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Staatsschiff Europa

Stephan Leibfried

/ 9 Minuten zu lesen

Europa und der Stier, das ist die historische Spur. Europa und das Staatsschiff, und diese Spur führt an die gegenwärtige staatsrechtliche Bedeutung der EU heran.

Europa und der Stier, das ist die übliche historische, metaphorische Spur. Wir wollen hier einer anderen nachgehen: Europa und das Schiff, vor allem Europa und das Staatsschiff. Diese Spur führt uns näher an die gegenwärtige staatsrechtliche Bedeutung der Europäischen Union (EU), an dieses 1957 geschaffene und ungewöhnliche politische Gebilde jenseits des Nationalstaats. Das Staatsschiff ist spätestens seit dem Stück "Die Wespen" des Aristophanes (422 v.Chr.) und dem Gedicht "O navis, referent" von Horaz (65-8 v.Chr.) als Sinnbild für Staatswerdung, Staatseinheit und Abwehr inneren Zerfalls in Gebrauch, auch wenn man unter "Staat" in zwei Jahrtausenden immer wieder anderes verstanden hat. Hinter dieser Metapher liegt zudem noch eine tausendjährige parallele, verstärkende Bedeutungsgeschichte des Kirchenschiffs, die sich bis zur Arche Noah zurückverfolgen lässt. Dieses Schiff stand für die Einheit der einen Kirche (una sancta catholica et apostolica ecclesia), für ihre Rettungskräfte in großer Not (seit der Sintflut), für ihre Bedeutung für das Seelenheil. Nachklänge zu Letzterem finden wir im pursuit of happiness der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776, als diesseitige Garantiespur einer Staatsgründung jenseitsorientierter christlicher, protestantischer Sekten.

Welche Bedeutung kommt dem Bild des Staatsschiffs in Kernstaaten der westlichen Welt zu?

Anders als in Deutschland finden wir das Staatsschiff bei den westlichen Großmächten schon früh. In Großbritannien wurden mit dem Schiffsbild vom 16. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder die Probleme des nationalen Zusammenhalts angesprochen. Hier stand das Schiff für den Einheitsstaat. Seither wird es nur noch genutzt, etwa, um den Parteienkampf oder militärische Themen zu umschreiben.

Das Staatsschiff Europa dürfte erstmals 1577 aufgetaucht sein, und zwar auf dem Frontispiz eines Buches von John Dee, "General and Rare Memorials pertayning to the Perfect Arte of Navigation" (Vgl. Abblidung 1 der PDF-Version). Der Ratgeber von Königin Elisabeth I. (1558-1603), spricht sich dafür aus, dass England seine Flotte ausbaut und neue weltweite Handelswege sucht, um so in bewehrte Konkurrenz zu den etablierten katholischen Welt- und Kolonialmächten Portugal und Spanien zu treten und seine nordamerikanischen Eroberungen zu schützen. Dee handelte vom britischen Standpunkt "Vom freien Meer", also vom Mare liberum des Niederländers Hugo Grotius (1609), eine Freihandelsdoktrin, welche die noch unterlegene britische Großmacht unterstützte. Später als Weltmacht wird sich die Doktrin, vor allem den Niederlanden gegenüber, zum Mare clausum von John Selden (1635) verkehren. Elisabeth steuert das Schiff, das groß auf seinem Rumpf den (griechischen) Schriftzug Europa trägt; auf ihm sind auch Europa und der Stier abgebildet. Auf dem Schiff sehen wir drei Personen, die, rot eingekleidet, wohl weltliche Würdenträger sind und die uns als königliche Ratgeber (counsellors) vorgestellt werden, also wohl Mitglieder des Privy Council gewesen sind. Die Masten tragen die Zeichen Christi.

Ein frühes Europaschiff - vielleicht das früheste. In ihm fließen alle symbolischen Dimensionen zusammen. Natürlich ging es hier nicht um die Visualisierung eines europäischen Einigungsgedankens, sondern um den Vorranganspruch der britischen protestantischen Monarchie. Die Herrschaft über die Meere und der freie Seehandel sollten diesen Vorrang begründen. Immerhin nehmen hier Freihandel und Europa erstmals in einem Schiffsbild Gestalt an.

In den USA symbolisierte das Staatsschiff die Ausgründung eines "Bundes", keines Einheitsstaats - gegen England und den stets gefährdeten nationalen Zusammenhalt; man lese nur die Schriften von Thomas Jefferson. Die Metapher wurde im Umfeld des Bürgerkriegs (1861-1865) in der Lyrik häufig verwendet, etwa von Henry Wadsworth Longfellow in "The Building of the Ship" (1849) oder später im Rückblick auf die Ermordung Abraham Lincolns von Walt Whitman in "O Captain! My Captain!" Wir finden die Metapher auch ausgeprägt in der Regierungszeit (1933-1945) des skipper Franklin D. Roosevelt, vor allem im Zweiten Weltkrieg. In den USA reicht diese den Staatszusammenhalt betonende Bildsprache, abgeschwächt, bis in die Gegenwart, bis zu Karikaturen der Präsidenten Bush oder von Obama.

Auch die frührevolutionären Niederlande bauten ab 1572 auf die (bei ihnen im 19. Jahrhundert verebbende) Tradition des Staatsschiffs. Noch vor den USA und Frankreich hatte hier die erste revolutionäre Staats(be)-gründung aus sieben reformierten abtrünnigen Provinzen heraus gegen das katholische Spanien stattgefunden. Wie in den USA ist dies eine Tradition, in der Staats- und Kirchenschiff eng beieinander lagen. In den Niederlanden war die Staatsgründung mit dem Reichtum einer Provinz, Holland, verbunden, ein Reichtum, der sich aus dem überseeischen Freihandel ergab und der mit dem Mare Liberum befestigt werden sollte. Um dieses "freie Meer", um die Grundfreiheit des Warenverkehrs, ging es in mehreren Seekriegen zwischen den Niederlanden und Großbritannien. Dort spielte das Flaggschiff "De Seven Provinciën" unter Michiel de Ruyter eine entscheidende Rolle in der Schlacht, welche die Briten "Raid on the Medway" nennen und bei der die Niederländer das englische Flaggschiff, die "Royal Charles", kaperten. Die Schlacht fand im Juni 1667 statt und markierte den Schlussteil des zweiten englisch-niederländischen Krieges. "De Seven Provinciën" wurde zur Inkarnation des Staatsschiffs des niederländischen Föderalismus, das noch 1950 jeder Niederländer kannte.

Im Gegensatz zu diesen Ländern verfügte die Landmacht Preußen nicht über die politische Metapher des Staatsschiffs. Das Sprachbild kam erst im Deutschen Reich in den 1890er Jahren mit John Tenniels "Punch"-Karikatur zu Otto von Bismarcks Absetzung ("Der Lotse geht von Bord", 1890) und mit der Durchsetzung der Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. auf, die gegen Großbritannien zielte. Seither hat sich dieses Bild in der deutschen Presse und Karikatur erhalten und wird auf Staatskrisen oder leichtgewichtigere Staats- oder Parteithemen immer wieder angewandt, allerdings selten im bundesstaatlichen Zusammenhang.

Wie gelangte das Bild des Staatsschiffs nach 1945 auf die supranationale europäische Ebene?

Europa war 1945 weitgehend zerstört; nur wenige Länder wie Schweden, die Schweiz und Portugal waren ausgenommen. Der Kontinent lag wirtschaftlich am Boden, nationale Volkswirtschaften bestimmten anders als vor 1914 wieder das Bild. Im Osten Europas begann die Sowjetunion, sich einen Block von Satellitenstaaten zu schaffen, der nach Westen ausgriff. Die USA hatten im April 1948 für vier Jahre den Marshallplan für Europa aufgelegt. Seine Hilfsorganisation war nicht bilateral, sondern in Paris über die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die OEEC (heute OECD), also über die 18 Gründungsländer hinweg, "vergemeinschaftet". In allen Ländern war die Losung "Nie wieder Krieg" politisch selbstverständlich. Das galt für die sozialdemokratischen wie für die herrschenden christdemokratischen Parteien, und es galt für die Europabewegung. Auch eine "Vergemeinschaftung" der Staatsgewalt lag in der Luft.

Im Frühjahr 1950 lobte der Marshallplan ein Preisausschreiben aus. Gesucht wurde das beste Poster über "Intraeuropäische Zusammenarbeit für einen besseren Lebensstandard". Am 9. Mai 1950 stellte der französische Außenminister Robert Schuman im Uhrensaal des Außenministeriums am Quai d'Orsay Jean Monnets Konzept zur europäischen Integration vor: die Montanunion, die Supranationalisierung der Schlüsselindustrien des Krieges, die 1951 beschlossen wurde und den ersten Schritt auf dem Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 bildete. Nur eine Woche später wurden im selben Saal in Anwesenheit Schumans die Preisträger des Marshallplan-Wettbewerbs verkündet. Der erste Preis fiel auf ein Staatsschiff, entworfen von Reyn Dirksen, einem niederländischen Graphiker (Vgl. Abbildung 2 der PDF-Version).

Dirksen bot, anders als viele Mitbewerber, rein ideelle Nahrung. Er bot mit seiner Anlehnung an das Staatsschiff eine neue, utopische und doch äußerst vertraute Lösung, die zwar den traditionellen Formen der Staatlichkeit ähnelte, aber doch aus lauter Einzelstaaten bestand, die Europa mit vereinten Kräften und dem richtigen Wind auf einen Kurs nach vorne, weg vom Osten und gen Westen bringen würde. Zum Anknüpfen an die vertrauten Schiffsmythen gehört es, einen klassischen Segelschiffstyp des 17. Jahrhunderts als Modell zu nehmen, nicht etwa ein Dampfschiff des 19. oder 20. Jahrhunderts. Dass sich Dirksen dabei an "De Seven Provinciën" anlehnte, mit dem Großbritannien 1667 eine entscheidende Niederlage beigebracht wurde, war der Jury und ihren - auch britischen - Mitgliedern aufgrund der Anonymisierung der Bewerbungen nicht bekannt. Das Poster kann unbeabsichtigt an US-Bildtraditionen anschließen, die der Verwaltungsbehörde des Marshallplans, der Economic Cooperation Administration, selbstverständlich waren. Dieses Schiffsbild wurde 1950 millionenfach in ganz Europa verbreitet und in der Folgezeit vielfach in der Selbst- und Fremddarstellung der EWG/EG/EU verwandt. So wanderte die Hoffnung auf Einheit, auf neuen Schutz vor äußerer Gefahr im Ost-West-Konflikt und auf neue Geborgenheit im Innern hinaus ins Jenseits des Nationalstaats. In dieser Transzendenz zum geschlossenen Nationalstaat mag man eine gewisse Parallele zur Geschichte des Kirchenschiffs sehen, die visuell wesentlich auf den Vatikan, also auf den transnationalen Raum verwies.

Wie wird Europa als Staatsschiff in der Bildsprache in Deutschland angesprochen?

Wir finden in der Bundesrepublik viele Karikaturen, die sich des Staatsschiffsmotivs bedienen. Beginnen wir mit dem stärksten Motiv: Europa wird als Staat gesehen. Die EU wird daran gemessen, ob sie den Hoffnungen gerecht wird, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg gelernt haben, an den Nationalstaat als umfassenden Lenker und Vorsorger zu stellen. Dieses Europa der dichten Hoffnung auf einen neuen (Sozial-)Staat jenseits des Nationalstaats finden wir anlässlich des Luxemburger Gipfels der EG-10 am 1. Juli 1981 dargestellt: Das schwankende Staatsschiff EU wird von drei Brechern überrollt, davon stellen zwei gemeinsame Krisen der europäischen Innenpolitik dar. Margaret Thatcher, Helmut Schmidt und François Mitterrand streiten miteinander, denn Mitterrand will sein projet sociale auf ganz Europa ausweiten, und "die Augen der Iren und Griechen, der Dänen und Italiener" leuchten auf (Vgl. Abbildung 3 der PDF-Version). Die alternative Überschrift könnte lauten: Wo bleibt "das soziale Europa"? Das Schiff ist als modernes Dampfschiff dargestellt. Der Zeichner betont so das (relativ) Neue der Herausforderung.

Mit dem Finanznotstand Griechenlands haben wir heute eine ähnliche, wenn auch engere Konstellation: Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat Erwartungen an eine "europäische Wirtschaftsregierung" und eine durchgreifende europäische Finanzmarktregulierung geschürt, ist dabei aber mit einer Abwehrstellung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen gegen diese europäische Staatsanmutung konfrontiert. Europa wird gewissermaßen auf der Kippe zwischen Staatenbund und Bundesstaat gesehen; das europäische Staatsschiff gibt das Wunschbild für die erforderliche bundesstaatliche Kipprichtung ab und dient zugleich dazu, das unentschiedene staatenbündlerische Getue zu kritisieren.

Kommen wir zu einem abgeschwächten Motiv: das Schiff Europa als Hoffnung auf ein irgendwie verfasstes, zukunftweisendes Gemeinwesen. Die Staatsanalogie ist auf die gemeinsame Verfasstheit, den gemeinsamen Werte- und Entwicklungshorizont Europas zurückgenommen. Das Staats- wird zum Verfassungsschiff. Die Karikatur (Vgl. Abbildung 4 der PDF-Version) porträtiert Merkels Besuch bei José Manuel Barroso, zwei Tage nach ihrer ersten Wahl zur Bundeskanzlerin 2005. Das nackte EU-Schiff ist auf zwei Felsen gelaufen: Die Europäische Verfassung vom Oktober 2004 war an ablehnenden Referenden in Frankreich (Mai 2005) und den Niederlanden (Juni 2005) gescheitert. Ein neuer Anlauf - der mit dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 erfolgte - war von vielen erhofft, aber noch nicht greifbar. Merkel möge es doch nun auf diesem leeren Segelschiff ohne Segel, auf diesem "Schiff an sich", richten. Bei diesem Schiffstyp geht es um die klassische Form des kleinen Einmastseglers, also um die mehrtausendjährige Form einer Herausforderung und einer Chance für Mobilität.

Das Verfassungsschiff mag man als eine Art Wundverband für leck geschlagene Nationalstaaten ansehen, die eigentlichen, die alten Staatsschiffe. Die Vorherrschaft solcher Nationalstaaten will uns jedenfalls das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 mit dem "Verfassungsverbund"-Denken nahe legen. Aus dieser Sicht ist das europäische Staatsschiff heute eine Fata Morgana, ein Zustand, der vielleicht in den 1970er Jahren erreichbar war. Dabei wäre das BVerfG heute selbst einem europäischen Verfassungsschiff gegenüber skeptisch, denn eine Europäische Verfassung erhöbe sich über einen Verfassungsverbund, repräsentierte sie doch erneut die Einheit, die, so das BVerfG, im Verbund aufzugehen habe.

Im schwächsten dieser Motive dient Europa nur noch als Beiboot für einen alles bestimmenden Nationalstaat, genau gesehen nicht einmal für einen Nationalstaat, sondern für einen Gliedstaat in einem Nationalstaat, hier für Bayern in der Bundesrepublik Deutschland. Im "Europa der Regionen" löst sich die mittlere Ebene des Nationalstaats auf, das europäische Band wird zur Beigabe eines "Regionenverbunds". Zudem wird dieses Beiboot hier nicht für Lenkungsaufgaben oder als Verfassungskitt in Anspruch genommen; Europa dient schlicht als Versorgungsanstalt für ausgebremste Regionalpolitiker (Vgl. Abbildung 5 der PDF-Version).

Der gewählte Schiffstyp ist der einer zwielichtigen Moderne: Haitzinger kopiert das Schiff, von welchem Bismarck 1890 von Bord geschickt wird: die kaiserliche Yacht von Wilhelm II., die "Hohenzollern I", ein damals modernes Dampfschiff - aber Tenniel hat es schon damals als Phantasieschiff gezeichnet, so dass es in der "Landmacht" Bayern des Jahres 2007 doppelt phantastisch wirken kann. Europa wird zum Unikum, das sich jeder herkömmlichen Darstellung, etwa nach Art des Staatsschiffs, entzieht. Das Bild des Staatsschiffs steht nur noch für den Versuch, das nicht Verstandene jenseits des Nationalstaats über alte Metaphern irgendwie zugänglich und fassbar zu machen. Es geht um ein Vereinfachungsbild, das uns in Fasson hält, uns noch erinnern lässt. Im Spiel ist bei diesen Zeichnungen eine zumindest hintergründige Vorstellung von einem irgendwie konturierten europäischen Gemeinwesen - und sei es nur als Endmoräne regionaler oder nationalstaatlicher Souveränität. "Was ist Europa?" Diese Frage wird, wie beiläufig auch immer, in solchen Zeichnungen immer mit beantwortet. Und damit wird ein möglicher Grundriss der europäischen Konstruktion bloßgelegt. Wie man die Bilder auch dreht und wendet, "Thema ist das ganze Schiff der Polis", also das gesamte und das vollständige Schiff - so schon der Sklave Sosias in Die Wespen.

Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Staatlichkeit im Wandel", Universität Bremen, Linzer Straße 9a, 28359 Bremen. E-Mail Link: stlf@zes.uni-bremen.de