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Die Macht der Intellektuellen

Hauke Brunkhorst

/ 15 Minuten zu lesen

Intellektuelle haben keine Macht, wenn damit bindendes Entscheiden gemeint ist. Was sie haben, ist mehr oder minder großer Einfluss, der sich auf Reputation, rhetorisches Geschick und Argumente stützt.

Einleitung

Intellektuelle haben keine Macht, wenn damit die Kompetenz bindenden Entscheidens gemeint ist. Was sie haben, ist mehr oder minder großer Einfluss, der sich nicht nur auf - wie Jean-Paul Sartre sagte - "missbrauchte" Berühmtheit oder Reputation und rhetorisches Geschick stützen kann, sondern auch auf die rationale Bindungskraft von Argumenten als Deckungsreserve zurückgreifen muss.

Manchmal haben sie auch Einfluss auf politische Führer, manchmal können sie sogar breite Volksstimmungen herumreißen, wenn diese nur ambivalent genug sind. Dafür ist die französische Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts ein ebenso gutes Beispiel wie der deutsche Historikerstreit der 1980er Jahre. In beiden Fällen ist das Pendel zugunsten der Linken ausgeschlagen, aber das muss es natürlich keineswegs.

Man denke nur an die neokonservative "Tendenzwende" Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik, die freilich von Intellektuellen ausgerufen wurde, die sich selbst als "Gegenintellektuelle" verstanden, oder die fast zeitgleiche, scharfe Wende der britischen und US-amerikanischen Politik nach rechts unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die von neokonservativen Intellektuellen und neoliberalen Ökonomen stark beeinflusst wurde und die ohnehin nie gebrochene, nach 1968 aber stark angeschlagene kulturelle Hegemonie der Konservativen mit frischem Blut versorgt und für eine bis dahin beispiellose Globalisierung fit gemacht hat. Das hat sogar zu dem bizarren Vorschlag geführt, die Tätigkeit der Intellektuellen, die immer - auch noch von den amerikanischen Neokonservativen - als Kritik verstanden wurde, völlig ins Affirmative zu wenden und durch "Preisen" (Hans Ulrich Gumbrecht) zu ersetzen.

Revolution

Nur in den "Drang- und Sturmperioden" (Karl Marx) der großen Revolutionen vermischen sich die Rollen von Intellektuellen und Machthabern zur Ununterscheidbarkeit, und Intellektuelle, die es bleiben, stürzen Ständeversammlungen (Abbé Sieyes), führen Armeen in Bürgerkriege (Leo Trotzki), verfassen Unabhängigkeits- und Rechteerklärungen und beschaffen ihnen die nötigen Mehrheiten (Abbé Sieyes, Thomas Jefferson). Sie wüten im Wohlfahrtsausschuss (Maximilien Robespierre), ohne aufzuhören, die Welt immer wieder neu zu interpretieren und ihnen ihre bessere Moral vorzuhalten oder die Verfassungstheorie weiterzuentwickeln (Abbé Sieyes). Wo sich die "dramatischen Effekte" "überbieten", "Menschen und Dinge in Feuerbrillanten gefasst" scheinen und "die Ekstase der Geist jedes Tages" ist, kommt sogar die Kunst für Augenblicke an die Macht, etwa der Schriftsteller Kurt Eisner in der Münchener Räterepublik 1918/19. "Aber sie (ist) kurzlebig" und hat, wie Marx wusste, "bald (...) ihren Höhepunkt erreicht". Dann ist es mit der allzu scheinhaften Herrschaft der Intellektuellen auch schon wieder vorbei, und "ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt."

Auf Thomas Jefferson und James Madison folgte Andrew Jackson, auf Lenin Stalin, auf Robespierre und Napoleon I dessen Neffe Louis Bonaparte, auf die große Tragödie die Farce. Nur zu Beginn begünstigt die Revolution die Macht der Intellektuellen, und wenn sie auf Dauer Machthaber werden, müssen sie bei Strafe ihres Untergangs das Spiel der Macht betreiben und die intellektuelle Rolle vergessen. Statt intervenierend auf entzweiende Polemik müssen sie sich auf den Gebrauch schneidender Instrumente und aufs Memoirenschreiben verlegen, dem postintellektuellen Genre schlechthin; auch wenn sich gelegentlich jemand findet, der es für intellektuelle Zwecke missbraucht und die Erinnerung einen neuen Konflikt um öffentliche Angelegenheiten auslöst.

Die plötzliche Verwirrung der Rollen des Intellektuellen und des Machthabers in den großen Revolutionen hängt eng mit der Differenz der revolutionären zur alltäglichen Politik eng zusammen. In den Revolutionen sind es nämlich die neuen Ideen, die Weichen künftiger Entwicklung stellen (Max Weber) und vor allem Möglichkeiten versperren, die zuvor problemlos verfügbar waren. In den wenigen Augenblicken der Geschichte, in denen grundlegende Legitimationsverhältnisse umgewälzt werden, wird Intellektualismus zur politischen Option und die gewaltlose Idee zur materiellen Gewalt. Die Revolution ist die Stunde des allgemeinen Intellektuellen (Jean-Paul Sartre) - und danach regrediert er nicht selten zum Nostalgiker der Revolution oder verschreibt sich, besonders nach scheiternden Revolutionen, als dienstbarer Geist der Realpolitik und stellt das Programm von Revolution auf Imperialismus um, ein häufiges Schicksal von Achtzehnhundertachtundvierzigern und Neunzehnhundertachtundsechzigern.

Kommunikative Macht

Intellektueller Einfluss und politische Macht sind trotz sporadischer Rendezvous grundsätzlich verschiedene Größen. Es kommt hier natürlich darauf an, was man unter Macht versteht: konventionell das, was aus den Gewehrläufen kommt und in der Verfügungsgewalt über Zwangsmittel besteht, also administrative Macht - oder unkonventionell die kommunikative Macht der Straße, auf der sich die Leute versammeln, um miteinander zu reden und gemeinsam zu handeln. Intellektuelle haben sich seit je zu beiden Formen der Macht verhalten, aber das moderne Verständnis des Intellektuellen, dessen Begriff sich erst Ende des 19. Jahrhunderts in der Dreyfus-Affäre - als positiv gewendetes Negativstigma - durchsetzte, ist der, zumindest indirekte, Bezug auf kommunikative Macht konstitutiv.

Intellektuelle üben als Intellektuelle keine Macht aus, aber sie üben auch nicht einfach ihren gewöhnlichen Beruf als Rechtsanwalt, Schriftsteller, Musiker, Lehrer oder Wissenschaftler aus. Sie verhalten sich vielmehr als machtlose Akteure zur Macht, aber so, dass sie von den Kompetenzen, die sie in ihrer Berufspraxis erworben haben, öffentlichen Gebrauch machen. Das macht zum Beispiel ein Banker oder ein Autoschlosser, ein Industriearbeiter oder ein Kellner in der Regel nicht.

Der öffentliche Gebrauch akademischer oder schriftstellerischer Kompetenzen war dem Philosophen eines revolutionären Zeitalters, Immanuel Kant, noch das ganze öffentliche Leben. Für ihn gab es nur eine intellektuelle Öffentlichkeit, die er sich, wie die meisten seiner Zeitgenossen, die wie er mit den Jakobinern sympathisierten, nur als exklusiven Meinungsstreit des gebildeten Publikums vorstellen konnte, als Freiheit der Feder und nicht des vorlaut dummen Mundwerks. Aber die Massendemokratie hat die bürgerliche aufgehoben, auf die Kant und die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts sie noch - durchaus das eigene materielle Klasseninteresse im Blick - beschränkt wissen wollten.

Die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts hat die republikanische Freiheit des öffentlichen Lebens egalisiert, die verspäteten Privilegien der Bildung und der Profession (in Deutschland erst seit Beginn der jüngsten Globalisierung) beseitigt und die Elite in eine schäbige Pension verwandelt, die jedem offensteht. Das Bürgertum taugt seitdem nur noch für intellektuelle Nostalgien, und beim Stichwort Elite streitet sich die hoch bezahlte Elite der Talkshows, Journalisten mit ihrem handverlesenen Publikum, darüber, ob die weniger verdienenden Spitzenpolitiker oder die Spitzenbanker, die von allen am meisten verdienen, die neue Elite darstellen sollten, ohne dass noch jemand daran dächte, das selbstreferentiell geschlossene, elektronische System der Darstellung des Darstellens zu verlassen.

Das alles befestigt die scheinbar unverbrüchliche kulturelle Hegemonie der Neokonservativen, ändert aber nichts daran, dass die Stimme des oder der Intellektuellen zu einer von vielen im undurchdringlichen Gewirr der Stimmen geworden ist. Auch wenn der öffentliche Gebrauch von Fachkompetenz, und sei es nur der, besser schreiben zu können als die meisten, ihr besonderes Merkmal ist: Die Intellektuellen haben mit den Resten des untergegangenen Paternalismus früherer Zeiten (Konrad Adenauer) jedes Privileg des Besserwissenden verloren.

Öffentlichen Gebrauch oder "Missbrauch" (Jean-Paul Sartre) von ihrer Fachkompetenz machen die Intellektuellen, wenn sie die Macht adressieren, sei es die kommunikative der Straße, sei es die administrative des Büros. Als Gutachter, Experte und Berater vor Parlamentsausschüssen, in Regierungskommissionen oder vor Gericht haben Intellektuelle bisweilen einen direkten (aber meist überschätzten) Einfluss auf Leute, die Macht ausüben, indem sie bindend entscheiden. Hier ist ihre spezielle Fachkompetenz, mehr noch, ein der jeweiligen Macht brauchbares Ergebnis gefragt, auch wenn es nicht immer geliefert wird.

Spätestens aber, wenn sie vor die laufenden Kameras treten oder, wie heute üblich, öffentlich angegriffen werden oder mit Gegengutachten konfrontiert sind, die andere Konjunkturdaten präsentieren oder längere Laufzeiten berechnen, machen sie den Schritt von der administrativ institutionalisierten Öffentlichkeit, die aufs bindende Entscheiden spezialisiert ist, zur diffusen, allgemeinen und verallgemeinernden Öffentlichkeit, in der kommunikative Macht spontan entsteht und wieder vergeht. Erst wenn ihre institutionelle Abschirmung zur allgemeinen Öffentlichkeit durchbrochen wird, wenn der Vortrag des Gerichtsgutachters oder das Papier des Bevölkerungsstatistikers öffentlich attackiert und zerrissen wird oder wenn andere Experten den institutionell geschützten Rollenspieler öffentlich herausfordern, werden Berater, Gutachter, Experten zu Intellektuellen.

Spezielle und allgemeine Intellektuelle

Das sind diejenigen, die Michel Foucault spezielle Intellektuelle genannt, denen er eine glänzende Zukunft versprochen und die er zum postmodernen Nachfolger von Sartres allgemeinem Intellektuellen erklärt hatte. Auch Niklas Luhmann ist auf diese Linie eingeschwenkt und sieht die neuen Aufgaben des Intellektuellen nicht mehr, wie sein Lehrer Talcott Parsons, in der "ideologischen" Vermittlung der universellen Gehalte der Kultur mit dem Alltagsleben und der Legitimation von Protestbewegungen, sondern in der diffusen Vermittlung und Verbreitung hoch spezialisierten Expertenwissens, das an sachlichen Umweltrisiken und nicht mehr, wie der allgemeine Intellektuelle, an den sozialen Strukturkrisen der Gesellschaft orientiert ist.

Die Intellektuellenrolle, auch die des speziellen Intellektuellen, lebt von ihrer Berührung mit der kommunikativen Macht der Straße. Ihr Lebenselement ist nicht das Büro, sondern der Journalismus, ihr Adressat nicht der Machthaber, dem sie einflüstern, wo es lang gehen soll, sondern das allgemeine Publikum, in das sie plötzlich eintauchen oder, von hinten oder von der Seite attackiert, hineingestoßen werden, um sich wieder zu entfernen, wenn die Gelegenheit vorüber ist, zumindest so lange, bis sich eine neue bietet.

Die Rolle der speziellen Intellektuellen war zuletzt gut beobachtbar nicht nur auf den vielen Umweltgipfeln und im neuen Protestpotential von Seattle und bei Attac, sondern auch in der jüngsten Affäre um den Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin, in der ein Artikel und ein Interview von Biologen, Genforschern, Statistikern, Entwicklungspsychologen und Begabungsforschern das andere jagte. Sie hatten mit einem Schlag die Rolle gewechselt, das Immunsystem der schwerfälligen und wortwörtlich schwergewichtigen, oft weit besser bezahlten Gutachten und Expertisen verlassen und sich zu speziellen Intellektuellen gemausert, die sich ins Getümmel stürzen, wo sie dem Streit der öffentlichen Meinung schutzlos ausgesetzt sind.

Trotz des Votums von Foucault und Luhmann wirkt die intellektuelle Rede aber nach wie vor nicht nur speziell, sondern, indem sie sich ohne besondere Fachkompetenz dem Medium der öffentlichen Meinung anvertraut, auch unmittelbar auf die Bildung kommunikativer Macht ein. Indem sie den Variationspool der öffentlichen Meinung in laufenden Konflikten mit Unmengen immer wieder neuer, manchmal guter, manchmal schlechter Argumente versorgt, trägt sie zur intellektuell nicht mehr kontrollierbaren Bildung der öffentlichen Meinung ebenso bei wie zur autonomen Willensbildung einer Wählerschaft oder einer kämpfenden sozialen Klasse, die sich von allen intellektuellen Vorgaben emanzipiert hat.

Aber im Streit um allgemeine Interessen, die das soziale Zusammenleben in nationalen, regionalen und globalen Gemeinschaften betreffen, nehmen Intellektuelle nicht als Psychologen, Soziologen, Philosophen, Schriftsteller, Musiker, Erziehungswissenschaftler, Kernforscher oder Mediziner teil, sondern als allgemeine, politisch redende und handelnde Akteure. Sie mischen sich inkompetent wie jeder andere auch, aber im Namen verallgemeinerbarer Interessen in laufende Konflikte ein oder treten sie gar los. In dieser Rolle handeln sie immer noch als allgemeine Intellektuelle, die glauben, ein krisenhaftes Symptom identifiziert zu haben und hoffen, die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung darauf lenken zu können. Auch Foucaults und Luhmanns große Wirkung verdankten sich nicht allein, oder überhaupt nicht ihrer Tätigkeit als spezielle, sondern als allgemeine Intellektuelle.

Die allgemeinen Intellektuellen sind schon lange keine Parteiintellektuellen früherer Tage mehr, die etwa mit Georg Lukács' Abwandlung eines patriotischen Satzes von Winston Churchill sagen: "Right or wrong, my party." Auch die Zeiten endloser Unterschriftenlisten von Kulturschaffenden, in denen sich ein immer noch privilegiert verstandener, europäischer Geist paternalistisch den im Materiellen arbeitenden, Maschinen, Brot und Kohle schaffenden Massen zuwandte, sind vorbei, seit mehr als 30 Prozent der Bevölkerung (in den OECD-Ländern und zunehmend auch in den Schwellenländern) akademisch ausgebildet sind.

Sowie sich jemand aus dem System kultureller Wissensproduktion, in dem er oder sie als Archivar, Professor, Künstler, Schriftsteller oder Kleriker eine hoch spezialisierte Tätigkeit verrichtet, an die diffuse Öffentlichkeit wendet, eine Polemik vom Zaun bricht, agitiert, Stellung zu irgendeiner öffentlichen Angelegenheit bezieht und sich dabei der Sprache des gebildeten Feuilletons, der Diktion der Boulevardpresse, der Rhetorik des Gerichtspublikums oder der Semantik der bildungsfernen Schicht der Berufspolitiker bedient, vermittelt der argumentative Gehalt der intellektuellen Rede zwar immer noch, wie vor mehr als zweitausend Jahren, zwischen Wissenschaft und Politik, Theorie und Praxis. Die Rolle der Intellektuellen, Theorie und Praxis im Medium öffentlicher Rede zu vermitteln, ist so alt wie die Hochkulturen der Achsenzeit, und die ersten Philosophen sind hier ebenso beispielhaft wie die alten Propheten.

Aber es ist schon lange nicht mehr so, dass die Wissenschaft die guten Argumente oder die Religion die offenbare Wahrheit liefert und Politik nur noch die Panzer einsetzen oder die Gesetzgebungsmaschine anschmeißen müsste, um sie zu verwirklichen. Das hat schon bei Platon nicht geklappt und ist in Jahrhunderten intellektueller Fürstenerziehung von Thronfolger zu Thronfolger immer von Neuem gescheitert. Mittlerweile nötigen die Demokratisierung der Intellektuellenrolle und der öffentliche Dauerstreit der wissenschaftlichen Gutachter Wähler und Gewählte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Die Intervention des allgemeinen ist von der zunehmenden des oder der speziellen Intellektuellen keineswegs verdrängt worden, sie kommt nur von allen Seiten, und schon lange nicht mehr nur von denen, die nicht nur gut ausgebildet sind, sondern unmittelbar zur Produktion kulturellen Wissens beitragen. Sie kommt aus allen Richtungen und ist immer unberechenbarer geworden.

Dadurch haben sich die alten, noch halb feudalen Asymmetrien zwischen dem Weisen und Seher und dem Staatenlenker ebenso verschliffen wie diejenigen zwischen "Zeit" und "Bild". Der Boulevard wird reflexiv und ironisch, und der Qualitätsjournalist zum populistischen Agitator, die Frau aus dem intellektuellen Feuilleton geht zur "Bild"-Zeitung, der Talkmaster wird Feuilletonchef, und im Internet mischen sich alle Diskurse; nur diejenigen bleiben draußen, die keinen Anschluss ans Netz haben. Die Intellektuellen haben in der Wissensgesellschaft trotz der sozial, sachlich und zeitlich höchst ungleichen Verteilung des Wissens kein Wissensprivileg mehr.

In der deliberativen Demokratie, dort, wo sie halbwegs funktioniert, bedarf es nicht mehr der Intellektuellen, um die universellen Prinzipien der Moral und des Rechts gegen dumpfe Vorurteile zur Geltung zu bringen. Wenn nur lange und frei genug diskutiert wird und auch komplexe Argumente, die von jedem kommen können, vorgetragen und gehört werden, kommt von alleine genügend Intellektualität zum Zuge, so dass eine gute Chance besteht, dass die jeweils zur Diskussion stehenden Vorurteile schon von selbst zerfallen, um sich freilich an der nächsten Ecke neu zu bilden, mit oder ohne intellektuelle Anleitung. Aber beim nächsten Konflikt geht es wieder los, und wenn wir Glück haben, macht die Selbstaufklärung des nicht mehr besonders gebildeten Publikums dabei sogar Fortschritte.

Die Stimme des Intellektuellen ist zwar zu einer unter vielen geworden, sie hat aber darüber ihre besonderen Qualitäten, das Bündeln von Argumenten, das Zuspitzen von Polemiken, das Aufspüren des Neuen, die ironische Zäsur, die welterschließende Kraft, den fanatischen Fundamentalismus, die brillante Rhetorik und die überzeugende Argumentation, nicht verloren. Aber das ist nicht mehr das Privileg einer bestimmten akademischen Klasse. Es hat sich von der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals soweit gelöst, dass niemand mehr auf die intellektuellen Stimmen hören muss und jede und jeder sich frei zu ihnen und ihren Argumenten verhalten kann. Die Leute haben es satt, sich von Politikern oder Intellektuellen wie Kinder behandeln zu lassen, oder wie es im immer wiederkehrenden Politikerjargon heißt, wie "Menschen draußen im Lande". Auch Intellektuelle haben dumpfe Vorurteile, und umgekehrt ist auch das Stammtischpublikum gebildet.

Radikale Kritik

Anders als die speziellen Intellektuellen, die sich bei der immer kontroverseren Einschätzung ganz auf ihre Fachkompetenz stützen und alle Fragen allgemeinen Interesses ausklammern müssen, gilt das Interesse der allgemeinen Intellektuellen der symptomatischen Wahrheit (Slavoj iek), die ein bloß verdrängtes und beschwiegenes gesellschaftliches Krisenphänomen sichtbar macht. Wenn alle, die den hegemonialen Konsens definieren, sich darauf geeinigt haben, dass - wie Joschka Fischer es nach seiner realpolitischen Wende immer ausdrückte - das Axiom aller Reformpolitik ist, dass alles geändert werden kann, aber am Kapitalverhältnis nichts zu ändern ist, erinnert die Stimme des allgemeinen Intellektuellen daran, dass es dann nur noch eine wirklich radikale Option gibt, dem Elend und der Verzweiflung, dem Unrecht und der Ausbeutung des globalen Kapitalismus überhaupt etwas entgegenzusetzen, und das ist die Wiederaufnahme der radikalen Kritik am Kapitalverhältnis.

Was nämlich die bewusst betriebene Verdrängung, das silencing, das Zum-verstummen-Bringen jener Kritik übersieht, ist die symptomatische Wahrheit, dass alle Reformen scheitern müssen, die das Kapitalverhältnis jeder Kritik und jeder alternativen Option, und sei sie noch so immanent, entziehen. Beim Insistieren auf symptomatischer Wahrheit geht es indes nicht mehr um längst verblasste Revolutionsphantasien, ums letzte Gefecht oder den großen Plan der marxistischen Geschichtsphilosophie. Wohl aber kann die nurmehr negative Wahrheit des Symptoms das machtpolitische Scheitern intellektueller Figuren wie Fischer exemplarisch erklären. Wer - immerhin - die politische Einigung Europas bis zum französischen Verfassungsreferendum vorangetrieben hat, scheitert am Ende genau daran, dass sich die Europäische Bürgerschaft nicht vollends und ungefragt dem Kapitalverhältnis ausliefern wollte. Das Verdrängte kehrt zurück, und wenn wir Glück haben, verschieben sich diesmal die Gewichte zugunsten der vom Symptom befreiten Willensbildung von Europas Völkern, die längst eine Bürgerschaft sind, ohne es indes zu wissen.

Bleiben wir beim Beispiel Europa. Die Strategie der Verdrängung und des silencing, das sich und uns die technokratische Europapolitik nach 2005 noch einmal erfolgreich verordnet hat, funktionierte schon in der Griechenland-Krise fünf Jahre später nicht mehr. Der hegemoniale Konsens, der auch diese Krise überlebt hat, sieht sich seiner symptomatischen Wahrheit konfrontiert, nämlich dass postnationale Foren, grenzüberschreitender Kosmopolitismus, die Verfassung ohne Staat, das Projekt eines europäischen Sozialstaats oder gar die abenteuerliche Idee einer globalen sozialistischen Basisdemokratie oder einer anderen Verteilung der Arbeit sich nicht mehr zugunsten der Hoffnung, das globale Kapital werde alles richten, wenn man es nur frei agieren lasse, verdrängen und verschweigen lassen. Das ist die symptomatische Wahrheit in der Parole "Peoples of Europe, Rise Up", die eine stalinistische Partei von gestern an das Athener Symbol des antiken Europa geheftet hatte: Die kühneren Antizipationen einer neuen europäischen und globalen Demokratie sind nicht für die Katz und ohne praktische Bedeutung. Sie liegen als Deutungsschemata bereit, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn aus ganz anderen Gründen, in Situationen ökonomischer und politischer Krisen und ohne den Intellektuellen noch einen besonderen Part zu lassen, eine neue, europäische Öffentlichkeit entsteht.

In der Griechenland-Krise wurde bereits "in der europäischen Öffentlichkeit (...) richtig geholzt" und "auf dem Boulevard (...) regelrecht gehetzt", nicht nur gegen Griechenland, sondern auch "die Deutschen (haben) ihr Fett wegbekommen, von wegen Hegemoniestreben". Was der Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der wieder einmal vor zuviel europäischer Öffentlichkeit warnt, dabei übersah, war nicht nur, dass ohne Fett, Gehetze und Geholze die Demokratie stirbt, sondern dass - und auch das gehört zur Dialektik des öffentlichen Geholzes - nicht nur die europäische Solidarität von Deutschland fast aufgekündigt wurde, sondern zur gleichen Zeit im französischen Parlament und in den Meinungsumfragen eine sehr deutliche Mehrheit sich für die Solidarität mit der südlichen Peripherie aussprach. Wenn die Diskussion nicht verdrängt und zum Schweigen, sondern immer wieder angestachelt und zu Wort gebracht wird, kann sich der Knoten von alleine lösen und die Produktivkraft grenzüberschreitender Solidarität plötzlich entfesselt werden. Hier hätten die allgemeinen Intellektuellen Sartres immer noch einen Part, aber er hätte sich in eine vollends deliberativ gewordene Demokratie verflüssigt.

Zwar wurde im grenzüberschreitend öffentlichen Diskurs der Griechenland-Krise die intellektuelle Hegemonie der neokonservativen Mixtur aus nationaler Politik und globalem Turbokapitalismus nicht gebrochen, aber alternative Deutungsmuster, die in der Krise überall durchgespielt und diskutiert wurden, vom Neo-Keynesianismus (Paul Krugman) bis zum Neo-Post-Neo-Leninismus (Slavoj iek), vom Kosmopolitismus (Ulrich Beck) bis zum Europäischen Sozialstaat (Claus Offe), könnten schon in der nächsten Krise, wenn die Staaten nicht mehr zahlen können, die Diskussion bestimmen.

Europäische Debatten

Plötzlich wird an immer mehr kontroversen Themen eine europäische Dimension erkennbar. Was Silvio Berlusconi noch ungestraft tun konnte und kann, wird beim französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy zum Problem. Eine durchsichtig populistisch inszenierte, mit wohl platzierten Kriminalstatistiken gut vorbereitete, wahltechnisch motivierte, rassistisch konnotierte Ausweisungskampagne gegen rumänische Sinti und Roma kommt ins Stocken, erfährt mehr und mehr Widerrede, gerät ins europarechtliche Zwielicht, wird vors europäische Parlament gezerrt und droht schon, sich wahltechnisch ins Gegenteil zu kehren, obwohl die Vorurteile gegen "Zigeuner" tief sitzen, weit verbreitet, durch unsere grandiose Erinnerungspolitik kaum gedämpft werden und diejenigen treffen, die - wie seinerzeit die Juden - am Ende der Skala derer stehen, für deren Schicksal Majoritäten sich erwärmen könnten.

Warum? Einfach deshalb, weil die Debatte immer weiter geht, derweil die Zahl derer wächst, die in den Sinti und Roma ihr eigenes europäisches Recht auf Freizügigkeit bedroht sehen und die Rückkopplungseffekte zwischen nationaler und europäischer Öffentlichkeit nicht mehr kontrollierbar sind. Der Einfluss der Intellektuellen auf die kommunikative Macht, die sich hier als Gegenmacht aufbaut, besteht nur noch in zahllosen Zeitungsartikeln, Parlamentsinitiativen, Internetkampagnen und Appellen an den universalistischen Gehalt des europäischen Rechts und der faktischen Verfassung Europas.

Dr. phil., geb. 1945; Professor für Soziologie an der Universität Flensburg, Postfach 2954, 24919 Flensburg. E-Mail Link: brunk@uni-flensburg.de