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Ludwig Erhard und die Amerikanisierung der westdeutschen Industrie

Volker Berghahn

/ 14 Minuten zu lesen

Der Beitrag analysiert die Frage der "Amerikanisierung" der deutschen Wirtschaft vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und die Reaktion Ludwig Erhards auf die Pläne der Amerikaner, das westdeutsche Industriesystem nach 1945 nicht nur wiederaufzubauen, sondern auch umzubauen.

Einleitung

Im Jahre 1902 veröffentlichte der britische Journalist William T. Stead ein Buch mit dem Titel The Americanization of the World or the Trend of the Twentieth Century, das seinerzeit viel Aufsehen erregte. Fast gleichzeitig erschien in der "New York Times" ein Artikel über die Hamburg-Amerika-Linie, in dem es hieß, dass Albert Ballins weltbekanntes Schifffahrtsunternehmen sich gegen eine "Americanization" schützen wolle.


Hundert Jahre später ist die Debatte, die damals über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt begann und die in der Zwischenkriegszeit sowie nach 1945 in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt lebhaft fortgeführt wurde, weiterhin im Gange. Und wie vor 1914 gibt es bis heute Stimmen, die amerikanische Einflüsse auf die deutsche Gesellschaft strikt ablehnen, und andere, die sie begrüßen und aktiv unterstützen.

Aus Platzgründen können in diesem Beitrag lediglich die Entwicklungen in der Wirtschaft analysiert werden. Dies scheint gerade auch deshalb nützlich, weil die deutschen Wirtschaftswissenschaften selbst vor allem für die Nachkriegszeit immer wieder die größten Schwierigkeiten haben, die Präsenz der westlichen Hegemonialmacht USA in ihre Forschungen zu integrieren. Entweder dominiert eine reine Innensicht, und die Frage der "Amerikanisierung" kommt nicht einmal als Stichwort im Index vor; oder aber es werden die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen zu einem "Kulturkampf" stilisiert oder mit Konvergenztheorien planiert.

Unter diesen Umständen herrscht auch über die Einstellung Ludwig Erhards zum amerikanischen Wirtschaftssystem Unklarheit. War seine Konzeption - wie er es angesichts der damaligen Kritik an seiner Politik einmal ironisierend formulierte - ein "amerikanisches Pflänzchen, das er nach Deutschland bringen wolle" oder in erster Linie ein sehr deutsches Gewächs, das in der ordoliberalen "Freiburger Schule" seine Wurzeln hatte - wie es in zahllosen Stellungnahmen von Politikern und Unternehmern bis heute zu hören und in diversen volkswirtschaftlichen Textbüchern nachzulesen ist?


Es wird sich zeigen, dass es zumindest viele Affinitäten zwischen Erhards Vorstellungen über die Organisation einer modernen Industriewirtschaft und denen der Amerikaner gab. Wie weit diese Affinitäten durch nachweislich amerikanische Einflüsse entstanden, ist die Frage, die hier angeschnitten wird, weil sich eine genauere Durchleuchtung lohnen dürfte. Allerdings kann ich mich hier nur auf zwei Aspekte konzentrieren, die für eine Beurteilung meiner Fragestellung gleichwohl fundamental sind: die Ordnung von Produktion und Markt sowie die Rolle der Konsumenten.

Produktionssphäre und Marktorganisation

Betrachtet man den deutschen und amerikanischen Kapitalismus unter dem Blickwinkel der Marktorganisation, so wird deutlich, dass sich die beiden Systeme Ende des 19. Jahrhunderts in sehr verschiedene Richtungen bewegten. Mit der Ratifizierung des Sherman Act verankerte der US-Kongress 1890 per Gesetz das Wettbewerbsprinzip in den USA. Die Errichtung von Monopolstellungen am Markt, aber auch von Kartellen (d.h. von wettbewerbsbeschränkenden, horizontalen Vereinbarungen zwischen unabhängigen Unternehmen über Produktionsquoten, Preise, Konditionen etc.) sowie von Syndikaten (d.h. kollektiven Verkaufsorganisationen) wurde verboten und kriminalisiert, auch wenn in späteren Zusatzgesetzen gewisse Ausnahmen erlaubt wurden. Zwar gingen die Konzentrationsbewegungen des späten 19. Jahrhunderts in Amerika weiter, doch blieb der Markt oligopolistisch organisiert, wobei auch den mittelständischen Unternehmen genügend Raum zum eigenen Erfolg am Markt blieb.

Im deutschen Kaiserreich entwickelte man sich zur gleichen Zeit in die entgegengesetzte Richtung, nämlich zum Bau von protektionistischen Kartellen und Syndikaten, und als das Reichsgericht 1897 diese für zulässige und sogar einklagbare Vereinbarungen erklärte, stieg ihre Zahl weiter an. Die Wettbewerbsidee, wie sie sich in Amerika entwickelte, hatte unter deutschen Unternehmern auf dem Binnenmarkt immer weniger Anhänger. Das änderte sich auch nach 1918 nicht. Zu Beginn der 1930er Jahre war Deutschland eines der am höchsten kartellisierten Länder der Welt. Dem folgte dann im Dritten Reich die sowohl vom Hitlerregime als auch von der Unternehmerschaft erstrebte Totalkartellisierung.

Genau diese Entwicklung hatten die Amerikaner schon vor dem Zweiten Weltkrieg scharf beobachtet. Aus ihrer Sicht war in einem System, in dem der wirtschaftliche Wettbewerb weitgehend abgeschafft war, auch der politische Wettbewerb unter den Parteien und die Demokratie überhaupt gefährdet. Dementsprechend war für sie die Totalkartellisierung der deutschen Wirtschaft das logische Komplement zur Errichtung der NS-Diktatur. Es gab jetzt weder einen politischen noch und einen wirtschaftlichen Wettbewerb.

Seit ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg verfolgten die USA daher zwei interdependente Friedensziele gegenüber den Achsenmächten Deutschland, Japan und Italien: erstens die Zerschlagung der Diktatur und die Wiederherstellung demokratisch organisierter politischer Systeme; zweitens die damit konzeptionell untrennbar verknüpfte Wiedererrichtung einer liberal-kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft, in der Kartelle und Syndikate per Gesetz verboten waren. Die Wirtschaft sollte entsprechend nicht nur wiederaufgebaut, sondern auch umgebaut werden.

Doch ging es nicht nur um den Umbau von Strukturen und Institutionen, sondern auch um eine Veränderung unternehmerischer Mentalitäten. Mit der "Umerziehung" der Deutschen zur politischen Demokratie ging eine "Umerziehung" der Wirtschaftseliten einher, die aus ihrem Kartelldenken heraus in den oligopolistisch organisierten marktwirtschaftlichen Wettbewerb gedrängt werden sollten.

Ludwig Erhard hat sich nicht nur schon früh ganz allgemein auf eine Anerkennung der USA als der westlichen Hegemonialmacht eingestellt, auf deren Hilfe er bei einem erfolgreichen materiellen Wiederaufbau angewiesen war, sondern auch deren Entschlossenheit erkannt, der deutschen Kartellwirtschaft auf immer ein Ende zu bereiten. Die Frage, die einer näheren Untersuchung bedarf, ist, ob er sich an das amerikanische Denken anpasste oder ob er unabhängig davon schon vor 1945 zu ähnlichen Erkenntnissen über Produktion und Markt gekommen war. Fest steht, dass er nach 1945 mit diesem Denken übereinstimmte und seine Amerikareisen ihn darin bestärkten.

Nun war die Amerikanisierungsdebatte schon in der Zwischenkriegszeit in Gang gekommen, wobei wir wissen, dass Wilhelm Vershofen, Erhards Chef am Nürnberger "Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigwaren", amerikanischen Methoden und Strukturen ablehnend gegenüberstand und kartellfreundlich war. Wir wissen auch, dass Erhard in Marktordnungs- und anderen Fragen nicht die Meinung von Vershofen teilte und dessen Institut im Kriege verließ.

Mit Hilfe seines Schwagers Karl Guth, dem Geschäftsführer der mächtigen "Reichsgruppe Industrie", sowie einigen dazu gehörigen Großindustriellen, darunter auch der Zigarettenfabrikant Philipp Reemtsma, gelang es ihm, das "Institut für Industrieforschung" zu gründen, in dem er sich gegen Kriegsende noch stärker als zuvor gegen Kartelle und für den Wettbewerb einsetzte. Signifikant ist hierbei nicht nur, dass er mit der Großindustrie zusammenarbeitete und in diesem Zusammenhang 1943/44 seine umfangreiche Denkschrift über Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung für die Nachkriegszeit verfasste, sondern dass er zur Sicherung des Wettbewerbs dem Staat auch eine aktive Rolle zusprach. Die Regierung und der Gesetzgeber - so Erhard - hatten die Aufgabe, der Wirtschaft einen klaren rechtlichen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen der Wettbewerb stattfand und in dem für Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen kein Platz war.

Mit dieser Konzeption, die heute den Kern der bundesrepublikanischen Wirtschaftsverfassung ausmacht, stand Erhard der amerikanischen Sherman-Tradition eindeutig näher als der "Freiburger Schule". Letztere trat nach 1945 zwar auch für den Leistungswettbewerb ein. Doch vertraten die Freiburger zugleich die Konzeption eines ausgesprochen mittelständischen, dezentralisierten Kapitalismus. Dementsprechend befürworteten sie eine weitaus radikalere Entflechtung von Großunternehmen und eine Stärkung des Mittelstandes mit Formulierungen für ein Kartellgesetz, die eine oligopolistische Rekonzentration verhindert hätten.

Soweit wir wissen, kannte Erhard neben der amerikanischen Antikartelltradition auch deren Pläne zur Wiederherstellung der Open Door und des multilateralen Welthandels. Es war ein Internationalismus, den er im Prinzip ebenfalls schon vor 1945 vertreten hatte. Gleiches galt für seine Auffassung von der Interdependenz von freier Marktwirtschaft und politischer Demokratie, ebenso wie er auch einen logischen Zusammenhang von Staatswirtschaft und politischer Diktatur sah.

Ob zufällig oder aufgrund von Osmose, auf jeden Fall fiel seine Konzeption nach 1945 mit der der Amerikaner zusammen: Beide wollten keine radikale Entflechtung, sondern nur ein Aufbrechen der Kartelle und der De-facto-Monopole (z.B. Vereinigte Stahlwerke und I.G. Farben) in größere Einheiten, die dann nicht nur auf dem Binnenmarkt in den (oligopolistischen) Wettbewerb treten würden, sondern die auch auf dem Weltmarkt gegen die ausländischen Konzerne, voran die amerikanischen, bestehen konnten. Deshalb ist die damalige Kartellverbotspolitik von der Entflechtungspolitik strikt zu trennen. Die erstere war absolut, die zweite begrenzt mit dem Ziel, den Wettbewerb nach amerikanischem Vorbild zu fördern.

Bei den Amerikanern kam noch eine weitere Überlegung hinzu. Sie wollten die deutsche Industrie mit ihren größeren Konzerneinheiten zum Motor des Wiederaufbaus im gesamten Westeuropa machen und mit ihrer gegen Kartelle gerichteten industriellen Umbaupolitik auch Länder wie Frankreich oder Belgien, in denen die Kartelltradition sich in der Zwischenkriegszeit ebenfalls etabliert hatte, gewissermaßen auf dem Umwege über Deutschland in den Wettbewerb drängen. Deshalb unterstützen sie Jean Monnet bei der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, deren Modernisierungseffekte sie erkannten, bestanden zugleich aber darauf, dass der Montanvertrag eine Antikartellklausel enthielt.

Erst vor diesem größeren Hintergrund wird verständlich, warum der Sherman Act, der seit 1890 den Kern der amerikanischen Wirtschaftsverfassung darstellte, den Westdeutschen und den Europäern als Vorbild präsentiert wurde und warum Erhard im Zuge eines westdeutschen Kartell(verbots)gesetzes letzteres ganz konsequent als das "unentbehrliche wirtschaftliche Grundgesetz" der Bundesrepublik bezeichnet hat, während die Gegner dieses Gesetzes, voran die "Kartellisten" in der Ruhrschwerindustrie, von denen die meisten nach 1945 in ihren alten Machtpositionen verblieben waren, es für ein amerikanisches Gewächs hielten. Es ist für die tiefe Verwurzelung der deutschen Kartelltradition bezeichnend, dass Erhard bei der Durchsetzung dieses "Grundgesetzes" von einflussreichen Unternehmerkreisen heftig bekämpft wurde und das "Wettbewerbssicherungsgesetz" erst mit siebenjähriger Verzögerung 1957 endlich ratifiziert werden konnte.

Ging es bei der oft erhitzten Diskussion um den strukturellen Umbau der westdeutschen Wirtschaft und ein Hinausdrängen aus dem Kartellismus in den (oligopolistischen) Wettbewerb, so erkannten Erhard und die Amerikaner auch, wie tief bestimmte antiamerikanische Mentalitäten vor allem in der zunächst noch tonangebenden Schwerindustrie verwurzelt waren. Dies ist der Kontext der so genannten Productivity Councils. Aus Mitteln des Marshallplans (European Recovery Program/ERP) finanziert und von Paul Hoffman, dem ERP-Administrator und früheren Präsidenten der Studebaker Corp. (Automobile), gefördert, ermöglichte man europäischen Unternehmern und Gewerkschaftern Studienreisen nach Nordamerika, wo sie sich in den großen Industriezentren von Pennsylvania, Ohio und Michigan über moderne Produktions- und Managementmethoden, über Arbeitsbeziehungen und Lebensstandards informierten. Die Hoffnung war, dass die Besucher über ihre Eindrücke und Erfahrungen in den eigenen Unternehmen berichten und an eine Adaption denken würden - wohlgemerkt nicht als direkte Kopie, sondern als eine auf die einheimischen Zustände zugeschnittene neue Praxis.

Letztlich stand den Amerikanern dabei eine von Henry Ford inspirierte moderne Industriegesellschaft vor Augen, in der Erhard, der seit langem der Konsumgüterindustrie nahe stand, sich angesichts seines Studiums des amerikanischen Industriesystems in seiner Idee einer oligopolistisch organisierten und auf den offenen Weltmarkt orientierten Wettbewerbswirtschaft bestärkt fühlte.

Der Übergang zum fordistischen Konsumkapitalismus

Die Idee einer rationalisierten Massenproduktion hatte sich vor 1914 vor allem in den USA verbreitet. Ansätze dazu gab es gewiss auch in Europa; aber es ist bezeichnend, dass deutsche Unternehmer schon damals nach Amerika reisten, um sich die dortigen Industrieunternehmen und ihre Produktionsmethoden anzusehen, nicht umgekehrt. Dabei interessierten sie sich oft auch besonders für die Rezepte, die die Scientific-Management-Bewegung entwickelt hatte.

Mehr noch: Beim Besuch der Ford Motor Company waren die Amerikareisenden außer von den kilometerlangen Fließbandanlagen auch von einer Idee Henry Fords beeindruckt, die frappierend einfach war: Die durch Rationalisierung und den Übergang zur Massenproduktion zu erwartenden höheren Gewinne sollten nicht allein in die Taschen der Eigentümer und Aktionäre fließen; vielmehr sollten sie durch Preissenkungen auch dem Konsumenten zugutekommen. Fords Kalkulation war, dass die verbilligte Massenproduktion auch bis dahin teure, langlebige Konsumgüter - in seinem Falle: Automobile - für einen wachsenden Kreis von Durchschnittsbürgern erschwinglich machen würde. Der Konsum würde so nicht nur durch verbesserte Löhne (und das Kartellverbot), sondern auch durch neue Verbraucherkreise stark angekurbelt: Massenkonsumkapitalismus als Ergänzung und Verstärkung des im 19. Jahrhundert entstandenen Produktionskapitalismus.

Schon in der Weimarer Republik gab es deutsche Unternehmer, die dieses Rezept zu praktizieren suchten, ähnlich wie Ford es mit dem Bau von Produktionsstätten in Köln oder General Motors mit dem Einstieg bei Opel in Rüsselsheim taten. Infolge des nach dem Zweiten Weltkrieg erhöhten "Amerikanisierungsdrucks" (Werner Bührer) fanden fordistische Massenproduktions- und Massenkonsumkonzepte nach 1945 auch in der Bundesrepublik eine breitere Akzeptanz. Für Erhard war dies schon seit seiner Tätigkeit in der Konsumforschung vor 1945 das Konzept der Zukunft. Ihm lag die Schaffung eines "Wohlstand[s] für alle" - wie er ihn auf seinen Amerikareisen gesehen hatte - nicht nur für den westdeutschen Wiederaufstieg am Herzen; vielmehr rechnete er auch damit, dass eine materiell stetig besser gestellte Bevölkerung die politische Stabilisierung unterstützen würde, derer das Land nach Diktatur und Krieg dringend bedurfte.

Wie ist all dies nun mit seiner sozialen Marktwirtschaft in Einklang zu bringen? Erhard war sich bewusst, dass sich Westdeutschland in einer besonderen Situation befand. Der Zweite Weltkrieg hatte Millionen von Witwen, Waisen und Kriegsversehrten hinterlassen. Hinzu kamen etwa elf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Sie konnten nach der Währungsreform von 1948 nicht einfach den eisigen Winden eines wiedererstehenden Wettbewerbskapitalismus ausgesetzt werden. Für sie musste auch aus den schon genannten politischen Stabilitätsgründen ein soziales Netz geknüpft werden, das sie in ihrer damaligen Not auffing und ihnen ein menschenwürdiges Leben bot.

Mochte das deutsche System der sozialen Absicherung gegen Krankheit, Unfall und Alter auch seine Wurzeln im Kaiserreich haben, der Druck, dieses System zu erweitern und zu finanzieren, war nach dem Zweiten Weltkrieg noch stärker als nach dem Ersten mit seiner damaligen Verarmung. Erhard verstand seine Marktwirtschaft nie im Sinne des heute gängigen Neoliberalismus, der "dem Markt" alles überlassen will und für den systematischen Abbau des Sozialnetzes steht.

Für ihn war dieses Netz für die durch den Krieg so schwer geschädigten Schichten in Form der diversen Sozialgesetze und Lastenausgleichsmaßnahmen ein fester Bestandteil seines marktwirtschaftlichen Konzepts. Das galt auch für den ebenfalls noch schutzbedürftigen mittelständischen Einzelhandel, den er nicht sofort einer Aufhebung der Preisbindung und damit dem freien Wettbewerb aussetzen wollte.

Bedurfte es daher bei Erhard im Sozialen keiner besonderen Anstöße durch die USA, so sollten die Affinitäten gleichwohl nicht übersehen werden. Auch die Amerikaner einschließlich der Mehrheit ihrer Volkswirte waren damals keineswegs Anhänger Milton Friedmans und der "Chicago School", deren Stunde erst in den 1980er Jahren schlug. Unter den Eindruck der Depression der 1930er Jahre waren auch sie mit dem Rooseveltschen New Deal dazu übergegangen, ein sozialstaatliches Auffangnetz zu befürworten. Zwar waren die radikalen New Dealers schon im Kriege zurückgedrängt worden; doch blieben die Grundfesten des Systems der 1930er Jahre auch nach 1945 bestehen.

Es ist bekannt, dass Erhard trotz seiner festen Überzeugungen weder in der Leitung eines großen Ministeriums noch in seiner Wirtschaftspolitik ein besonders systematischer Mensch war. Das hieß aber nicht, dass seine soziale Marktwirtschaft keine der amerikanischen Wirtschaftspolitik und -theorie ähnlichen Steuerungselemente enthielt. Der Grundansatz war nicht im heutigen Sinne "friedmanistisch", sondern eher keynesianisch, ehe Karl Schiller ihn 1966/1967 systematischer praktizierte.

So sind das westdeutsche "Wirtschaftswunder" und Erhards soziale Marktwirtschaft eher ohne die Freiburger Schule als ohne die Amerikaner zu verstehen, die direkt als Besatzungsmacht oder indirekt als Hegemon beim westdeutschen Wiederaufbau strukturell und geistig dauernd präsent waren und diesen ausdrücklich mitgestalteten. Das gilt auch für den Bereich des Firmenmanagements und vieler anderer Praktiken, die sich seit den 1950er Jahren trotz mancherlei Widerstands seitens konservativer Unternehmer langsam durchsetzen. Letztlich kam es daher zu einer Vermischung von deutschen und amerikanischen Elementen, die sich auch an dem frappierenden Wandel der Geschäftssprache ablesen lässt.

Lediglich bei den Arbeitsbeziehungen waren die Versuche einer "Amerikanisierung" wenig erfolgreich. Hier bemühten sich vor allem die amerikanischen Gewerkschaften mit ihren in die Bundesrepublik entsandten Vertretern in den 1950er Jahren um eine Anpassung der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung an deren Praktiken. Sie kamen nicht weit, und vor allem in der Mitbestimmung ging der DGB in eine andere Richtung, die an Traditionen aus der Weimarer Republik anknüpfte.

Indessen wäre es verfehlt, anhand dieses Beispiels die amerikanische Rolle beim Umbau und beim Einstellungswandel der westdeutschen Unternehmerschaft herunterzuspielen. Auch sollte man Erhards soziale Marktwirtschaft nicht lediglich aus dem Innern der deutschen Nachkriegsgesellschaft heraus erklären. Die Frage, ob es sich beim Vergleich seiner Vorstellungen von Marktorgansation und fordistischem Konsumkapitalismus nicht lediglich um zufällige Konkordanzen handelte, bleibt eine auch weiterhin zu diskutierende Frage. Das gilt auch angesichts der heutigen erneuten Amerikakritik. In der Tat gibt es viele Anzeichen, dass die Deutschen vor einer "Amerikanisierungsfalle" stehen. Es geht darum, wie weit die "Amerikanisierung", die für alle sichtbar nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Gesellschaft und Kultur stattgefunden hat, getrieben werden soll.

Das ist eine Frage, die sich auch frühere Generationen schon gestellt haben. Und doch ist die Präsenz Amerikas im wirtschaftlichen und täglichen Leben seit 1945 stärker geworden, auch nach 1989/90. Zwar gibt es seit dem Kollaps des Sowjetblocks das Schlagwort von der Globalisierung, der seitdem alle Gesellschaften ausgesetzt seien. Doch scheint es, dass es sich hierbei bis vor kurzem immer noch um eine (verdeckte) Amerikanisierung Deutschlands und der Welt gehandelt hat, die William Stead 1902 vorhersah.

Dennoch gibt es mancherlei Anzeichen dafür, dass die "Hypermacht" USA überall an Macht und Einfluss verliert. In der Außenpolitik ist dies am deutlichsten. Washingtons neokonservativer Unilateralismus hat zu einem "imperial overstretch" (Paul M. Kennedy) geführt. Wir bewegen uns wieder auf ein multipolares internationales System zu, in dem auch die Amerikaner auf Partner und Kompromisse angewiesen sind.

Weniger klar greifbar sind die Probleme im Innern des Landes, nicht zuletzt, weil vielen Durchschnittsbürgern ein geschärftes Bewusstsein für sie bisher fehlt. Da ist man in der Bundesrepublik weiter. Nicht nur die öffentliche und private Verschuldung der USA sind auf Dauer untragbar, sondern auch die Tatsache, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Hinzu kommt die Krise in der Krankenversorgung mit etwa 46 Millionen Unversicherten und weiteren Millionen Unterversicherten.

Es ist jetzt schon klar, dass die staatliche Rentenversicherung in einigen Jahren ihren Verpflichtungen nicht mehr wird nachkommen können. In der lange vernachlässigten Infrastruktur (Straßen, Brücken, Massenverkehrsmittel etc.) sind Milliardeninvestitionen erforderlich, um nur den gegenwärtigen Stand zu erhalten. Kurzum, es scheint, dass das amerikanische Modell neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik ähnlich wie die Außenpolitik an ihre Grenzen stösst und auch in den USA das Begehen neuer Wege unvermeidlich wird.

Für Deutschland bedeutet dies, dass der Hegemonialdruck, der die Amerikanisierung seit 1945 vorantrieb, nachlassen wird und sich die Amerikaner am Ende gar für Lösungen von Außen- und Innenpolitik (einschließlich der Umweltpolitik) interessieren werden, die in Europa entwickelt worden sind bzw. entwickelt werden.

So sehr dies Spekulationen auf die Zukunft bleiben müssen, hinsichtlich der Vergangenheit bewegen wir uns gerade bei den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nach 1945 auf festerem Boden. So wollte ich in diesem Beitrag auf die konstruktive Rolle hinweisen, die die USA beim Wiederaufbau und beim nach den Erfahrungen im Dritten Reich notwendigen Umbau des deutschen Industriesystems gespielt haben. Erhard hatte dies seinerzeit erkannt. Es wäre wünschenswert, wenn die Wirtschaftshistorie dies auch täte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. New York Times vom 12. 11. 1901.

  2. Vgl. Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte, Köln 2003; Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006 (mit starker Betonung des Freiburger Ordoliberalismus); Werner Abelshauser, Kulturkampf, Berlin 2003; Barry Eichengreen, The European Economy since 1945, Princeton 2007 (mit Betonung der Konvergenzen).

  3. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.11. 1953.

  4. Vgl. R.F. Himmelberg (Hrsg.), The Rise of Big Business and the Beginnings of Antitrust and Railroad Regulation, 1870 - 1900, Bd. 1, New York 1994.

  5. Vgl. Volker Hentschel, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland, Stuttgart 1978.

  6. Vgl. Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985.

  7. Vgl. Alfred C. Mierzejewski, Ludwig Erhard, München 2005, Kap. 1, auch für das Folgende.

  8. Vgl. James van Hook, Rebuilding Germany, Cambridge 2004, S. 242ff.

  9. Vgl. Reinhard Neebe, Weichenstellung in die Globalisierung, Köln 2004.

  10. Vgl. John Gillingham, Coal, Steel, and the Rebirth of Europe, 1945 - 1955, Cambridge 1991.

  11. Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957, S. 9.

  12. Vgl. R. Robert, Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik, Berlin 1976; Volker Berghahn/Paul Joachim Friedrich, Otto A Friedrich. Ein politischer Unternehmer, Frankfurt/M. 1993.

  13. Vgl. Matthias Kipping/Ove Bjarnar (eds.), The Americanisation of European Business, London 1998.

  14. Vgl. R. Neebe (Anm. 9).

  15. Vgl. Mary Nolan, Visions of Modernity, Oxford 1994.

  16. Vgl. Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 1 ff.

  17. Vgl. Robert M. Collins, The Business Response to Keynes, 1929 - 1964, New York 1984.

  18. Vgl. Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen, Göttingen 2005.

  19. Vgl. Jonathan Zeitlin/Gary Herrigel (eds.), Americanization and its Limits, Oxford 2000.

  20. Vgl. Ulrike Reisach, Die Amerikanisierungsfalle, Düsseldorf 2007; Volker Berghahn/Sigurt Vitols (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus?, Frankfurt/M. 2006.

Dr. phil., geb. 1938; Seth Low Professor of History an der Columbia University, Department of History, New York City, NY 10027, USA.
E-Mail: E-Mail Link: vrb7@columbia.edu