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Der Holocaust und europäische Werte

Uffe Østergård

/ 15 Minuten zu lesen

Eine Welle der Selbstbesinnung hat Europa erfasst und ist Teil dessen, was Historiker "Erinnerungspolitik" nennen. Die Erinnerung an den Holocaust wird zur Grundlage einer gesamteuropäischen Verantwortung.

Einleitung

In den vergangenen 15 bis 20 Jahren haben sich nahezu alle Länder der Europäischen Union (EU) dafür eingesetzt, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren. Selbst die kleinen und vermeintlich schuldlosen nordischen Staaten schlossen sich dem allgemeinen Bestreben an, der von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg betriebenen systematischen Ermordung der Juden angemessen zu gedenken.



Norwegen etwa hat Entschädigungen für die Enteignung jener Juden gezahlt, die im November 1942 in Norwegen verhaftet und deportiert wurden. Konnten deren Nachfahren nicht ermittelt werden, flossen die Zahlungen zum Teil in die Gründung eines Zentrums zur "Erforschung des Holocaust und Religiöser Minderheiten", das im August 2006 eröffnet wurde. Eine fast schon poetisch anmutende Rache der Geschichte ist es, dass dieses Zentrum ausgerechnet in der auf der Museumshalbinsel in Oslo gelegenen, aufwändig renovierten, luxuriösen Villa Vidkun Quislings residiert, des Kollaborateurs und norwegischen Ministerpräsidenten der Jahre 1942 bis 1945.

Selbst Dänemark, das den Ruf genießt, die Mehrheit der dänischen Juden im Oktober 1943 vor der Ermordung bewahrt zu haben, gab im Jahr 2000 eine offizielle Untersuchung zur dänischen Flüchtlingspolitik in den Jahren vor und während der deutschen Besatzung (1940 bis 1945) in Auftrag. Die Ergebnisse belegen in vier voluminösen Bänden die restriktive Haltung gegenüber Flüchtlingen sowie die Deportation zahlreicher nichtdänischer Juden unter der deutschen Besatzung. Zudem steht eine Untersuchung der Copenhagen Business School zur ökonomischen Kollaboration der dänischen Industrie und der Landwirtschaft kurz vor der Veröffentlichung. Auch das neutrale Schweden hat sich zu seiner Mitschuld bekannt, umfassende Informationskampagnen zum Holocaust und anderen Formen des Völkermords gestartet sowie als ständige Einrichtung die Institution "Lebendige Geschichte" (Levande Historia) geschaffen.

Erinnerungspolitik

Eine Welle der Selbstbesinnung hat Europa erfasst und ist Teil dessen, was Historiker "Erinnerungspolitik" nennen. Wie Staaten mit der historischen Erinnerung umgehen, ist kein neues Phänomen - zu einem großen Teil hat sich Geschichtsschreibung schon immer genau damit beschäftigt. Neu hingegen ist, dass die meisten europäischen Staaten sich heute darum bemühen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, sich der negativen Aspekte ihrer Nationalgeschichte (ebenso sehr wie der positiven Aspekte) zu erinnern und sich zu ihnen zu bekennen. Vielleicht werden wir Zeuge einer Entwicklung, die derjenigen nahe kommt, die Westdeutschland nach der vernichtenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg aufgezwungen wurde. Dieses von den Westdeutschen so gründlich und effizient angegangene Unterfangen wird als "Vergangenheitsbewältigung" bezeichnet. Bis vor kurzem ließ sich dieser Terminus kaum übersetzen; ein Ergebnis der europäischen Gewissenserforschung der vergangenen Jahre könnte sein, dass der Begriff auch Eingang in andere Sprachen findet.

Nationalstaaten haben sich bisher lieber an die Zeiten erinnert, in der sie selbst zum Opfer anderer wurden, als sich ihrer eigenen Schuld zu stellen. Die während des Zweiten Weltkriegs in Europa begangenen Verbrechen jedoch waren von besonderer Natur. Nur widerwillig sind die Europäer zur Einsicht gelangt, dass die Vernichtung der Juden und anderer Volksgruppen nicht allein von den Deutschen betrieben wurde. Vor 1933 war der Antisemitismus keine deutsche Besonderheit. Im Unterschied zu anderen Ländern aber hatte im krisengeschüttelten Deutschland eine Gruppe von offenen Antisemiten die Macht erobert. Niemand wird bestreiten wollen, dass Deutschland die Wiege des Nationalsozialismus und Initiator des Völkermordes war, doch war der Zweite Weltkrieg auch ein europäischer Bürgerkrieg, der in jedem Land zwischen ideologisch motivierten Interessengruppen ausgetragen wurde und in dem sich viele Nichtdeutsche allzu eifrig an den Massenmorden beteiligten.

Seit Mitte der 1990er Jahre müssen sich die beitrittswilligen Nationen Mittel- und Osteuropas sozusagen als Vorbedingung für ihre Mitgliedschaft in der EU der Frage nach ihrer Verstrickung in den Holocaust stellen. Dies war die Raison d'Être der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research, die im Mai 1998 von den Regierungen Großbritanniens, der USA und Schwedens ins Leben gerufen wurde.

Das erste spektakuläre Resultat der Task-Force-Initiative war das Zusammentreffen von 47 Regierungschefs und anderen Staatsvertretern beim "Stockholm International Forum on the Holocaust" vom 26. bis 28. Januar 2000. Dieses Treffen markierte den Auftakt des inzwischen häufig so bezeichneten "Stockholm-Prozesses", in dessen Rahmen bis 2004 zu vier internationalen Konferenzen eingeladen wurde. Neben der beachtlichen Anzahl von Regierungschefs nahmen fast tausend Diplomaten, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, religiöse Führer, Überlebende des Holocaust, Historiker, Lehrer und Journalisten an dem Treffen teil, dessen offizielles Ziel es war, den "internationalen Dialog über die Bildung und Erziehung der Jugend sowie die Forschung über den Holocaust zu fördern". Die Konferenz kann als Beweis für einen Ausspruch des norwegischen Entdeckers und Völkerbund-Beauftragten Fridtjof Nansen gelten: "Realpolitik ist Moralpolitik." Das greifbarste Ergebnis des Forums war die Verständigung auf die Einführung eines jährlichen internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar, dem Datum der Befreiung der Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau durch sowjetische Truppen.

Nach der Befreiung der Vernichtungslager waren die Bilder von aufgetürmten Leichen und bis aufs Skelett abgemagerten Überlebenden in entsetzlichen Filmausschnitten vor allem in den westlichen Besatzungszonen immer wieder gezeigt worden. Dort betrieben die Amerikaner systematisch die reeducation der deutschen Bevölkerung zur Demokratie. Diese war erfolgreich, auch wenn Kritik etwa an den "Persilscheinen" berechtigt war und der Wiederaufbau und die Rivalität mit dem Osten die Entfernung sämtlicher ehemaliger Nationalsozialisten aus dem öffentlichen Leben verhinderte. Zur selben Zeit definierten die Kommunisten in der DDR ihren Staat als "antifaschistisch" und versuchten, einen von jeder Schuld freien Bruch mitder "militaristischen" Vergangenheit Deutschlands zu vollziehen und den Westdeutschen die alleinige Verantwortung für Hitler und den Nationalsozialismus zur Last zu legen.

Die Bundesrepublik Deutschland stellt insgesamt weltweit einen der wenigen Fälle dar, in denen ein Volk "aus der Geschichte gelernt" und die Verantwortung für nationale Untaten übernommen hat. Im Frühling 2007 schlugen deutsche Politiker vor, Rassenhass und die Leugnung des Holocaust in der gesamten EU unter Strafe zu stellen. Aufgrund der unterschiedlichen Traditionen in den Mitgliedstaaten blieb der Vorstoß zwar ohne Erfolg, inoffiziell aber wurde diese Haltung dank der Tätigkeit der wenig beachteten Task Force zu EU-Politik. Die Partnerschaftsprogramme der Task Force haben dazu beigetragen, ein gemeinsames Verständnis von europäischen Werten zu schaffen und den EU-Neulingen aus Ost- und Mitteleuropa und darüber hinaus bis in die Ukraine zu vermitteln.

Das normative Vakuum

In Deutschland begann 1945 die "Stunde Null". Mit dieser Bezeichnung wiesen viele Deutsche auf das normative Vakuum hin, in dem sich das Land nach der bedingungslosen Kapitulation und der langsamen Bewusstmachung der kriminellen Natur des NS-Regimes wiederfand. Und doch trifft die These von der Stunde Null vielen Historikern zufolge weder in materieller noch in geistiger Hinsicht zu. In den vergleichsweise neuen und hoch entwickelten Fabrikanlagen hatte eine effiziente Kriegsindustrie bis in die letzten Kriegsmonate überlebt; tatsächlich waren im Frühjahr 1945 noch 80 bis 90 Prozent der deutschen Industrie unversehrt, da die alliierten Bombardierungen hauptsächlich zivile Ziele und Kapazitätsreserven zerstört hatten. So war das deutsche Industriepotenzial in der Nachkriegszeit größer als das der meisten anderen europäischen Länder, die unter der NS-Herrschaft ausgeplündert worden waren. Auch der geistige Bezug zur Vergangenheit schuf keine Stunde Null. Nur eine Minderheit der Deutschen begriff den Zusammenbruch tatsächlich als Befreiung - die Mehrheit sah in der Niederlage auch einen eigenen Verlust. So kam es, dass in Westdeutschland erst 1961 mit dem Gerichtsverfahren der Israelis gegen Adolf Eichmann und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 eine wirkliche Auseinandersetzung über die Verantwortung für die Ermordung der Juden und vieler anderer Opfer einsetzte.

Doch nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa befand sich 1945 in einer Krisensituation. Angesichts der Euphorie der Befreiung wurde vielen Menschen das Ausmaß dieser Krise erst später bewusst. In den letzten Monaten des Krieges und unmittelbar nach der Befreiung entwarfen viele Widerstandsbewegungen Pläne für ein neues, föderales Europa. Der Zweite Weltkrieg war im Kern ein europäischer Bürgerkrieg, der die Teilung des Kontinents durch einen "Eisernen Vorhang von Triest bis Stettin" zur Folge hatte, wie Winston Churchill in einer Rede in Fulton/Missouri am 5. März 1946 so lyrisch formulierte.

Bereits Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre waren die europäischen Nationalstaaten in eine tiefe Krise geraten. Die meisten Staaten standen vor einem Bürgerkrieg zwischen jenen Kräften, die bei der Reorganisation Europas mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiten wollten, und jenen, deren sozialistische oder nationalkonservative Gesinnung zunächst in den Widerstand und später zum Bündnis mit Großbritannien und den USA führte. Dank des Sieges der Alliierten überlebte das Prinzip des Nationalstaates sowohl im Westen als auch im Osten. In Westeuropa erholten sich die alten Eliten vergleichsweise schnell, nach mehr oder minder kurzen Intermezzi, in denen sie eine gemeinsame Regierung mit den Widerstandsbewegungen ausübten. In Ost- und Mitteleuropa brachte die Rote Armee innerhalb kurzer Zeit kommunistisch kontrollierte Regierungen an die Macht wie 1948 in der Tschechoslowakei. Das Ergebnis waren Herrschaftssysteme, die (so unpopulär sie auch waren) mehr oder weniger als nationalkommunistisch bezeichnet werden können.

Die Nationalstaaten blieben trotz der relativen wirtschaftlichen Erholung bis in die 1950er Jahre hinein bis ins Mark erschüttert. Erst mit dem sprunghaften Wirtschaftswachstum der 1950er und frühen 1960er Jahre und durch den Prozess der europäischen Integration konnten sich die westlichen Demokratien festigen. Während die kommunistischen Regierungen im Osten mit der Niederschlagung der Volksaufstände in der DDR (1953), in Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und in Polen (1968, 1971 und 1980) die letzten Reste ihrer Legitimität verloren, führten Wachstum und Optimismus im Westen in die von den USA ausgehende Jugend- und Studentenrevolte. Nun kam die Kritik am kulturellen Erbe Europas politisch voll zur Geltung.

Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre brachte dies im Vorwort zu jenem Werk zum Ausdruck, das zum wichtigsten antikolonialen Manifest werden sollte, Frantz Fanons Les damnés de la terre von 1961. Sartres Ausführungen gerieten zur Generalabrechnung mit der europäischen Zivilisation. In diesem Text, geschrieben auf dem Höhepunkt des Algerienkrieges, hieß es: "Früher hatte unser Kontinent andere Stützen: den Parthenon, Chartres, die Menschenrechte, das Sonnenrad (Swastika). Heute weiß man, was sie wert sind. Und man kann uns nur noch durch das ganz christliche Gefühl von unserer Schuld vor dem Schiffbruch retten. Wie zu sehen ist, sind wir am Ende, Europa ist an allen Ecken leckgeschlagen. Was ist geschehen? Ganz einfach dies: Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir ihre Objekte. Das Kräfteverhältnis hat sich umgekehrt, die Entkolonialisierung schreitet voran; all unsere Soldaten können nicht mehr tun als ihr Ende hinauszuzögern. (...) All das hinderte uns nicht daran, rassistische Reden zu halten, voller Vorurteile über dreckige Neger, dreckige Juden und dreckige Araber. Abgehobene Denker, Liberale oder einfach nur zartbesaitete Gemüter geben sich schockiert über diese Inkonsistenz. Ob aus Irrtum oder schlechtem Gewissen: Nichts ist bei uns konsistenter als ein rassistischer Humanismus, weil der Europäer sich nur dadurch zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monster schuf."

Sartre nahm die Entkolonialisierung zum Anlass, die europäische Zivilisation als Hort des Rassismus und des Völkermords zu geißeln, und doch war seine Reaktion auch eine Antwort auf den bedrückenden Niedergang der "europäischen Werte", der darin deutlich geworden war, dass Nationalsozialisten und Faschisten im Namen einer totalitären und rassistischen Ideologie einen Krieg gegen Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, die Philosophie der Aufklärung und das Christentum geführt hatten. Diese Krise war die eigentliche Stunde Null in Europa - eine Erkenntnis, die den Verweisen auf Europa und die europäische Zivilisation innewohnt, die den Verträgen zur europäischen Zusammenarbeit vorangestellt wurden, angefangen bei den Römischen Verträgen von 1957 bis hin zum Verfassungsvertrag für die EU.

Ungeachtet aller Unterschiede haben die Generalabrechnung Sartres und das zurückhaltende Lob für die Verträge eines gemeinsam: eine relativ klare Vorstellung von "europäischen Werten", die entweder vollen Herzens akzeptiert oder aber in ihrer Gesamtheit abgelehnt werden. Tatsächlich weist die Vergangenheit Europas wie der römische Gott Janus zwei Gesichter und widersprüchliche Facetten auf. Zu ihr gehören Auschwitz und die Atombombe, aber auch die Menschenrechte und die Demokratie. In den 1990er Jahren, angesichts der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien, musste diese Lehre in Europa erneut gezogen werden.

Die EU als normative Macht

Die Task-Force-Initiative stellt einen (kleinen) Teil der aktuellen Bemühungen dar, das Völkerrecht zu einem internationalen Rechtssystem fortzuentwickeln, wie es sich auch im deutschen Rechtsstaat findet. Die Übernahme historischer Schuld wiegt ebenso schwer wie rechtliche Prinzipien; sie spielt eine immer wichtigere Rolle in diesem neuen internationalen Regime, das die traditionelle, letztlich seit 1648 (dem Ende des Dreißigjährigen Krieges) bestehende internationale Gemeinschaft verändern wird. Etappen waren der Völkerbund, die Vereinten Nationen und die zunehmende Bedeutung der Menschenrechte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr noch belegen die 1993 bzw. 1994 erfolgte Einrichtung der Internationalen Kriegsverbrechertribunale für Ruanda und das frühere Jugoslawien sowie der ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag diese "Legalisierung" und "Moralisierung" der internationalen Politik.

Der erste Schritt in diese Richtung waren die Nürnberger Prozesse, in denen eine Reihe von NS-Führern für ihre Kriegsverbrechen und Verantwortung für den Holocaust bestraft wurden, sowie die Kriegsverbrecherprozesse in Tokio. Die Urteile waren nicht frei von "Siegerjustiz", da ihnen eine rechtliche Grundlage fehlte, und doch waren die Ankläger bemüht, dem Verfahren ein neues Format zu verleihen, um eine Unterscheidung von der rächenden Justiz an den Verlierern des Ersten Weltkriegs zu ermöglichen, die den Vertrag von Versailles mit einem Geburtsmakel versehen hatte. Der Kalte Krieg brachte den Prozess der Verrechtlichung der internationalen Politik für mehr als 40 Jahre zum Stillstand. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Völkermord in Ruanda, die Entdeckung der "Killing Fields" in Kambodscha, die indonesischen Gräueltaten in Ost-Timor und zahlreiche andere Menschenrechtsverletzungen haben das Interesse an der Ausarbeitung einer internationalen Rechtsordnung wieder gestärkt.

Die Veränderungen im internationalen Klima erklären, warum das Interesse am Holocaust im Besonderen sowie an Völkermorden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Allgemeinen eher zu wachsen scheint, als dass es mit dem Tod der letzten Überlebenden und Täter schwinden würde. "Wer spricht denn heute noch von der Ausrottung der Armenier?" - diese zynische Frage stellte einst Hitler seinen Generälen am Vorabend des Angriffs auf Polen. Doch zu den Untersuchungen über die Zeit des Nationalsozialismus sind unzählige Informationen über die Gräueltaten getreten, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, ferner Untersuchungen über Völkermord und Massenverbrechen überall in der Welt. Zudem sind Historikerkommissionen mit der Aufgabe betraut worden, die Rolle und die Verantwortung neutraler und sogar besetzter Länder beim Massenmord an den Juden und anderen Opfergruppen im Zweiten Weltkrieg zu beleuchten; jüngstes Beispiel sind die Kommissionen in der Schweiz und Österreich. Auch in den früheren kommunistischen Ländern haben solche Kommissionen die Staatsverbrechen untersucht. In der Schweiz, Deutschland und Österreich kam es zu Entschädigungen für die wenigen Überlebenden des Holocaust und zur Auszahlung eingefrorener oder konfiszierter Vermögenswerte an deren Nachkommen. Selbst die nordischen Länder wurden von dieser Welle der Selbstbesinnung erfasst, die sich über Europa und möglicherweise in die ganze Welt ausgebreitet hat - mit bis heute einer bemerkenswerten Ausnahme: die USA.

Europa und den USA ist das Bemühen um ein angemessenes Gedenken an den Holocaust gemeinsam; es wäre wohl kaum übertrieben zu sagen, die USA befänden sich in dieser Frage an vorderster Front. Über dieses Thema hinaus sind die USA und die Mehrheit der europäischen Staaten jedoch nur selten einer Meinung darüber, welche Regeln im internationalen System gelten sollten. Anders als in den Nachkriegsjahren treten die USA zunehmend als globale Supermacht auf, die keinen Anlass sieht, sich von international verbindlichen Vereinbarungen Fesseln anlegen zu lassen. Dies steht in scharfem Kontrast zu einem Europa, das nicht nur eine gemeinsame europäische Verantwortung für den Holocaust anerkannt hat, sondern aus seiner blutigen Vergangenheit gelernt hat, wie notwendig es ist, staatliches Handeln mittels bindender Institutionen zu regulieren. So wird der Internationale Strafgerichtshof für Völkermord und Kriegsverbrechen von eigenen, souveränen Rechtsgrundsätzen geleitet.

Folgt man Robert Kagan, so ist der Unterschied zwischen der europäischen und amerikanischen Weltsicht logisch und spiegelt die schwache Position Europas und die stetig wachsende Stärke der USA wider. Kagan sieht die beiden als Pole - hier die friedfertige, von der Idee des Wohlfahrtsstaates besessene, nachgiebige Venus, dort der ungehobelte und kriegslüsterne Mars. Trotz dieser populistischen Symbolik: Kagan trifft mit seiner Charakterisierung einen Nerv. Die Amerikaner treten auf globaler Ebene bestimmt und aggressiv auf, während die Europäer um sich selbst zu kreisen scheinen, um ihren Wohlstand und ihre friedfertige Außenpolitik - nicht unbedingt, weil die Europäer dies so wünschen, sondern weil sie dies angesichts des Friedens und der Zusammenarbeit nach dem langen europäischen Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts, nach zwei Weltkriegen und der Teilung Europas im Kalten Krieg nicht mehr anders können oder wollen.

Es grenzt an ein Wunder, dass aus den Ruinen eines jahrhundertelangen mörderischen Wettstreits zwischen Frankreich und Deutschland die Fundamente eines Systems der Zusammenarbeit erwachsen konnten, das wir heute als Europäische Union kennen. Die EU ist ein zweckgerechtes Imperium, das sich bei der Aufrechterhaltung seiner Stärke nicht auf militärische Macht verlässt und oft gerade deshalb geschmäht wird, etwa, als die Mitgliedstaaten das völkermordende serbische Regime im Kosovo nicht zügeln konnten und erst dann wirkungsvoll handelten, als die USA die Führung übernahmen.

Heute ist die EU ein wirtschaftlich und kulturell attraktives Imperium, das ökonomisch interveniert und im Gefolge der militaristischen Friedensschaffung der USA versucht, die Aufräumarbeiten zu erledigen. In der internationalen Politik stellt die EU vor allem eine normative Macht dar. Es ist ihren Mitgliedstaaten gelungen, die Früchte des Wirtschaftswachstums gerechter unter ihren Bürgern zu verteilen, als dies in den scheinbar dynamischeren USA der Fall ist, ohne dabei ihre Innovationskraft aufs Spiel zu setzen. Vielleicht sollten wir diesem europäischen System das Etikett "neu" verpassen und die von sich so überzeugte, atavistische und kriegerische amerikanische Politik als "alt" bezeichnen.

Die Holocaust-Gedenktage sind für die Europäer eine gute Gelegenheit darüber nachzudenken, wie eine Wiederholung der Verbrechen von Nationalsozialisten, Kommunisten und anderen totalitären Regimen und Ideologien des 20. Jahrhunderts verhindert werden kann. Diese Zeit war trotz ihres technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts ein "dunkles Jahrhundert". In erster Linie aufgrund der geographischen Lage ist es den Amerikanern zumindest bis vor kurzem erspart geblieben, sich diesen dunkleren Seiten der Moderne aussetzen zu müssen. Deshalb hat der Holocaust in den USA - ebenso wie in Israel - eine andere Bedeutung. Diese Unterschiede müssen die USA und Europa jedoch nicht davon abhalten, auf Feldern der "Erinnerungspolitik" zusammenzuarbeiten.

Viele Dinge können Bestandteil einer neuen Moral in der internationalen Politik sein. Werte und die Übernahme von Verantwortung für Verbrechen der Vergangenheit haben Eingang in Recht und Politik gefunden. Eine Gefahr liegt darin, dass diese Politik zu einem hohlen, schlimmer noch: scheinheiligen "Moralismus" degeneriert. Dies zu verhindern ist eine weitere Aufgabe für die EU als normative Macht in der internationalen Politik.

Übersetzung aus dem Englischen: Susanne Laux, Königswinter.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einige Gedanken dieses Beitrags finden sich in früheren Abhandlungen des Verfassers, etwa in: Uffe Østergård, Holocaust, Genocide and European Values, in: Steven Jensen (Hrsg.), Genocide: Cases, Comparisons and Contemporary Debates, The Danish Center for Holocaust and Genocide Studies, Kopenhagen 2003, S. 175 - 192; ders., Denmark and the New International Politics of Morality and Remembrance, Danish Foreign Policy Yearbook 2005, Kopenhagen 2005, S. 65 - 101.

  2. Vgl. Hans Kirchhoff, Et menneske uden pas er ikke noget menneske. Danmark i den internationale flygtningepolitik 1933 - 1939, Odense 2005; Lone Rünitz, Af hensyn til konsekvenserne. Danmark og flygtningespørgsmålet 1933 - 1940, Odense 2005; Cecilie Felicia Stokholm Banke, Demokratiets skyggeside. Flygtninge og menneskerettigheder i Danmark før Holocaust, Odense 2005; Hans Kirchhoff/Lone Rünitz, Udsendt til Tyskland. Dansk flygtningepolitik under besættelsen, Odense 2007.

  3. www.levandehistoria.org.

  4. Vgl. John Gillis (Hrsg.), Commemorations: The Politics of National Identity, Princeton 1994; Lewis A. Coser (Hrsg.), Maurice Halbwachs: On Collective Memory (1950), Chicago 1992; Uffe Østergård, European Identity and the Politics of Identity, in: J. P. Burgess/Ola Tunander (Hrsg.), European Security Identities: Contested Understandings of EU and NATO, Oslo 2000; Bo Stråth (Hrsg.), Myth and Memory in the Construction of Community: Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel 2000. Zum Zusammenhang zwischen Geschichte und Erinnerung vgl. Norbert Frei, Farewell to the Era of Contemporaries: National Socialism and Its Historical Examination en route into History, in: G. N. Arad (Hrsg.), History and Memory. Passing into History: Nazism and the Holocaust beyond Memory (Studies in the Representation of the Past, 9/1997), S. 59 - 79, sowie Uffe Østergård, Europa. Identitet og identitetspolitik, Kopenhagen 1998.

  5. www.holocausttaskforce.org.

  6. Fridtjof Nansen (1861 - 1930) organisierte die Repatriierung einer halben Million russischer Kriegsgefangener und half, die Hungerkatastrophe im revolutionären Russland zu lindern. Nansen wurde zum ersten Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen gewählt und 1923 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vgl. seinen Vortrag "Videnskab og Moral" ("Wissenschaft oder Moral"), in: Samtiden, (1908). Vgl. auch: Roland Hartford, Nansen, London 1997, S. 473 - 667.

  7. Vgl. Financial Times vom 18.4. 2007, S. 1.

  8. Vgl. Uffe Østergård, Europe's Saints: The Official Construction of a History of the European Union, in: J. P. Burgess (Hrsg.), Museum Europa. The European Cultural Heritage between Economics and Politics, Kristiansand 2004, S. 31 - 66.

  9. Zum Konzept eines "Nationalkommunismus" vgl. Robin Okey, Eastern Europe 1740 - 1980. Feudalism to Communism, London 1982.

  10. Vgl. Alan Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992.

  11. Vorwort Jean-Paul Sartres zu Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1961; Übs. nach der englischen Ausgabe, London 1967, S. 23 und 22.

  12. Vgl. Martin Mennecke/Eric Markusen, The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia and the Crime of Genocide, in: S. Jensen (Anm. 1), S. 293 - 359.

  13. Vgl. Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Crime Trials and the Formation of Holocaust History and Memory, Oxford 2001.

  14. Vgl. Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 16 (1968), S. 120 - 149.

  15. Vgl. Stéphane Courtois u.a., Le livre noir du communisme, Paris 1997.

  16. Ein Überblick über zeitgenössische Forschungen und Debatten bei S. Jensen (Anm. 1).

  17. Vgl. Richard Z. Chesnoff, Pack of Thieves, New York 1999.

  18. Vgl. Robert Kagan, Paradise and Power, New York 2002.

  19. Mark Mazower, Dark Continent. Europe's Twentieth Century, New York 1998.

M.A., geb. 1945; ehemals Direktor des Danish Center for Holocaust and Genocide Studies, Danish Institute for International Studies, Kopenhagen; Professor für Europäische und Dänische Geschichte, International Center for Business and Politics, Copenhagen Business School, Steen Blichers Vej 22, 2000 Frederiksberg/Dänemark.
E-Mail: E-Mail Link: uoe.cbp@cbs.dk