch-kulturellen Verbundenheit zu den afrikanischen Staaten speist, wird in der deutschen, aber auch in der schwedischen Entwicklungsdebatte die privilegierte EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft eher negativ als Restbestand der europäischen Kolonialvergangenheit gesehen. Deutschland und Schweden betonen das Anstrengungs- und - vor allem Schweden - das Bedürftigkeitsprinzip. Dabei erscheint das Prinzip der Anstrengung invers mit dem Bindungsprinzip verknüpft: Je stärker das Bindungsprinzip in den jeweiligen Solidaritätsstrukturen ausgeprägt ist, desto geringer ist die Bereitschaft, die AKP-Hilfe an Kriterien der Anstrengung zu knüpfen. Die unterschiedliche Gewichtung bei den solidarischen Handlungsprinzipien erklärt, warum Frankreich sich politisch und finanziell stark für den Fortbestand der exklusiven EU-AKP-Zusammenarbeit engagiert. Die Wahrnehmung wechselseitiger Verbundenheit zwischen Frankreich und seinen Ex-Kolonien führt zu solidarischer Nähe, die sich in privilegierter Unterstützung ausdrückt, während Deutschland und Schweden für die Normalisierung der Beziehungen eintreten. Die Kehrseite von internationaler Solidarität ist freilich, dass andere Staaten von Hilfebeziehungen machtvoll ausgeschlossen sind.

Unbestritten bleibt dabei, dass die EU-AKP-Politik auch ambivalent zu beurteilen ist. Das führen nicht nur die mageren Ergebnisse der Lomé-Phase vor Augen. Es wird hier keineswegs in Abrede gestellt, dass die AKP-Politik auch mit strategischen oder wirtschaftlichen Zielsetzungen einhergehen kann. Aber sie lässt sich auch nicht gänzlich auf diese Motive reduzieren. Vielmehr bildet der Solidaritätszusammenhang der EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft (wie vermutlich auch andere derartige Zusammenhänge in den internationalen Beziehungen) eine eigene, auf spezifischen Solidaritätskonstruktionen beruhende Handlungslogik aus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag beruht auf Ergebnissen eines laufenden Forschungsprojektes im SFB 600 an der Universität Trier.

    Herfried Münkler, Enzyklopädie der Ideen der Zukunft, in: Jens Beckert u.a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen, Frankfurt/M. 2004, S. 15-28, hier S. 15. Weiterführend u.a. Kurt Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998; Steinar Stjern?, Solidarity in Europe. The History of an Idea, Cambridge 2005.

  2. Hinweis der Redaktion: Zur Diskussion unterschiedlicher Solidaritätstypen siehe auch den Beitrag von Steffen Mau in dieser Ausgabe.

  3. Vgl. Steffen Mau, Leerstelle europäische Solidarität?, in: Johannes Berger (Hrsg.), Zerreißt das soziale Band? Beiträge zu einer aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte, Frankfurt/M. 2008, S. 245-272.

  4. Vgl. Franz Nuscheler, Entwicklungspolitik, Bonn 2005.

  5. David H. Lumsdaine, Moral Vision in International Politics. The Foreign Aid Regime. 1949 - 1989, Princeton 1993, S. 186; Tomohisa Hattori, The moral politics of foreign aid, in: Review of International Studies, 29 (2003), S. 229-247.

  6. Enzo R. Grilli, The European Community and the Developing Countries, Cambridge 1994, S. 345.

  7. Dies gilt auch für die aktuelle Diskussion um strategische Ressourcen. Vgl. Stefan Mair, Partnerschaft mit Afrika, SWP-Diskussionspapier, Berlin 2005, S. 5. Zum Rückgang des EU-AKP-Handels Tim Allen, Der Handel zwischen EU und den AKP-Staaten, Luxemburg 2007.

  8. Vgl. Elena Jileva, Do norms matter? The principle of solidarity and the EU´s eastern enlargement, in: Journal of International Relations and Development, 7 (2004) 1, S. 3-23.

  9. Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M. 1988, S. 111.

  10. Vgl. Siegfried Schieder, Solidarität, Grundlegungen eines solidaritätssoziologischen Ansatzes, in: Trierer IB-Arbeitspapiere, (2005) 1, S. 3-12; Rachel Folz/Simon Musekamp/Siegfried Schieder, Solidarität durch Inklusion. Frankreich und Deutschland in der europäischen Entwicklungspolitik gegenüber den AKP-Staaten, in: Lutz Raphael/Herbert Uerlings (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, Frankfurt/M. 2008, S.521-548.

  11. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990; Aafke E. Komter, Social Solidarity and the Gift, Cambridge 2005; Frank Adloff/Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/M. 2005.

  12. Zu den unterschiedlichen Typen von Reziprozität Marshall D. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs, in: F. Adloff/S. Mau (Anm.11), S. 73-91, hier S. 82.

  13. Vgl. J. Beckert u.a. (Anm. 1), S. 9-14, hier S. 9.

  14. Vgl. Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. 1992.

  15. Vgl. Thomas Olesen, International Zapatismo. The Construction of Solidarity in the Age of Globalization, London 2005.

  16. Vgl. Katrin Arts/Anna K. Dickson (Eds.), EU Development Cooperation. From Model to Symbol, Manchester 2004. AKP-Staaten = die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks.

  17. Beispielsweise Afghanistan, Bangladesch und Kambodscha.

  18. Vgl. Christopher Stevens, The EU-ACP Relationship after Lomé, in: Pitou van Dijck/Gerrit Faber (Eds.), The External Economic Dimension of the European Union, The Hague 2000, S. 228-238.

  19. Die Initiative "Alles-außer-Waffen" von 2001 gewährt jedoch allen LDCs den zoll- und quotenfreien EU-Marktzugang. Für Bananen, Reis und Zucker gelten Übergangsfristen.

  20. Gordon Crawford, European Union Development Co-operation and the Promotion of Democracy, in: Peter Burnell (Eds.), Democracy Assistance. International Co-operation for Democracy, London 2000.

  21. Vgl. Genevra Forwood, The road to Cotonou. Negotiating a successor to Lomé, in: Journal of Common Market Studies, 39 (2001) 3, S. 423-442.

  22. Vgl. u.a. Jean-Jacques Gabas (Hrsg.): L'aide publique française au développement, Paris 2005.

  23. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 8. 2. 1999, S. 15.

  24. Vgl. Paulette Brisepierre, frz. Sénat, Débats parlamentaires vom 6. 2. 2002, S. 5.

  25. Vgl. FAZ vom 7. 2. 2000, S. 9.

  26. Vgl. Charles Josselin, in: La Politique Étrangère de la France, (1997) 11, S. 181.

  27. Vgl. Interview, SGAE, Paris, 22. 1. 2008.

  28. Vgl. Hadewych Hazelzet, Suspension of Development Cooperation. An Instrument to Promote Human Rights and Democracy? ECDPM Paper 64, Maastricht 2005, S. 10.

  29. Vgl. Ulf Engel/Robert Kappel (Eds.), Germany's Africa policy Revisited. Interests, Images and Incrementalism, Münster 2002.

  30. Armin Laschet, Plenarprotokoll des Deutschen Bundestag (PlPr)13/232 vom 29. 4. 1998, S. 21304; Ralf Brauksiepe, Plenarprotokoll 14/28 vom 19. 3. 1999, S. 2335; Angelika Köster-Loßack, Plenarprotokoll 14/28 vom 19. 3. 1999, S. 2333.

  31. Vgl. Peter Molt, Africa - A Political Challenge for Europe, in: U. Engel/R. Kappel (Anm. 29), S. 63-78, hier S. 76.

  32. OECD/DAC, Peer Review Deutschland 2006, S. 13f.

  33. Heidemarie Wieczorek-Zeul, PlPr. 14/106, 19. 5. 2000, S. 9924, S. 9939.

  34. Göran Persson/Pierre Schori, Africa on the Move. Revitalising Swedish Policy towards Africa for the 21st Century, Ministry for Foreign Affairs, Africa Department, Government Communication 1997/98, Stockholm 1998, S. 69.

  35. Vgl. Andres Danielson/Lennart Wohlgemuth, Swedish Development Co-operation in Perspective, in: Paul Hoebink/Olav Stokke (Eds.), European Development Co-operation. Policy and performance of individual donor countries and the EU, London 2005, S. 518 - 545.

  36. Vgl. Interview, Sida, Stockholm vom 8. 2. 2007.

  37. Vgl. Audunn Arnórsson, The Nordic Contribution to the Development Cooperation of the European Union, in: Carol Cosgrove-Sacks (Eds.), The European Union and Developing Countries, London 1999, S.91-105, hier S. 92.

Dr. des, geb. 1968; wissenschaftlicher Projektleiter im SFB 600 "Fremdheit und Armut: Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart" an der Universität Trier, Universitätsring 15, 54286 Trier.
E-Mail: E-Mail Link: sschied@uni-trier.de

M. A., geb. 1979; wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 600 an der Universität Trier.
E-Mail: E-Mail Link: folz3301@uni-trier.de

M. A., geb. 1978; wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 600 an der Universität Trier.
E-Mail: E-Mail Link: muse3201@uni-trier.de
Internet: Externer Link: www.sfb600.uni-trier.de