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Sprache Editorial Politische Sprache: Zeichen und Zunge der Macht Sprache und Macht "Jedem das Seine" - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes Dialektentwicklung am Rande des Eisernen Vorhangs Vom Umgang mit Mehrsprachigkeiten Kiezdeutsch - ein neuer Dialekt

Sprache und Macht

Josef Klein

/ 16 Minuten zu lesen

Neben der Sprache der Mächtigen wird im Beitrag auch die Sprache der "Machtunterworfenen" analysiert. Es geht um Begriffskarrieren, Argumentationsmuster, semantische Strategien, rhetorische Anforderungen und kommunikationsethische Standards.

Einleitung

Mit Sprache bringen wir die Welt "auf den Begriff"; mit ihr regeln wir weitgehend die sozialen Beziehungen. Sprache ist Bedingung für Machtausübung und selbst eine Macht - Macht verstanden als "jener Faktor in einer sozialen Beziehung, der die Handlungsmöglichkeiten der Akteure strukturiert". Begriffe, in denen wir denken, prägen das Bild von der politisch-sozialen Wirklichkeit und beeinflussen Verhalten. Bei dieser "konzeptuellen" Funktion der Sprache handelt es sich um strukturelle Macht. Die Macht von Personen, Gruppen und Institutionen ist dagegen Akteursmacht, welcher Sprache als Instrument dient. Politisch wirkt Sprache also zweifach: als anonyme Struktur (langue) und als rhetorische Praxis (parole).



Mächtige haben das Sagen. Machtlose haben nichts zu sagen. Die Redensarten sind eingängig, verraten aber nur eine Teilwahrheit. So kann Nichtssagen auch Merkmal intransparenter Machtausübung sein. In Gesellschaften mit Wettbewerb um die politische Macht sichert Sprache - trotz Kaschierpraktiken - Transparenz und dient mehr dem Bemühen, Macht zu erwerben und zu verteidigen als sie auszuüben. Machtunterworfene können Mächtige abwählen. Wer sich in politischen Institutionen durchsetzen will, muss auch dort Mehrheiten organisieren. Darum ist politisches Reden und Schreiben in Demokratien weit überwiegend "persuasiv", das heißt, es ist darauf ausgerichtet, andere zu überzeugen und vorhandene Überzeugungen zu bestärken, eine Spielart von soft power.

Der "direktive" Sprachmodus, also das Vorschreiben und Anordnen, beschränkt sich weitgehend auf Gesetze und Verordnungen. Der kommunikative Vorlauf von Gesetzen ist allerdings persuasiv. Er besteht zum einen aus analytisch-erklärenden und argumentativ-empfehlenden Expertentexten, die darauf zielen, Entscheidungsträger zu überzeugen, zum anderen aus öffentlichen Diskursen - gegebenenfalls quer durch die Gesellschaft. Darum mischen sich im politischen Sprachgebrauch Fachbegriffe des jeweiligen Ressorts, Terminologie der politischen Institutionen, ideologisch aufgeladene Begriffe und Alltagsvokabular.

In Diktaturen dominiert der direktive Sprachmodus mit Anordnung, Befehl und Drohung. Selbst der Gestus der Propaganda ist zwar auf der Oberfläche persuasiv, in der Substanz aber direktiv. Denn für Machterhalt, der sich auf Gewaltmittel stützt, ist es unerheblich, ob Propaganda die Menschen wirklich überzeugt. Wichtiger ist, dass die eigene Ideologie- und Propagandasprache in der öffentlichen Kommunikation monopolisiert und zum Zulassungskriterium für Karrieren wird. Sprache kann aber auch zum Instrument der Machtlosen werden. Die Endphase der DDR ist dafür exemplarisch. In Demokratien gehört die Sprache des Protestes fest zur politischen Kommunikation.

Asymmetrische Machtverteilung schlägt sich in modernen Demokratien im Privileg zur Erzeugung bestimmter Texttypen (Gesetz, Regierungserklärung, Parteiprogramm etc.) und in ungleichen Zugangschancen zu den Medien nieder. Soll an die Stelle von Protest Partizipation treten, gilt es nicht zuletzt, diese Hürden zu überwinden.

Macht der Sprache

Sprache ist eine mächtige Lenkerin, die Denken, Empfinden und Werten in einer Weise vorprägt, von der man sich oft nur durch Erfahrung oder erhebliche geistige Anstrengung befreien kann. So hat Sprache einen Hang zu Gegensatzpaaren: richtig - falsch, Wahrheit - Lüge, positiv - negativ, Freiheit - Unfreiheit. Statt auf Abstufungen lenkt Sprache die Wahrnehmung primär auf Kontraste. Das fördert Deutlichkeit, aber auch Polarisierung und erschwert den Blick für Differenzierung und den Wert des Kompromisses.

Denken ist geprägt durch sprachliche Bilder, deren metaphorischer Charakter uns kaum bewusst ist ("verblasste Metaphern"). So wird Politik seit dem fortschrittsgläubigen Zeitalter der Aufklärung in Weg-Metaphern konzeptualisiert: große und kleine Schritte, Aufbruch, Stillstand, Bewegung, Blockade, Fortschritt, Rückschritt, Hindernis, Station, Ziel, Irrweg, Dritter Weg etc. Unverzichtbar ist die metaphorische Vorstellung vom Staat als eine Art kollektive Person - es sei denn, man hört auf, dem Staat als "juristischer Person" das zuzusprechen, was Personen ausmacht: zu handeln, verantwortlich zu sein, zu haften und Ähnliches mehr.

Vor allem Schlag- und Schlüsselwörtern wird das Potenzial zugetraut, Macht über Denken, Emotionen und Einstellungen gewinnen zu können und als Symbole mit Integrationskraft zu wirken. Komprimiert und lautstark drücken sich in ihnen Positionen zu (oft vage bleibenden) Sachverhalten aus. Schlüsselwörter sind sie, wenn sie für einen ganzen Diskurs stehen, zu dem ihre bloße Nennung den Zugang öffnet. Schlüsselwörter entstehen oft außerhalb der Politik. Politische Kräfte greifen sie auf und geben ihnen einen Drall im Sinne der eigenen Überzeugungen.

Exemplarisch ist die Karriere des Begriffs Globalisierung. Seit Jahrhunderten gibt es weltweite Wirtschafts-, Verkehrs- und Kommunikationsprozesse. Aber nie gab es dafür eine zusammenfassende Bezeichnung. Mit der Vervielfachung und Beschleunigung dieser Prozesse im ausgehenden 20. Jahrhundert wird das anders. Ist Globalisierung zunächst ein Fachterminus zur Bezeichnung einer Alternative zur traditionellen Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaft auf nationale Ökonomien, saugt die Vokabel bald neue Entwicklungen (Entstehung eines weltweiten Arbeitsmarkts nach Auflösung des Ostblocks, Siegeszug des Internet etc.) auf und wird in den 1990er Jahren zum politischen Schlagwort. Dessen Leistung besteht im Begreifen unterschiedlicher Entwicklungen als ein Phänomen und im Zerreißen von Illusionen nationalen Kirchturmdenkens.

Schlüsselwörter wie Globalisierung sind zweifach mächtig. Sie steuern die Wahrnehmung, und sie üben Druck auf die politisch Verantwortlichen aus. So ist die "Agenda 2010" eine (defensive) Reaktion auf "die Stürme der Globalisierung". Leicht wird übersehen, was Begriffe ausblenden, zum Beispiel, dass Globalisierung auch Folge politischen Handelns (Liberalisierung des Welthandels und internationaler Finanzgeschäfte) ist. Die Globalisierung, ein Wort ohne Plural, klingt wie eine mythische Macht. Das lähmt den Willen zu politischer Gestaltung, etwa bei Kapitalverkehr oder sozialen Standards. Erst der Schock der Finanzkrise 2008/2009 hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt.

Sprache kann ausschließende (exkludierende) Macht entfalten. So ist entscheidungsrelevante Expertensprache vielfach kaum in die breite Öffentlichkeit vermittelbar. Extrem exkludierend wirkt sich Sprache als Staatssprache aus, indem sie anderssprachlichen Ethnien politische Teilhabe erschwert.

Sprache der Mächtigen

Politische Akteure nutzen Sprache in der Öffentlichkeit als Instrument der Machtausübung oder zur Legitimierung ihres Machtanspruchs, indem sie institutionsspezifische Texte (Gesetz, Staatsvertrag, Parteiprogramm etc.) und Reden (Parlamentsrede, Parteitagsrede etc.) produzieren, politische Debatten führen, öffentliche Diskurse prägen, durch Berichterstattung und eigene Auftritte (Interview, Talkshow, Website etc.) massenmedial präsent sind und bei all dem versuchen, durch Begriffe, Argumente, Slogans und Appelle für ihre Positionen Zustimmung zu erzeugen. Dabei spielen rationale, emotionale und ethische Aspekte zusammen.

Dazu kommen nicht-öffentliche Situationen: persönliche Entscheidungsvorbereitung, institutionsinterne Sitzungen, Verhandlungen, diplomatischer Verkehr, Informationsgespräche etc. Dies ist mit spezifischen Anforderungen verbunden: Expertentexte verstehen, auswerten und gegebenenfalls selbst formulieren, aufmerksam zuhören, das Verhältnis zu Partnern dialogisch modellieren, Druck aufbauen, Kompromisse formulieren und anderes mehr.

Parlamentsreden

Kaum eine Berufsgruppe ist kommunikativ so vielfältig gefordert wie Politikerinnen und Politiker. Hier soll lediglich die klassische Situation der Parlamentsrede näher betrachtet werden. Historisch bedeutende Parlamentsreden - etwa Winston Churchills "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede oder Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960, mit der er die außen- und deutschlandpolitische Konfrontation der SPD mit der Adenauer'schen Politik der Westintegration beendete - betreffen immer einen für das Gemeinwesen zentralen Gegenstand. Sie sind Kristallisationspunkte neuen Denkens oder leisten in angespannter, zur Entscheidung drängender Lage maßgebliche Orientierung. Präzise, packend und stringent formulierte Argumentation, spannungsreicher Aufbau, der Mut, Unbequemes und Überraschendes zu sagen - gegebenenfalls nüchtern flektierend, gegebenenfalls wuchtig und anschaulich, manchmal mit einem Kernsatz, der zum geflügelten Wort wird - das macht die große Rede aus. Formale rhetorische Mittel werden da eher unauffällig verwendet.

Es ist unfair, mit solcher Elle die alltägliche Minister- oder Abgeordnetenrede zu messen. Selten geht es um die Substanz des Gemeinwesens. Die Rede ist eine Station in einem vielgliedrigen parlamentarischen Verfahren. Die wichtigen Argumente sind in der Regel schon vorgetragen und öffentlich bekannt. Da bleiben Spannung und Überraschung aus. In der Schlussdebatte weiß man, wie welche Fraktion abstimmen wird. Die Rede als Ringen um unentschlossene Abgeordnete anzulegen wäre eine Farce. Die Plenardebatte mag als ganze die Funktion eines institutionellen Brennpunkts öffentlicher Legitimierung politischer Entscheidungen haben - für die Rednerinnen und Redner wird ihr Beitrag zum Schaulaufen vor der eigenen Fraktion, der die Debatte auch zur Selbstvergewisserung dient und die gern applaudiert, wenn der politische Gegner auf die Hörner genommen wird.

Reden im Plenum erreichen nicht einmal die breite Öffentlichkeit. Bestenfalls zitieren die großen Medien wenige Sätze und fassen selbst Regierungserklärungen rigide zusammen. Darum liegt die Konzentration der Redner darauf, einige markante Sätze einzubauen, welche die Aussicht bieten, zitiert zu werden. Wo Rede primär über Zusammenfassungen an die Adressaten gelangt, sind persuasive Effekte inhaltlich bedingt. Rhetorische Ästhetik ist da nachrangig.

Sprache im Wahlkampf

Für Wahlkämpfer kommt es darauf an, für ihre Botschaft unter Konkurrenzbedingungen Aufmerksamkeit, Interesse und Überzeugungskraft zu gewinnen. Das Gros derer, um deren Stimmen es geht, sind keine Experten. Da muss die Komplexität herrschaftssprachlicher Textwelten der wissenschaftlichen Gutachter, Verbandsexperten, Spitzenbeamten und Ressortpolitiker heruntergebrochen werden auf das Niveau nicht nur von "Bildungsbürgern", sondern von Millionen Boulevardzeitungslesern. Die Konzentration auf zentrale, knapp gefasste Botschaften ist gefragt. Kampagnensprache ist um Allgemeinverständlichkeit bemüht, zu Mobilisierungszwecken emotional aufgeladen und zur Abgrenzung gegen die politische Konkurrenz tendenziell polarisierend. Je breiter das angesprochene Adressatenspektrum ist, desto größer ist die Gefahr, durch Festlegung zugunsten bestimmter Gruppen andere zu verschrecken. Vagheit und Nähe zur Phrasenhaftigkeit sind nicht selten die Folge.

Gern wird deutschen Parteien die Wahlkampagne des US-Präsidenten Barack Obama als Vorbild empfohlen. Allerdings setzt schon das partizipatorische US-Verfahren der Kandidatenwahl andere Bedingungen. Dennoch lohnt sich ein Blick auf Obamas Sprachstrategie. Die Kampagne war als Bürgerbewegung für ein hohes Ziel inszeniert ("Movement for change"). Selbstbewusstsein und Identifikationsbereitschaft der Unterstützerinnen und Unterstützer wurden konzentriert angesprochen: im kühlen Pathos der Reden für das große Projekt Change, mit gezieltem Einsatz der - Kandidat und Unterstützer vereinenden - Pronomina we/our in zentralen Slogans ("Yes we can", "Change we can believe in") und E-Mail-Botschaften ("This is our time") sowie in der Inszenierung von Freundschaft zu Millionen E-Mail-Empfängern durch vertrauliche Anrede (Dear + Vorname) und Unterschrift (Barack).

Diskurse: Argumentation und Schlagwortnetze

In modernen Demokratien wird das Machtinstrument Sprache durchweg persuasiv verwendet. Ein zentrales Mittel solch "weicher Steuerung" ist Argumentation. Dominant ist dabei ein komplexes Argumentationsmuster zur Legitimierung politisches Handelns. Sein Kernbestand sind vier sachlogisch miteinander verknüpfte Arten von Gründen bzw. Topoi: 1) situationsbezogene Daten (Datentopos); 2) Situationsbewertungen (Motivationstopos); 3) Prinzipien, Werte, Normen (Prinzipientopos); 4) Zielsetzungen (Finaltopos).

Sie bilden die Prämissen, aus denen sich das Ja zu den favorisierten politischen Maßnahmen quasi als logische Schlussfolgerung ergeben soll. In "Reinkultur" findet sich das Muster im Begründungsteil von Gesetzentwürfen. In anderen Text- und Redetypen überlagern die Topoi einander bisweilen. In Kurztexten und Statements wird das Muster meist partiell realisiert.

Wenn ein Legitimationsdiskurs zum Allgemeingut werden soll, sind ausführlich formulierte Argumente zur Speicherung im Gedächtnis wenig geeignet. Das leistet die Komprimierung von Argumenten in Schlagwörtern. Das Schlagwortrepertoire erfolgreicher Diskurse oder Kampagnen verteilt sich daher nicht selten auf die Glieder des skizzierten Argumentationsmusters - so im marktliberalen Reform-Diskurs, der ab Mitte der 1990er Jahre das öffentliche Klima in Deutschland weithin dominierte. Mit dem Schlagwort Globalisierung als Ausgangspunkt wurde von wirtschaftnaher Seite kampagnenartig ein Schlagwortnetz etabliert, das neben wenigen neutral verwendeten Begriffen des Datentopos etliche Positiv-Begriffe (+) für die eigene Position und einige Negativ-Begriffe (-) für Abgelehntes enthält (vgl. Tabelle in der PDF-Version).

Sofern beim Schaffen dieses Deutungsrahmens diskursstrategische Planung eine Rolle gespielt hat, handelt es sich um eine Kombination dessen, was kommunikationsstrategische Praktiker framing und wording nennen - womit wir fast beim Thema des nächsten Kapitels wären.

Manipulation? Strategie und Ethik politischer Sprache

"Manipulation durch Sprache" ist eine populäre Verdächtigung. Allerdings ist Manipulation selbst ein Schlagwort. Um seriöse sprachkritische Maßstäbe zu gewinnen, ist es notwendig, die Bedingungen des politischen Gebrauchs der Sprache zu betrachten. Angesichts von Wettbewerb und Konfrontation mit der politischen Konkurrenz, angesichts der Abhängigkeit von der Akzeptanz bei Wählerinnen und Wählern und wichtigen gesellschaftlichen Gruppen und angesichts unberechenbarer Eventualitäten stehen Politiker unter dem Druck einer parteistrategischen Kommunikationsmoral. Die lässt sich in folgende Maximen fassen: Stelle die eigene Position positiv dar! Stelle die gegnerische Position als ablehnenswert dar! Demonstriere Leistungsfähigkeit und Durchsetzungskraft! Mache dir durch deine Rede in relevanten Gruppen möglichst viele geneigt, vor allem aber möglichst wenige zu Gegnern! Halte dir Operationsspielräume offen!

Allerdings: Wer sich ausschließlich an diesen Geboten orientiert, erleidet Schiffbruch. Denn auch an politische Kommunikation werden Maßstäbe angelegt, die durch die Maximen einer universal geltenden Kommunikationsethik bestimmt sind: Rede informativ! Rede wahrhaftig! Rede wohlbegründet! Rede zum Wesentlichen! Rede klar und verständlich!

Ohne die Geltung dieser Prinzipien wäre - nicht nur politische - Kommunikation kaum möglich. Sie sind deren rationale Basis. Politischer Wettbewerb unter der Bedingung demokratischer Öffentlichkeit und Transparenz sichert, dass die Akteure auch im eigenen Interesse kommunikationsethische Mindeststandards einhalten. Lässliche "Sünden" gegen die Gebote der Kommunikationsethik mögen ignoriert werden. Gravierende aber können Amt und Karriere kosten, wie etliche Rücktritte von Franz Josef Strauß (Spiegel-Affäre 1962) bis Franz Josef Jung (Tanklaster-Bombardement 2009) zeigen.

Die Komplexität politischer Sachverhalte lässt den Verantwortlichen häufig genügend Spielraum, zwar nicht zu lügen, aber es bei Teilwahrheiten zu belassen. Es kann über Wesentliches informiert und dennoch einiges Relevante übergangen werden. Man kann sich vage ausdrücken, um die Festlegung auf eine schädliche Lesart zu vermeiden, oder man kann globale Versprechen machen, zum Beispiel "die Steuern zu senken", um bei unterschiedlichsten Adressatengruppen Hoffnung zu wecken, obwohl man ernsthaft nur an ganz bestimmte denkt.

Zu den kommunikationsethisch zweifelhaften Praktiken gehört das Spiel mit Wissensdefiziten. Ein berühmter Fall ist der CDU-Slogan im Bundestagswahlkampf 1976: "Freiheit statt Sozialismus". Hier versuchte die Union, fehlende Kenntnisse über die grundlegende Differenz zwischen demokratischem Sozialismus, zu dem sich die SPD in ihren Programmen bekennt, und dem leninistischen Kommunismus, der vor allem in der DDR als Sozialismus bezeichnet wurde, zu nutzen, um durch den übereinstimmenden Ausdruck Sozialismus Angst vor den Sozialdemokraten als verkappte Kommunisten zu schüren.

Da Politiker wissen, dass Glaubwürdigkeit ein hohes Gut ist, gehört es zum rhetorischen Rüstzeug, kommunikationsethische Verstöße zu kaschieren. So wird bei Problemen mit der Wahrhaftigkeit zum Beispiel gerne Unwissen vorgegeben, mangelnde Fundiertheit etwa durch Anknüpfung an beliebte Stereotype überspielt und werden Verstöße gegen Informativität und Relevanz durch geschicktes Ausweichen verborgen. Im Fernsehen, vor allem in Talkshows, werden Kaschierstrategien begünstigt durch die Flüchtigkeit des gesprochenes Wortes, Ablenkung durch das Bild und TV-rhetorische Anforderungen wie Schlagfertigkeit, Knappheit, Gags, Provokationsresistenz, Ausspielen sympathischer Imagequalitäten, nonverbale Souveränitätssignale und Ähnliches mehr.

Kritische Öffentlichkeit wendet sich nicht nur gegen personell identifizierbare Kommunikationssünden. Auch Wörter, die ihr unethisch erscheinen, sind Gegenstand politischer Sprachkritik, insbesondere Euphemismen, in denen "ethisch-emotionale Neutralität suggeriert (wird), um zugrunde liegende ethisch-emotionale Problemlagen zu verdecken". So beinhaltet der Begriff ethnische Säuberung ein zynisches Ablenkungsmanöver von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem die gewaltsame, mit Brandschatzung, Vergewaltigung und Mord ins Werk gesetzte Vertreibung großer Menschengruppen per Metapher in die Vorstellung der Beseitigung von Schmutz (Säuberung) transferiert wird.

In den USA ist in den 1980er Jahren eine Bewegung zur Durchsetzung diskriminierungsfreier Sprache zugunsten benachteiligter Gruppen (political correctness, kurz: PC) entstanden. Die Auswirkungen blieben in Deutschland aus zwei Gründen geringer. Erstens hat Deutschland nicht das US-amerikanische Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung der Afroamerikaner. Zweitens gibt es hier seit der frühen Nachkriegszeit, insbesondere im Anschluss an Victor Klemperers "Lingua Tertii Imperii" (1947) und "Das Wörterbuch des Unmenschen" von Dolf Sternberger, Wilhelm E. Süskind und Gerhard Storz (1957) eine sprachkritische Tradition gegenüber NS-infiziertem Sprachgebrauch und daher auch - quer über die im Bundestag vertretenen Parteien - eine große Scheu, des rassistischen Sprachgebrauchs beschuldigt zu werden.

Als PC-Aktivisten in den späten 1980er Jahren begannen, das bis dahin viel gebrauchte Wort Asylant wegen seiner angeblichen Nähe zu abschätzigen Wörtern wie Bummelant und Querulant als rassistische Neubildung zu kritisieren, war es nach kurzer Zeit im Deutschen Bundestag nicht mehr zu hören und wurde durch Asylbewerber und Asylsuchende ersetzt, obwohl das Wort seit mehr als hundert Jahren nachweisbar ist und sowohl historisch als auch funktional wenig mit Bummelant und Querulant, aber viel mit den eher positiven Begriffen Migrant und Emigrant gemeinsam hatte. Erst durch die Kampagne ist Asylant im Nachhinein zum "Unwort" geworden. Mehr der linguistisch informierten Frauenbewegung als PC-Akteuren ist die Zurückdrängung des Frauen benachteiligenden "generischen Maskulinums" zu verdanken, so dass Frau Merkel sich heute nicht mehr Bundeskanzler nennen muss, sondern Bundeskanzlerin ist.

Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenz

Trotz universeller Geltung der kommunikationsethischen Maximen fehlt im Bereich der Politik ein verbindlicher Maßstab für ihre Erfüllung. Denn vielfach ist strittig, was wahr, richtig, wohlbegründet, informativ und relevant ist. Der demokratische Wettbewerb um Macht besteht im Kampf um die Durchsetzung des eigenen Deutungsrahmens, der eigenen Handlungskonzepte und daher der eigenen Begriffe in den Köpfen der Adressaten. Die wichtigsten Spielarten sind der Kampf um die "richtige" Bezeichnung politischer Sachverhalte (Bezeichnungskonkurrenz) und der Kampf um die "richtige" Bedeutung politischer Begriffe (Bedeutungskonkurrenz).

Bei der Bezeichnungskonkurrenz geht es darum, einem Sachverhalt durch die gewählte Bezeichnung die eigene Deutung aufzuprägen und diese gegen konkurrierende Bezeichnungen zu behaupten oder durchzusetzen. So werden Selbstmordattentäter in weiten Teilen der Welt mit dem stigmatisierenden Wort Terroristen bezeichnet, von militanten Islamisten dagegen mit deren Ehrentitel Märtyrer.

Ein weiteres Beispiel für Bezeichnungskonkurrenz bietet die Auseinandersetzung um die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Gesundheitsminister Philipp Rösler und die FDP nennen ihr Konzept Gesundheitspauschale und hoffen, dass der Begriff Gesundheit positive Vorstellungen hervorruft, während die Gegner von Kopfpauschale sprechen und dabei auf die assoziative Nähe zu Negativbegriffen wie Kopfgeld, Kopfsteuer, Kopfjäger und Ähnliches setzen.

Bedeutungskonkurrenz liegt vor, wenn unterschiedliche Gruppierungen denselben Ausdruck in unterschiedlichen Bedeutungen verwenden. Während Freiheit in der Programmtradition der SPD primär die Möglichkeit bedeutet, selbstbestimmt zu leben und nicht bedrückt zu sein von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not und Furcht - wofür nach Ansicht der SPD vor allem der Staat zu sorgen hat -, steht im Zentrum des liberalen Freiheitsbegriffs der FDP ein starker Impetus gegen staatliche Begrenzungen des Handelns der Bürger und darum die Forderung nach "weniger Staat". Kontrahenten pflegen die gegnerische Bedeutung negativ zu interpretieren. So unterstellen Sozialdemokaten der FDP gerne, dass diese mit Freiheit "in Wahrheit" Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Freiheit auf Kosten der Arbeitnehmer, der Umwelt etc. meine, während die FDP der SPD zu unterstellen pflegt, es mit der Freiheit "in Wahrheit" nicht sehr ernst zu meinen, weil sie diese von einer sozialen Gerechtigkeit abhängig mache, die durch den Begriff der Gleichheit definiert werde, was mit Freiheit unvereinbar sei.

Sprache der Machtunterworfenen: Protest und Partizipation

Protestsprache ist vor allem dann eine Machtressource, wenn sie in Demonstrationen und Großkundgebungen kollektiv artikuliert wird. Ihre Medien sind Transparente, Sprechchöre und Lautsprecher. Dazu kommt, wenn möglich, Berichterstattung in den Massenmedien. Der persuasive Sprachmodus des Protests hat eine spezifische Ausprägung: kritisierend und nachdrücklich fordernd. Protest ist der Ort des kraftvollen, gegebenenfalls provokativen Kurzsatzes, der im Gedächtnis haften bleibt: als Parole auf Transparenten und Buttons ("Atomkraft? Nein danke"), als Sprechchor ("Wir sind das Volk!") oder als Kernsatz des Hauptredners ("I have a dream").

Die Sprache des Protestes pflegt den Kontrast zur Sprache der politischen Institutionen. Stets findet man die Sprache der Lebenswelt der Protestierer. Sprachroutinen der "politischen Klasse" werden gern in witzig-sarkastischen Sprachspielen aufgespießt. Demonstrationen, Kundgebungen, Besetzungen, Blockaden, Lichterketten etc. sind vielfach Teil von Kampagnen, in denen die zentralen Parolen als verknüpfende Slogans und Erkennungsmarken fungieren. Flankierende Textsorten sind Leserbriefe und Testimonial-Anzeigen in der Presse, neuerdings Weblogs: In Italien hat eine Gemeinschaft von Bloggern im Dezember 2009 mehrere hunderttausend Menschen in Rom zur Demonstration gegen Ministerpräsident Silvio Berlusconi zusammengebracht.

Wahlen und Volksentscheide sind Formen institutioneller Partizipation. Wenn Volksabstimmungen aus der Zivilgesellschaft heraus initiiert werden, haben die Machtunterworfenen "selbst das Wort". Solche Kampagnen gleichen in Vielem den Wahlkampagnen von Politkern. Wo direktdemokratische Verfahren noch nicht selbstverständlich sind, weisen Texte der Initiatoren gern Stilelemente des vorpartizipatorischen Protests oder des demokratietheoretischen Diskurses auf. So lautete der Slogan der Initiative gegen die Schließung des Berliner Flughafens Tempelhof 2008: "Alle Macht geht vom Volke aus". Zu den institutionellen Partizipationsmöglichkeiten zählt die Bürgerbeteiligung bei kommunalen Planungsmaßnahmen. Dort überwiegt unverblümte Alltagssprache und Emotionsrhetorik.

In funktionierenden Demokratien muss zivilgesellschaftlicher Protest die Chance haben, sich politisch durchzusetzen, gegebenenfalls als eine Art informelle Partizipation. Am spektakulärsten war in Deutschland der Weg des Umweltdiskurses von der zivilgesellschaftlichen Protestbewegung über die Gründung und Etablierung der Partei Die Grünen bis zur Integration des Themas in die Politik aller Parteien und zur vielfältigen Manifestation in Gesetzgebung und allgemeinem Bewusstsein. Im deutschen Wortschatz hat sich das breit durchgesetzt: Zum einen fachsprachlich in umweltwissenschaftlichen, umwelttechnischen und umweltrechtlichen Fachterminologien, zum anderen politiksprachlich in Streitvokabeln um AKWs und CO2-Schleudern und schließlich alltagssprachlich in einem ausgedehntem Vokabular von Müll trennen bis Klimakatastrophe und zahllosen Fügungen, die mit bio-, öko- oder umwelt- beginnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gerhard Göhler/Ulrike Höppner/Sybille De La Rosa, Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Weiche Steuerung. Studien zur Steuerung durch diskursive Praktiken, Argumente und Symbole, Baden-Baden 2009, S. 12.

  2. Vgl. ebd.

  3. Vgl. Joseph S. Nye, Soft Power, New York 2004.

  4. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 19944, S. 349-467.

  5. Vgl. George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago-London 1980, S. 3.

  6. Vgl. Reinhart Koselleck, Fortschritt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 351 - 423.

  7. Vgl. Wolf-Andreas Liebert, Zu einem genetischen Konzept von Schlüsselwörtern, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, (2003) 38, S. 67.

  8. Gerhard Schröder, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, 14. 3. 2003.

  9. Vgl. Sybille De La Rosa/Dorothea Gädeke, Steuerung durch Argumente, in: G. Göhler u.a. (Anm. 1), S. 74 - 137.

  10. Vgl. Josef Klein, Komplexe topische Muster. Vom Einzeltopos zur diskurstyp-spezifischen Topos-Konfiguration, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, S. 626ff.; ahnlich Christoph Kuhlmann, Die öffentliche Begründung politischen Handelns, Opladen 1999, S. 118ff.

  11. Vielfach treten zu dieser Konstellation weitere Argumenttypen hinzu, insbesondere Hinweise auf Konsequenzen des politischen Handelns oder Nicht-Handelns (Konsequenztopos), die Betonung von Relevanz oder Irrelevanz (Relevanztopos), das Anführen von Beispielen (Exemplumtopos) sowie die Berufung auf Autoritäten (Autoritätstopos).

  12. Belege finden sich reichlich in fast allen großen deutschen Tageszeitungen, politischen Wochenmagazinen und der Wirtschaftspresse, in Texten insbesondere der FDP und der CDU, vor allem aber in Texten der großen Wirtschaftsverbände und wirtschaftsnaher Organisationen wie der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft".

  13. Es handelt sich um die seit 1968 in einem Mimeo weltweit kursierenden, erst 1975 offiziell publizierten "Grice'schen Maximen" in leichter Umformulierung. Vgl. Herbert Paul Grice, Logic and Conversation, in: Peter Cole/Jerry L. Morgan (eds.), Syntax and Semantics, Vol. 3: Speech Acts, New York-San Francisco-London 1975, S. 41 - 58. Offenbar davon beeinflusst scheint Habermas' 1971 erstmals veröffentlichtes kommunikationsethisches Konzept. Vgl. Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./Niklas Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 101 - 141.

  14. Vgl. H. P. Grice (Anm. 13), S. 48.

  15. Melani Schröter/Björn Carius, Vom politischen Gebrauch der Sprache. Wort, Text, Diskurs, Frankfurt/M. 2009, S. 41.

  16. Vgl. Josef Klein, Bewertendes Reden über Migranten im Deutschen Bundestag, in: Matthias Jung/Martin Wengeler/Karin Böke (Hrsg.), Die Sprache des Migrationsdiskurses, Opladen 1997, S. 241 - 260.

  17. Vgl. SPD, Hamburger Programm, Berlin 2007.

  18. Vgl. FDP, Wiesbadener Grundsätze, Berlin 1997.

Prof. Dr. phil., geb. 1940; lehrt Politolinguistik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin; ehem. Präsident der Universität Koblenz-Landau; Obersteinstraße 79, 52223 Stolberg/Rhld.
E-Mail: E-Mail Link: josefklein987@aol.com