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EU-Außenbeziehungen nach Lissabon

Matthias Dembinski

/ 17 Minuten zu lesen

Der multilaterale Stil europäischer Außenpolitik hängt mit dem regelbasierten Gefüge der EU-Institutionen zusammen. Lissabon wird mit der Aufwertung internationaler Verwaltungsstäbe diesen Politikstil akzentuieren.

Einleitung

Seit dem 1. Dezember 2009 arbeitet die EU-Maschinerie nach einem anderen Takt. An diesem Tag trat nach langen Verhandlungen die vom ursprünglichen Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon mutierte Reform der europäischen Institutionen und Verfahren in Kraft. Nachhaltige Veränderungen bringt der Vertrag insbesondere für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Gemeinsame (früher Europäische) Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP statt ESVP). Zwar bedeutet auch Lissabon keinen Systemwechsel im Sinne einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Staaten bleiben Herren des Geschehens. Der Einfluss der Kommission auf die GASP und die EU-Außenbeziehungen wird durch den Vertrag sogar beschnitten. Aber dennoch weist Lissabon weit über frühere Vertragsrevisionen hinaus.

Die wichtigste Neuerung besteht im Ausbau und der engeren Verzahnung der außen- und sicherheitspolitischen Verwaltungsstäbe unter dem neu geschaffenen Amt des Hohen Vertreters, der in Personalunion sogleich als Vizepräsident der Kommission dient. Damit könnten sich Kontinuität und Kohärenz europäischer Außen- und Sicherheitspolitik nachhaltig verbessern. Ob die EU-Staaten und -Organe diese Chance ergreifen, scheint allerdings angesichts des Streits über die Umsetzung der Vertragsbestimmungen keineswegs gesichert. Dennoch wird Lissabon einen Prozess beschleunigen, den man als Bürokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik verstehen kann.

Erst langsam gerät die Bedeutung dieses Vorgangs in die öffentliche Wahrnehmung. Hierzulande wurde die ESVP oft als etwas Vorläufiges, als etwas im Werden Begriffenes verstanden. Entsprechend eignete sie sich als Projektionsfläche für Visionen. Eine europäische Armee schien in erreichbarer Nähe, die europäische Supermacht in der natürlichen Fluchtlinie der bisherigen Entwicklung zu liegen. Mit diesen Visionen macht Lissabon Schluss. Denn der Vertrag bildet für absehbare Zeit den Abschluss der institutionellen Entwicklung im Bereich der Außen -und Sicherheitspolitik. Die deutsche Politik wird sich darauf einstellen müssen, dass die EU bis auf Weiteres ein schwer fassbares Zwangsverhandlungssystem bleibt, das zwar einerseits die ohnehin schrumpfenden Spielräume nationaler Außenpolitik zunehmend überlagert und einengt, aber andererseits dem Konsensprinzip verhaftet und damit den Zwängen und Mühen der Kompromissfindung verpflichtet ist. Welche Folgen die Einrichtung einer großen Bürokratie im Zentrum dieser Konsensmaschinerie für den Charakter und die Qualität europäischer Außen- und Sicherheitspolitik haben wird, ist ebenso offen wie umstritten. Während die einen hoffen, mit der Bündelung der außenpolitischen Kompetenzen im neuen Amt des Hohen Vertreters werde die EU außenpolitisch kohärenter und effizienter agieren, fürchten andere, die Zivilmacht EU könne ihren friedlichen Charakter verlieren und zu einem Machtblock mutieren. Dritte sorgen sich um den Verlust an demokratischer Kontrolle, der mit der Aufwertung von Bürokratien einhergeht. Dagegen vertrete ich den Standpunkt, dass Lissabon insbesondere die Neigung zu einem Politikstil verstärken wird, der sich durch Regelorientierung, Pfadabhängigkeiten und geringe Flexibilität auszeichnet.

Ursprünge der Reformdebatte

Lissabon stellt nach den Regierungskonferenzen von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) den dritten Versuch dar, die im Vertrag von Maastricht 1991 festgelegten Verfahren der neu gegründeten EU zu reformieren. Einen Ausgangspunkt dieser Reformbemühungen bildete die Schere zwischen den wachsenden Anforderungen Dritter sowie der eigenen Ansprüche im Bereich der Außenpolitik einerseits und der Sorge über die unzureichende Handlungsfähigkeit der perspektivisch größer und damit heterogener werdenden EU andererseits. Bereits in Maastricht akzeptierten selbst souveränitätsbewusste Mitgliedstaaten im Interesse der gemeinsamen Handlungsfähigkeit Abstriche bei der nationalstaatlichen Autonomie. Um in Zwangsverhandlungssystemen die Gefahr von Blockaden einzugrenzen und ein Minimum an Handlungsfähigkeit zu sichern, bieten sich zwei Möglichkeiten an: Die Parteien könnten zum einen übereinkommen, das Konsensprinzip einzuschränken und über Durchführungsmaßnahmen mehrheitlich zu entscheiden. Sie können zum anderen Kompetenzen wie die Agendasetzung oder die Vertretung gegenüber Dritten, die sich kaum gemeinsam wahrnehmen lassen, an einen ausgewählten Vertreter oder eine internationale Bürokratie delegieren.

Die EU experimentierte beim Aufbau der GASP mit beiden Möglichkeiten. Maastricht sah vor, dass die Staaten im Rahmen von Gemeinsamen Aktionen, die vom Europäischen Rat einstimmig auf den Weg zu bringen wären, mehrheitlich entscheiden. In der Praxis machten sie von diesem Verfahren aber so gut wie nie Gebrauch. Maastricht sah weiterhin die Delegation von Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik vor, allerdings nicht an die Kommission, der im Bereich des Binnenmarkts die Aufgabe zukommt, politische Beschlüsse vorzubereiten und die EU nach außen zu vertreten. Stattdessen wurde die GASP in einem separaten Pfeiler im Ratssekretariat eingerichtet. Der Ausbau dieser Verwaltungsstäbe beschleunigte sich mit der Einführung des Amtes des Hohen Repräsentanten durch den Vertrag von Amsterdam sowie der primärrechtlichen Kodifizierung der ESVP im Vertrag von Nizza. Schließlich delegierten die Staaten die Kompetenzen der Agendasetzung und Außenvertretung an das Organ der halbjährlich rotierenden Präsidentschaft.

Mit der Entscheidung für die Pfeilerstruktur nahmen die Staaten zwei Nachteile in Kauf, die seitdem die europäische Außenpolitik belasten: zum einen mangelnde Kohärenz. Die GASP wurde zwar im zweiten Pfeiler des Maastricht-Vertrags angesiedelt, für entscheidende Teile der Außenbeziehungen ist aber schon seit den Römischen Verträgen die Kommission zuständig. Dies gilt neben der Handelspolitik für die Entwicklungs- und die Assoziationspolitik. Seit den frühen 1990er Jahren ist eine dramatische Ausweitung der außenpolitischen Zuständigkeiten der Kommission zu beobachten. Teils wurden ihr neue Aufgaben zugewiesen, teils erschloss sie sich neue Handlungsfelder. Mittlerweile reichen die außenpolitischen Aktivitäten der Kommission von der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik über die humanitäre Hilfe bis zur Konfliktprävention, der Demokratieförderung und Wahlhilfe.

Die weitgehende Überschneidung der außenpolitischen Aktivitäten beider Pfeiler, die zunehmende Konkurrenz und der Streit um Zuständigkeiten, der beide Seiten vor den Europäischen Gerichtshof führte, sind nur die eine Seite der mangelnden Kohärenz. Die andere besteht in der strukturell mangelnden Abstimmbarkeit, die aus einer spezifischen Programmlogik der von der Kommission federführend gestalteten Außenbeziehungen erwächst. Programme werden im Zusammenwirken vieler Akteure, in der Regel auch der Empfängerländer, langfristig festgelegt. Während des Programmzyklus sind sie dann aufgrund ihres vertragsähnlichen Charakters kaum noch veränderbar. Obwohl die europäischen Entwicklungs- oder Nachbarschaftspolitiken konditioniert sind und politische Kriterien wie Konfliktprävention und gute Regierungsführung berücksichtigen sollen, entziehen sie sich der kurzfristigen politischen Steuerung. In der Konsequenz ist die EU zwar ein großer Geber von Entwicklungshilfe, dieser Umstand übersetzt sich aber nicht in unmittelbaren politischen Einfluss. So könnte es den Staaten mit Lissabon auch darum gehen, die Steuerungsfähigkeit der EU-Außenbeziehungen zu erhöhen und damit die EU ein wenig staatsähnlicher zu machen.

Der zweite Nachteil liegt im Problem mangelnder Kontinuität. Die halbjährlich wechselnden Präsidentschaften brachten ihre eigene Agenda mit und gaben der GASP beständig neue Impulse. Die Programme ließen sich aber oft nicht über die halbjährliche Präsidentschaft hinaus verankern. Im Ergebnis neigte die GASP zu diskontinuierlicher Schwerpunktsetzung. Zudem trug das Präsidentschaftssystem zur mangelnden Sichtbarkeit bei: Kaum war das Personal einer Präsidentschaft bei den Partnerländern eingeführt, war das nächste Mitgliedsland an der Reihe.

Reformen von Lissabon

Beim Lissabon-Vertrag handelt es sich um einen klassischen Mantelvertrag. Die Bestimmungen zur GASP/GSVP befinden sich im Vertrag über die Europäische Union (EUV), der auch die gemeinsamen Bestimmungen zu den demokratischen Grundsätzen und den Organen enthält. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) schreibt den EG-Vertrag fort.

Lissabon markiert keine dramatische Abkehr von den institutionellen Gegebenheiten. Es bleibt de facto beim Einstimmigkeitsprinzip, obwohl der EUV bei Durchführungsmaßnahmen die Möglichkeit qualifizierter Mehrheitsentscheidungen vorsieht (Art. 31 [2]). Der Europäische Rat spielt weiterhin die Rolle des Leitliniengebers (Art. 26). Er erhielt Organstatus und tagt in der Regel ohne die Außenminister. Der Außenministerrat gestaltet die Außen- und Sicherheitspolitik. Das darunter angesiedelte Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) setzt sich aus vor Ort stationierten Botschaftern zusammen, ist wie bisher für Krisenbewältigung zuständig und kann vom Rat beauftragt werden, eigenmächtig Beschlüsse zu fassen (Art. 38). Die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments (EP) bleiben beschränkt: Erklärung 14 zum Lissabon-Vertrag stellt fest, "dass diese Bestimmungen die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern". Der Einfluss der Kommission auf die GASP und die Außenbeziehungen könnte also schwinden. Der Vertrag etabliert eine Rechtspersönlichkeit der EU, nennt zusätzliche Aufgabenbereiche der GSVP wie Abrüstungsmaßnahmen und die Bekämpfung des Terrorismus (Art. 43), stellt die Europäische Verteidigungsagentur auf eine primärrechtliche Grundlage (Art. 45), verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. 42 [3]) und führt Solidaritätsklauseln im Falle eines Angriffs (Art. 42 [7]) bzw. einer Naturkatastrophe (Art. 222 AEUV) ein.

Die echten Neuerungen des Vertrags liegen eher auf drei anderen Feldern. Erstens schafft er das Instrument der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ). Damit wird den Mitgliedstaaten im Bereich der GSVP, die zu weitergehender Zusammenarbeit etwa bei der Zusammenlegung von Streitkräften bereit sind, die Möglichkeit zur Bildung eines Clubs eröffnet. Die Logik dieser Bestimmung ist insofern nachvollziehbar, als nur wenige Staaten zum Gros der europäischen Rüstungsausgaben beitragen. Allerdings birgt eine Flexibilisierung das Risiko einer Spaltung oder könnte sich als wirkungsloses Instrument entpuppen. Lissabon legt die Hürden für den Eintritt in eine SSZ so niedrig, dass sie von den meisten interessierten Staaten übersprungen werden können. Die Wirkung dieses Instruments dürfte in der Praxis begrenzt bleiben.

Zweitens überträgt Lissabon die Funktionen der Agendavorbereitung und Außenvertretung, die bisher der Präsidentschaft oblagen, auf neu geschaffene Akteure: den Präsidenten des Europäischen Rates und den Hohen Vertreter (HV). Sie sollen der EU auf weltpolitischer Bühne größere Sichtbarkeit verleihen und für die Kontinuität der Arbeit der Räte sorgen (Art. 15 [4] EUV). Der HV leitet allerdings nur die Sitzungen des Rates "Außenbeziehungen". Die bisherige Ratsformation "Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen" wird geteilt. Im Rat "Allgemeine Angelegenheiten" führt ebenso wie bei allen anderen Ratsformationen wie bisher die rotierende Präsidentschaft den Vorsitz.

Drittens schafft Lissabon mit dem Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) eine neue Großbürokratie und eröffnet zumindest die Chance, Friktionen zwischen dem ersten und zweiten Pfeiler zu überwinden. Auch hier spielt der HV die zentrale Rolle. Er wird nicht nur den EAD leiten, sondern als Vizepräsident der Kommission und hier der Generaldirektion "Auswärtige Beziehungen" vorstehen. Der HV bzw. sein Stellvertreter übernimmt ferner den Vorsitz im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee sowie voraussichtlich über die Arbeitsgruppen des Rates, die sich mit auswärtigen Angelegenheiten befassen (Erklärung 9, Art. 2). Weiterhin sitzt er dem Lenkungsausschuss der Rüstungsagentur ebenso wie dem Sekretariat der Westeuropäischen Union (WEU) vor und wird die GASP gegenüber dem EP vertreten.

"Außenministerium" der EU

Zur wichtigsten Ressource des HV wird der EAD. Im Lissabon-Vertrag ist er nur schemenhaft umrissen. Catherine Ashton war beauftragt, auf der Grundlage eines Dokuments des Europäischen Rates bis zum Frühjahr eine Entscheidungsvorlage auszuarbeiten. Bei den Diskussionen um den Entwurf drängten die großen Staaten darauf, Kompetenzen und Haushaltsmittel beim EAD zu bündeln. Der Dienst solle über die Krisenpräventionspolitik und andere Handlungsfelder der GASP hinaus die strategischen Weichenstellungen auch auf den Feldern der Außenbeziehungen wahrnehmen, die bisher zum Aufgabenbereich der Kommission gehörten. Insbesondere bei der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik solle der EAD strategische Weichenstellungen vornehmen können. Leitungsstellen sollten vorrangig mit sekundiertem Personal aus den Mitgliedstaaten besetzt und die Weisungsbefugnisse der Kommission begrenzt werden.

Dagegen möchte die Kommission die Verantwortung für die EU-Hilfsprogramme behalten und Mitsprache bei der Besetzung der hohen Dienststellen erreichen, um sicherzustellen, dass die mit den Außenbeziehungen befassten Teile des EAD auch der Kommission zuarbeiten. Rückendeckung erhielt die Kommission vom Parlament. So forderte ein Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen, der EAD müsste Rat und Kommission unterstellt sein. In den Bereichen der GASP/GSVP solle er den Beschlüssen des Rates, im Bereich der gemeinsamen Außenbeziehungen denen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder unterstehen. Um den Einfluss der abgestellten Beamten zu begrenzen, solle der Dienst zudem in organisatorischer und haushaltstechnischer Hinsicht in die Verwaltungsstrukturen der Kommission eingegliedert werden.

Der Entwurf, den Lady Ashton am 25. März 2010 vorlegte, kam den Wünschen der Kommission entgegen. Danach wird der EAD eine Einrichtung sui generis zwischen Kommission und Rat; er wird zwischen 6.000 und 8.000 Mitarbeiter umfassen. Mindestens ein Drittel soll von den Staaten in befristeten Arbeitsverhältnissen entsandt werden. Die übrigen werden aus Dienststellen des Rates und der Kommission zusammengezogen. Der Dienst soll in budgetärer und dienstrechtlicher Hinsicht eigenständig sein; der HV soll die Mitarbeiter benennen und das Budget verwalten. Der EAD wird die Abteilungen aufnehmen, die sich bisher mit Krisenmanagement befassten. Außerdem sollen dort die Kommissions- und Ratsabteilungen für die Sammlung und Evaluation von Geheimdienstinformationen und Frühwarnung zusammengezogen werden. Damit der Dienst für die Konsistenz und strategische Planung der EU-Außenpolitik sorgen kann, soll er gemäß dem bereits im Papier des Europäischen Rates festgelegten single-desk-Prinzip zudem die geographischen und thematischen Referate aus dem Ratssekretariat und der Kommission übernehmen. Entschieden ist ferner, dass der EAD künftig das GASP-Budget sowie den Stabilitätsfonds verwalten wird, für den bisher die Kommission verantwortlich war. Die bestehenden Delegationen der Kommission mit weltweit rund 3.000 Beamten werden in Delegationen der Union umbenannt, stärker auf außen- und sicherheitspolitische Themen ausgerichtet, in den EAD eingegliedert und dem HV unterstellt.

Die Kommission wird weiterhin für die Handels-, Entwicklungs- und Erweiterungspolitik Verantwortung tragen. Dafür soll der EAD an den Entscheidungen über die geographischen und thematischen Instrumente der Außenbeziehungen beteiligt werden. Federführend zuständig wird er für die konzeptionellen Aspekte der etwa vier Milliarden Euro schweren EU-Hilfsprogramme wie für die Erstellung der Länderstrategiepapiere. Entscheidungen darüber, ob die Entwicklungszusammenarbeit mit einem Land ausgesetzt oder die Kooperation im Rahmen der Nachbarschaftspolitik ausgeweitet wird, sollen der Dienst und die Kommission unter Leitung des zuständigen Kommissars treffen. Das letzte Wort über die Freigabe der Finanzhilfen bliebe nach dem Vorschlag Ashtons bei der Kommission. Insgesamt schafft Lissabon also mit dem starken Amt des HV/Vizepräsidenten der Kommission ein System, das Kohärenz und Sichtbarkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nachhaltig erhöhen könnte.

Offene Fragen

Der Vertrag lässt indes eine Reihe von grundsätzlichen Fragen offen. Die beiden wichtigsten betreffen das Verhältnis zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates, dem HV und der Präsidentschaft sowie das schwierige Verhältnis zwischen der Kommission, dem HV und seinem EAD sowie dem Rat. Nach traditionellen Kategorien geht es dabei um die Grundsatzfrage nach einer gemeinschaftsrechtlichen oder intergouvernementalen Ausrichtung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Aus einer anderen Perspektive stehen das Zusammenspiel zweier Großbürokratien und die Frage im Zentrum, was die Aufwertung der Verwaltungsstäbe für die EU-Außenpolitik bedeutet.

Mit Blick auf die Umsetzung des Lissabon-Vertrags drängt sich der Eindruck auf, dass die Mitgliedstaaten Angst vor der eigenen Courage bekommen und die neuen Positionen des Präsidenten des Europäischen Rates und des HV mit schwachen Kandidaten besetzt haben. Für Herman van Rompuy sprachen offenbar seine Fähigkeiten als Vermittler. Ashton hat zwar als Handelskommissarin Erfahrungen gesammelt, aber vor ihrer Berufung kein außenpolitisches Amt bekleidet. Die Wahl van Rompuys ist insofern nicht ungeschickt, als damit der potentielle Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem HV um die Führungsrolle bei der Außenvertretung entschärft wird. Mit der Wahl zeichnet sich ab, dass der Präsident eine eher repräsentative Rolle spielen und damit die Aufgabe, der europäischen Außenpolitik Gesicht und Profil zu geben, dem hierfür institutionell besser ausgestatteten HV zufallen wird.

Problematischer erscheint die Wahl der beiden Kandidaten in Bezug auf das Verhältnis zwischen ihren Ämtern und der Präsidentschaft. Mit ihr signalisieren die Staaten, dass sie sich den Präsidenten und die Hohe Vertreterin als ihre Diener, nicht als ihre Vorsitzenden vorstellen. So beschrieb der spanische Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero in seiner Eigenschaft als EU-Ratspräsident die Präsidentschaft als "Ideengeber" und "Impulsfabrik", den Präsidenten hingegen als Vermittler. Die spanische Präsidentschaft verfolgt ambitionierte außenpolitische Ziele, wird eine Reihe von Gipfeltreffen organisieren und die Agenda beeinflussen. Abzusehen ist bereits, dass auch die folgenden Präsidentschaften der EU (Belgien, Ungarn, Polen) weitgesteckte außenpolitische Ziele vorgeben werden.

Noch größere Spannungen erzeugt das ungeklärte Verhältnis zwischen der Kommission und ihrem Präsidenten auf der einen und dem HV sowie dem Rat auf der anderen Seite. Die früheren Delegationen der Kommission geraten nun unter den Einfluss des HV, Abteilungen aus der Kommission wandern in den EAD, und die seit der Einheitlichen Europäischen Akte zugesicherte, volle Beteiligung der Kommission an der Außen- und Sicherheitspolitik wird zugunsten einer Vertretung durch den HV im Bereich der GASP ersetzt (Art. 22 [2] EUV). Weil der Lissabon-Vertrag die Stellung des HV und des EAD nur ungenau zwischen Rat und Kommission verortet, lädt er zum Konflikt darüber ein, ob und inwieweit mit der Ausgestaltung des EAD eine stärkere Einflussnahme der Staaten auf die Belange der Kommission verbunden ist oder ob möglicherweise sogar die Kommission ihre Mitsprachemöglichkeiten in der GASP erhöhen könnte. Kommissionspräsident José Manuel Barroso schlug beim Zuschnitt der neuen Kommission eine Reihe von Pflöcken ein, um den Einfluss des HV zu begrenzen. Vor allem schnitt er die Aufgabenbereiche der Kommissare so zu, dass die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), die bis dahin mit guten Gründen bei der Generaldirektion "Auswärtige Beziehungen" angesiedelt war, samt der dazugehörigen Finanzlinie künftig von der Generaldirektion "Erweiterung" verwaltet wird.

Kurzum: Es ist nicht ausgemacht, dass Lissabon die Fragmentierung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik überwindet. Derzeit konkurrieren vier Machtzentren darum, der EU außenpolitisches Gesicht und Profil zu geben: der Präsident, der HV, der Kommissionspräsident und die Ratspräsidentschaft (Vgl. Tabelle in der PDF-Version). Institutionell ist der HV am besten gerüstet, um diesen Wettbewerb für sich zu entscheiden. Aber selbst wenn es Ashton gelingen sollte, den ihr vom Lissabon-Vertrag zugedachten Platz im Zentrum der außen- und sicherheitspolitischen Abstimmungs- und Entscheidungsmaschinerie einzunehmen, hätte dies für die Substanz der EU-Außenpolitik wohl andere Konsequenzen, als die Staaten erhoffen und besorgte Beobachter befürchten.

Bürokratisierung der Außenpolitik

Als Kern der Reform von Lissabon im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik entpuppt sich die Ermächtigung der Bürokratie. Mit dem EAD und der Kommission sollen zwei besser verzahnte Großbürokratien unter einheitlicher Amtsleitung für ein kohärenteres Auftreten sorgen. Während sich die Staaten von dieser Konstruktion eine effektivere und durchsetzungsfähigere Außenpolitik erhoffen, beklagen andere die zu erwartende Entdemokratisierung der Außenpolitik und fürchten Dritte um den Charakter der EU als Zivilmacht. Wahrscheinlicher ist es, dass die Aufwertung der Bürokratie einen Politikstil verfestigt, der sich durch Regelorientierung, Pfadabhängigkeiten und Inflexibilität auszeichnet.

Bürokratien sind auf Regeln angewiesen. Sie bestehen in Rollen und Regelwerken, und sie produzieren auf Regeln gerichtete, regelorientierte Politik. Dies gilt für die Kommission, und dies wird für den EAD gelten. Selbst wenn er formal intergouvernementaler aufgestellt sein sollte als die Kommission, liegt die Bedeutung der Lissabon-Reformen in der Schaffung einer Großbürokratie, die ihre Routinen, Interessen und Sichtweisen entwickeln wird und von einem 27-köpfigen Aufsichtsgremium mit heterogenen Interessen aller Voraussicht nach nicht effektiv kontrolliert werden kann. Die Vorstellung, mit Hilfe des EAD werde die EU schneller, flexibler und entschiedener auf externe Herausforderungen reagieren und damit im Bereich der Außenpolitik ein wenig staatsähnlicher werden, wird sich als Illusion erweisen. Schon heute ist abzusehen, dass die Mitwirkung des EAD bei der Gestaltung der Programme im Bereich der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik nicht zu mehr Flexibilität führen, sondern zunächst den Koordinierungsaufwand erhöhen und damit die Tendenz zur langfristigen Festlegung, Verlässlichkeit, aber auch Inflexibilität stärken wird.

Natürlich wird auch nationalstaatliche Außenpolitik von Bürokratien mitgestaltet. Aber bei Staaten wird der bürokratische Stil durchbrochen vom Typus des politischen Entscheiders an der Spitze der Auswärtigen Ämter bzw. der Regierungen. In der EU tritt an die Stelle der politischen Führung ein intergouvernementales Gremium. Durch das Zusammenwirken der internationalen Bürokratie und der intergouvernementalen Gremien verstärkt sich der regelorientierte, pfadabhängige Stil der Politik. Denn auch das intergouvernementale Entscheidungsgremium der Staaten stabilisiert sich mit Hilfe von Regeln. Zwangsverhandlungssysteme, bei denen alle aufeinander angewiesen sind, aber das gemeinsame Handeln unter der Vetodrohung jedes Einzelnen steht, tendieren dazu, die Zukunft durch die Festlegung von gemeinsamen Normen, Zielen, Regeln und Prozeduren berechenbarer machen zu wollen.

In der Literatur zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gibt es wenig Dissens über den Befund eines regelorientierten, pfadabhängigen und wenig flexiblen Politikstils. Multilateralismus gilt als Markenzeichen; der hohe Stellenwert des Prozeduralen und die oft geringe Substanz der Politik als ihr Charakteristikum. Unterschiedliche Einschätzungen gibt es in der Frage nach den Ursachen dieses Politikstils. So will etwa das Konzept der normativen Macht das besondere Verhalten der EU gegenüber ihrer Umwelt mit der Externalisierung der im Innern der Mitgliedstaaten geltenden Normen erklären. Wichtiger für die Erklärung des spezifischen Stils europäischer Außenpolitik erscheint mir dagegen der Verweis auf den bürokratischen und regelbasierten Charakter der EU-Institutionen. Lissabon wird mit der Aufwertung internationaler Verwaltungsstäbe diesen Politikstil akzentuieren, nicht ändern. Größere Kohärenz erhält Europa nur als regelorientierter Akteur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur europäischen Armee vgl. Wachstum, Bildung, Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, S. 118, online: www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf (1.4.2010).

  2. Vgl. Annegret Bendiek, Neuer Europäischer Realismus. SWP-Aktuell 10, Berlin 2010.

  3. Vgl. Fritz W. Scharpf, Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000, S. 244.

  4. Vgl. Christopher Hill, The Capability-Expectations Gap, or Conceptualizing Europe's International Role, in: Journal of Common Market Studies, 31 (1993), S. 305-328.

  5. Vgl. Simon Nuttall, Coherence and Consistency, in: Christopher Hill/Michael Smith (eds.), International Relations and the European Union, Oxford 2005, S. 91-112.

  6. Vgl. Neill Nugent, The European Commission, Houndmills 2001, S. 298.

  7. In diesem Fall hatten der Rat und die Kommission parallele Hilfsprogramme zur Beseitigung leichter Waffen in Westafrika aufgelegt. Vgl. Bart Van Vooren, EU-EC External Competences after the Small Arms Judgment, in: European Foreign Affairs Review, 14 (2009), S. 7-24 und S. 231-248. Zum Urteil vgl. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, Press Release No. 31/08, Judgment of the Court of Justice in Case C-91/05.

  8. Daniel Keohane und Charlotte Blommestijn weisen darauf hin, dass vier EU-Länder 70% der europäischen Rüstungsausgaben erbringen. Die zehn größten Länder tragen zu 90% der Ausgaben bei. Vgl. Strength in numbers? Comparing EU military capabilities in 2009 with 1999. ISS Policy Brief 5/2009, Paris 2009.

  9. Vgl. Sven Biscop, Permanent Structured Cooperation and the Future of ESDP: Transformation and Integration, in: European Foreign Affairs Review, 13 (2008), S. 431-448.

  10. Protokoll Nr. 10 zur SSZ setzt zwei Hürden: a) den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit und b) die Fähigkeit, entweder im nationalen Rahmen oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden wie den Battle-Groups an europäischen Einsätzen teilnehmen zu können. Vgl. Christian Mölling, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der EU-Sicherheitspolitik. SWP-Aktuell 13, Berlin 2010.

  11. Ashton hat offenbar entschieden, den Vorsitz im PSK einem Stellvertreter, vermutlich einem früheren PSK-Botschafter, mit einem fünfjährigen Mandat zu überlassen; vgl. Andrew Rettman, EU diplomats to benefit from new intelligence hub, in: EU Observer vom 22.2.2010.

  12. Vgl. Council of the European Union, Presidency Report to the European Council on the European External Action Service, Brussels, 23.10.2009.

  13. Vgl. Tony Barber, Ashton on centre of Brussels gloom, in: Financial Times vom 9.3.2010.

  14. Vgl. Europäisches Parlament: Bericht über die institutionellen Aspekte der Errichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (2009/2133(INI)), 20.10.2009, S. 7.

  15. Vgl. Council of the European Union, Proposal for a Council Decision of (...) establishing the organisation and functioning of the European External Action Service, Brussels, 25.3.2010.

  16. Vgl. Filippo Mauri/Gija Gya, The Setting Up of the European External Action Service (EEAS): Laying the Basis for a More Coherent EU Foreign Policy, in: European Security Review, 47 (2009) Dec., S. 5.

  17. Vgl. Julia Lieb/Martin Kremer, Aufbau mit Weitsicht. Der Europäische Auswärtige Dienst als Chance für die EU-Außenpolitik. SWP-Aktuell 2, Berlin 2010.

  18. Vgl. Anthony Luzzatto Gardner/Stuart E. Eizenstat, New Treaty, New Influence? Europe's Chance to Punch Its Weight, in: Foreign Affairs, (2010) March/April, S. 110.

  19. Vgl. Werner Mussler, Noch mehr Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.1.2010, S. 8.

  20. Zum spanischen Präsidentschaftsprogramm vgl. The Prime Minister's Speech at the Plenary Session of the Conference with the President of the European Parliament and the Presidents of the European Parliamentary Groups. Palacio de El Pardo, 3.12.2009, online: www.eu2010.es/export/sites/presidencia/
    comun/descargas/091203_Intervencion_
    PG_en_Conferencia_Pdtes_PE_EN.pdf (1.4.2010).

  21. Vgl. Carola Kaps, Die Donauregion fest im Blick, in: FAZ vom 18.12.2009, S. 10.

  22. Die Kommission machte zwar von ihrem Initiativrecht so gut wie keinen Gebrauch (vgl. Wolfgang Wessels, Das politische System der Europäischen Union, Wiesbaden 2008, S. 238), war aber in allen Gremien des zweiten Pfeilers vertreten.

  23. Vgl. Präsident Barroso stellt seine neue Mannschaft vor, Press Releases, IP/09/1837, 27.11.2009, online: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction
    .do?reference=IP/09/1837&format=HTML
    &aged=0&language=DE&guiLanguage=en7 (1.4.2010).

Dr. phil., geb. 1958; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Baseler Straße 27-31, 60329 Frankfurt/Main. E-Mail Link: dembinski@hsfk.de