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Minoritäten im Strafvollzug | Strafvollzug | bpb.de

Strafvollzug Editorial Vom Sinn des Strafens - Essay Strafvollzug in Deutschland - rechtstatsächliche Befunde Strafvollzug oder Haftvermeidung - was rechnet sich? Jugendstrafvollzug Psychiatrische Maßregelbehandlung Gefangenensubkulturen Minoritäten im Strafvollzug

Minoritäten im Strafvollzug

Joachim Walter

/ 17 Minuten zu lesen

Minoritäten sind in den Gefängnissen überrepräsentiert. Die Gründe liegen in unterschiedlichem Verhalten, unterprivilegiertem rechtlichen Status sowie unterschiedlicher Behandlung durch die Kontrollinstanzen und Massenmedien.

Einleitung

In den Gefängnissen Europas sind Angehörige von Minoritäten drastisch überrepräsentiert; besonders diejenigen, deren rechtlicher und gesellschaftlicher Status unterprivilegiert ist: Algerier in Frankreich, Türken und Russlandaussiedler in Deutschland, Afrikaner und Roma in Italien, Menschen vom Balkan in der Schweiz. Die erhebliche Überrepräsentation von Ausländern im deutschen Strafvollzug lässt sich aus der Tabelle (vgl. Tabelle der PDF-Version) ablesen, die deren Anteil im Strafvollzug demjenigen in der Bevölkerung gegenüber stellt. Gemessen an ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung sind Ausländer im Strafvollzug um etwa das Zweieinhalbfache überrepräsentiert. Aussiedler, ebenfalls Einwanderer, die jedoch in der Regel die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sind in diesen Zahlen nicht enthalten. Auch sie sind im Strafvollzug etwa um das Zweinhalb- bis Dreifache überrepräsentiert. Nicht enthalten sind schließlich die eingebürgerten ehemaligen Ausländer und andere Menschen mit Migrationshintergrund.


Nun könnte man die Überrepräsentation von Minoritäten im Strafvollzug damit erklären wollen, dass sie eben häufiger Straftaten oder noch schwerere Delikte als Einheimische begehen. Diese Hypothese wird aber von nahezu allen Forschern verworfen. Schon die Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren von eher gemäßigten zu inzwischen sehr hohen Inhaftierungsraten der Ausländer widerspricht dieser Annahme, ebenso internationale Befunde. In Deutschland (nur alte Bundesländer) hatte zwischen 1990 und 1999 die Zahl der deutschen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten um 8,9 % zugenommen, die der Nichtdeutschen dagegen um 161,7 %. Dieser enorme Zuwachs konnte nicht mit erhöhter polizeilicher Registrierung erklärt werden. Denn im Zeitraum von 1990 bis 1998 war ihre Tatverdächtigenbelastungsziffer (Häufigkeit polizeilicher Registrierung als Tatverdächtige pro 100 000 der Bezugsgruppe) um 2 % gefallen, aber ihre Verurteiltenziffer (Verurteilte auf 100 000 der Bezugsgruppe) um 22 % und die Gefangenenziffer (Strafgefangene pro 100 000 der Bezugsgruppe) gar um 73,6 % gestiegen. Umgekehrt war bei den Deutschen die Tatverdächtigenbelastungsziffer zwar deutlich um 13,8 % gestiegen, die Verurteiltenziffer dagegen nur um 9,8 %; die Gefangenenziffer war sogar um 0,2 % gefallen.

Die vermutete Belastung mit schwereren Straftaten hätte sich nach der Logik der üblichen Strafzumessung an der Art und Zahl der Vorstrafen zeigen müssen. Eine in Niedersachsen und Schleswig-Holstein für die Jahre 1990/91 und 1997/98 durchgeführte Erhebung ergab jedoch das Gegenteil: Die Vorstrafenbelastung deutscher Angeklagter war durchweg erheblich höher als diejenige der Nichtdeutschen. Obgleich also Nichtdeutsche mit geringfügig fallender Tendenz polizeilich registriert worden waren und obwohl sie eine geringere Vorstrafenbelastung aufwiesen als Deutsche, wurden sie deutlich häufiger sowie zu längeren Strafen verurteilt - und noch viel häufiger inhaftiert.

Aus noch zu erörternden Gründen spricht alles dafür, dass für Zuwanderer ein erhöhtes Kriminalisierungsrisiko besteht und dass sie strafrechtlich schärfer verfolgt werden als Deutsche. In einer Untersuchung von Pfeiffer u. a. zeigte sich für Ausländer ein doppelt so hohes Risiko der Verurteilung zu unbedingter Freiheitsstrafe. Auch waren die auf 100 Verurteilte entfallenden Haftjahre bei Nichtdeutschen eineinhalbmal so hoch wie bei Deutschen. Die referierten Daten spiegeln also keineswegs nur die Entwicklung der schweren (und deshalb sozusagen "gefängnispflichtigen") Kriminalität wider. Ein Anstieg oder Rückgang der Gefangenenzahlen steht meistens nicht in Zusammenhang mit steigender oder sinkender Kriminalität, sondern mit rechtlichen, justiziellen oder anderen gesellschaftlichen Veränderungen. Daher zeigen Vergleiche der Entwicklung der registrierten Kriminalität in zahlreichen Ländern auch keinen Zusammenhang mit den Gefangenenraten. Vielmehr demonstrieren die Daten in erster Linie, bei welchen Personengruppen und in welchem Umfang die Gerichte eine Reaktion mit der härtesten Sanktion, nämlich Freiheitsentzug, für erforderlich gehalten haben. Bezogen auf Minoritäten erinnert dies an Forschungsergebnisse der Chicago-Kriminologen in den USA, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgestellt hatten, dass die jeweils neueste Einwanderergruppe von den Kontrollinstanzen als das Hauptproblem betrachtet wurde und in die Wohnquartiere der inzwischen zum Teil abgewanderten vorherigen "Problemgruppe" und auch auf die Gefängnisplätze nachrückte. Mit Müller-Dietz lassen sich die Befunde aber auch so interpretieren, dass die Verfeinerung der Kriminalitätskontrolle (im Sinne einer Liberalisierung und Differenzierung der Sanktionen und dem Vorrang diversiver Strategien) nur für einheimische Bürger Platz greift, während für die großen Ströme der Migranten, vor allem der Wirtschaftsflüchtlinge aus armen Ländern, der Freiheitsentzug an Bedeutung gewinnt.

Gründe für die überproportionale Inhaftierung von Minoritäten

Die Gründe für die überproportionale Inhaftierung der Angehörigen von Minoritäten könnten liegen

  1. in ihrem unterschiedlichen (möglicherweise auch strafbaren) Verhalten sowie unterschiedlicher Lebenssituation,

  2. in unterschiedlichem rechtlichen Status,

  3. in unterschiedlicher tatsächlicher Behandlung durch die Gesellschaft und ihre Kontrollinstanzen einschließlich der Berichterstattung der Massenmedien.

Unterschiedliches Verhalten, unterschiedliche Lebenslagen

Nur vom Üblichen abweichendes Verhalten führt zu Auffälligkeit. Das Altgewohnte, "Normale", vermag unsere Aufmerksamkeit nicht zu erreichen. Abweichendes Verhalten stellt keineswegs immer, aber doch nicht selten auch einen Verstoß gegen Strafrechtsnormen dar. Es kann auf vielfältigen Bedingungen beruhen:

Aus einem anderen kulturellen Hintergrund folgen Verhaltensweisen, die, im Herkunftsland erlernt, dort vielleicht nicht abweichend, sondern üblich, funktional oder sogar lebensnotwendig waren, jedoch in einem hoch entwickelten und dicht besiedelten Land wie Deutschland auffällig sind. Zur Auffälligkeit führen kann das Tragen fremder Kleidung wie Kaftan oder Kopftuch, eine andere Religion oder Weltanschauung, ungewohnte Begrüßungs- und Umgangsformen, exotische Musik, andersartige Koch- und Essgewohnheiten, Konsum fremdartiger Rauschmittel usf.

Von großer Bedeutung dürfte die sozio-kulturelle Situation sein, in der sich die Migranten wiederfinden. Sie ist oft gekennzeichnet durch spärliche Kontakte zu Einheimischen und führt so nicht selten in Segregation oder Marginalisierung. Darüber hinaus haben viele Migranten in Deutschland Diskriminierung erlebt. Diese Erfahrung kann schon bei der Einreise oder im Umgang mit Behörden gemacht worden sein, erst recht im Alltag. Im Schulsystem besteht die Gefahr, dass sie die Erfahrung von strukturellem Rassismus machen und in der Vorstellung bestätigt werden, dass "Ausländern" ein unterer Rang in der Sozialordnung zukommt. Wer aber solche Ablehnung erfahren hat, wird geneigt sein, sich in vertrautere Umgebungen zurückzuziehen, statt auf Integration hinzuarbeiten. Manchmal genügt dazu bereits die Kenntnis der abwertenden Einschätzung der eigenen Gruppe in der Dominanzkultur. Im ungünstigen Fall kann solcher Rückzug in die eigene ethnische Gruppe zu einer Re-Ethnisierung und aggressivem Verhalten nach außen führen (z.B. "Muslim Fighters", "Russen").

Von Einwanderern wird eine sozio-kulturelle Integrationsleistung besonders schwieriger Art erwartet. Es sind nicht nur Defizite zu verkraften, die mit der Auswanderung einhergehen, also Verlust der vertrauten Umgebung, wichtiger Bezugspersonen, zuweilen auch von Haustieren oder lieb gewonnenen Objekten. Zur zu bewältigenden Fremdheit kommt hinzu, dass Immigranten meist ihren früheren beruflichen Status verlieren und sich durch den Stress des Umzugs und die ungünstige Wohnsituation in der Übergangszeit überlastet fühlen. Andererseits ist zu beobachten, dass junge männliche Migranten, die in der Pubertät eingewandert sind, ihre Desorientierung mit Alkohol- und Drogenkonsum oder Gewaltverhalten zu kompensieren suchen. Aus psychologischer Sicht wird Drogengebrauch bei Migranten ohnehin als eine Symptombildung verstanden, welche die migrationsspezifische Problematik par excellence symbolisiert. Abweichendes Verhalten kann also direkte oder indirekte Folge der Migration bzw. der Fremdheit sein. Bei vielen Diskussionen steht dies im Vordergrund, weil man davon ausgeht, dass der Abbruch bisheriger Beziehungen und die den Migranten abverlangten Integrationsleistungen zu einer hohen Belastung führen und damit das Kriminalitätsrisiko erhöhen. Dies muss aber, wie das Beispiel der Arbeitsmigranten der 1960er und 1970er Jahre gezeigt hat, nicht immer der Fall sein. Seinerzeit war die Kriminalitätsbelastung der "Gastarbeiter" deutlich geringer als die der Einheimischen. Als Grund dafür wird angesehen, dass Arbeitsmigranten in ihren Ansprüchen bescheidener sind als Einheimische und sich daher leichter mit strukturellen Benachteiligungen abfinden.

Abweichendes Verhalten fördern können auch die unterschiedliche familiäre Situation und erlernte Rollenmuster. Es spricht vieles dafür, dass Migranten in der Familie häufiger Gewalterfahrungen gemacht haben, als dies in der hiesigen Gesellschaft der Fall ist. Archaische Erziehungsstile und traditionelle Rollenmuster wie die brachiale Verteidigung der Familienehre können dazu beitragen. Neben kulturellen Traditionen kann Gewalterfahrung und Gewalt als Problemlösungstechnik auch auf Umständen beruhen, die aus (Bürger-)Krieg, Vertreibung und extremer Not herrühren. Ohnehin unterscheidet sich die Gruppe der Zuwanderer demographisch von den einheimischen Deutschen signifikant dadurch, dass sie einen viel höheren Anteil an jungen Männern aufweist. Von diesen aber geht zu allen Zeiten und in allen Kulturen die größte "kriminelle Gefahr" aus.

Was allerdings am deutlichsten vom Durchschnitt der Bevölkerung abweicht, sind die sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen die Migranten leben. Hier sind zu nennen: erheblich schlechtere Einkommensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, ungünstige Wohnverhältnisse, bei den Jugendlichen schlechtere Schul-, Bildungs- und Berufssituation. Migranten sind in Deutschland weitaus stärker von Armut betroffen als einheimische Deutsche. Die Lage wird noch dadurch verschärft, dass Zuwanderer als Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt empfunden werden, zumal sie, mit Ausnahme der Aussiedler, überwiegend in den größeren Städten wohnen. Dort ist im Übrigen auch die Kriminalitätsbelastung der einheimischen Deutschen höher als in der Gesamtbevölkerung. Zuwanderern wird nicht derselbe Rechtsstatus und damit auch nicht dasselbe Maß an Sicherheit zugestanden wie den "Vollbürgern". Dies führt einerseits dazu, dass sie erheblich leichter Opfer von Straftaten wie Betrug, Wucher, sexueller Nötigung und ausländerfeindlichen Delikten werden. Das Dunkelfeld dürfte hier groß sein, zumal die Anzeigebereitschaft der Migranten gering ist. Andererseits hat der verminderte Rechtsstatus, der bis zur Illegalität reichen kann, manchmal zur Folge, dass sich Migranten zwecks Unterhaltssicherung zu kriminellen Tätigkeiten (beispielsweise im Rotlicht- oder Drogenmilieu) gezwungen sehen oder als Prostituierte in Abhängigkeit gehalten werden.

Unterschiedliche rechtliche Regelungen und Maßstäbe

Für Einwanderer ohne deutschen Pass gelten eine große Zahl spezieller Rechtsvorschriften. Von besonderer Bedeutung sind das Ausländerrecht, das Asylverfahrensgesetz, das Haftrecht der Strafprozessordnung sowie die speziellen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes. Zunächst besteht deshalb der banale, aber folgenreiche Tatbestand, dass Nichtdeutsche einer großen Anzahl strafbewehrter Pflichten unterliegen, gegen die Deutsche gar nicht verstoßen können. Die Wahrscheinlichkeit, in Untersuchungshaft genommen zu werden, ist für Migranten deutlich erhöht. Sie wird überwiegend verhängt, weil der Richter als Haftgrund Fluchtgefahr sieht. Diese wird insbesondere dann angenommen, wenn der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz im Inland oder die Möglichkeit der Flucht ins Ausland hat. Letzteres wird bei Nichtdeutschen schnell bejaht und führt zusammen mit anderen ungünstigen Faktoren - keine Arbeits- oder Ausbildungsstelle - abermals zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Anordnung der Untersuchungshaft, so dass sich dort "Menschen befinden, die, wären sie Deutsche, nicht in Haft wären". Dadurch wiederum wird eine Verurteilung zu unbedingter Freiheitsstrafe wahrscheinlicher, weil die vollstreckte Untersuchungshaft eine nicht unerhebliche Präjudizwirkung entfaltet.

Besonders gefürchtet bei Nichtdeutschen ist die einer Verurteilung zu Freiheitsentzug oft folgende Ausweisung. Selbst wenn diese schwerste Rechtsfolge des Ausländerrechts nicht angeordnet wird, droht gleichwohl Doppelbestrafung, weil die Verurteilung auch dann regelmäßig zu einer Verschlechterung des aufenthaltsrechtlichen Status oder entsprechender Anwartschaften führt. Das Ausländerrecht ist deshalb als ein "rigides Additionsstrafrecht" bezeichnet worden. Es wurde ihm sogar die Tendenz attestiert, "die Existenzform von Ausländern an sich zu kriminalisieren". Im Strafvollzug führen die einschlägigen Verwaltungsvorschriften dazu, dass die Unterbringung Nichtdeutscher im offenen Vollzug und die Gewährung von Vollzugslockerungen meist unterbleibt oder ausgeschlossen ist, weil ein Ausweisungsverfahren anhängig ist oder eine vollziehbare Ausweisungsverfügung vorliegt. Nicht nur bedeutet Strafvollzug für ausländische Insassen daher in vielen Fällen reinen Verwahrvollzug, sondern mangels Erprobung in Vollzugslockerungen oft auch keine vorzeitige Entlassung zur Bewährung, also längere Haft.

Die Inanspruchnahme behördlicher und gerichtlicher Hilfe zur Rechtsdurchsetzung ist umso seltener, je weniger abgesichert der Rechtsstatus einer Person ist. Da Migranten bei Inanspruchnahme von Polizei und Justiz u.U. Ausweisung und Abschiebung zu befürchten haben, werden sie zu diesem Mittel oft nur im äußersten Notfall Zuflucht nehmen. Es ist daher damit zu rechnen, dass sie sich in Situationen rechtswidriger Übergriffe häufiger gezwungen sehen, diese hinzunehmen oder zu verbotener Selbsthilfe zu greifen.

Unterschiedliche tatsächliche Behandlung

Schon weil rund 90 % aller Straftaten der Polizei durch Anzeigen aus der Bevölkerung oder von Behörden bekannt werden, sind ethnische Selektionseffekte zu Gunsten der Deutschen und zu Lasten von Einwanderern nahe liegend. So wurde immer wieder ein erhöhtes Anzeigerisiko für die Angehörigen von Minoritätengruppen festgestellt. Schon 1992 ergab eine Studie eine große Zurückhaltung von Ausländern, zum Mittel der Anzeige zu greifen, aber eine sehr niedrige Schwelle bei den einheimischen Deutschen, auch Ereignisse mit geringer Gewaltintensität anzuzeigen. Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, als Ausländer angezeigt zu werden, wurde seitdem in allen Studien bestätigt, freilich je nach Nationalität in unterschiedlichem Maße. Nach Koch-Hillebrecht geht alle Vorurteils- und Stereotypenbildung auf das Grundphänomen des Ethnozentrismus zurück; also das Bedürfnis von Gruppen, ihr Verhalten kollektiv von Fremden abzusetzen. Und die Stereotypisierung von Gruppen nimmt weiter zu, wenn Menschen Angst haben.

Migranten leben in einer völlig anderen Kontrollrealität als Einheimische. Unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle unterscheiden sich der hier geborene Türke mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, der Bürgerkriegsflüchtling mit befristetem Bleiberecht oder der abgelehnte Asylbewerber, der seiner Abschiebung entgegensieht, zwar auch untereinander erheblich, aber doch noch sehr viel mehr von Einheimischen. Bisher kaum untersucht ist die Anzeigepraxis der Ausländerbehörden sowie der Arbeits- und Sozialämter. Von ihnen dürfte ein nicht geringer Teil der gegen Migranten erstatteten Strafanzeigen stammen. Die zur Erlangung zustehender Unterstützungsleistungen nötigen Behördengänge sehen auch Kontrollen durch die Behörden vor, indem diese die Voraussetzungen für die Leistungen zu prüfen haben. Nichtdeutsche zählen mittlerweile zu den als gefährlich angesehenen Teilen der Bevölkerung. Wolter spricht von einer "Dauersituation des Verdachts". In der polizeilichen Praxis entspricht dem das "Rassenprofiling", eine Kontrollmethode, die sich speziell auf nichtweiße Verdächtige bezieht. Zu denken ist aber auch an Kontrollen mittels Technik (z.B. Videokameras) oder Sicherheitspersonal (z.B. erfolgsabhängig bezahlte Ladendetektive), die bevorzugt auffallendes Äußeres oder fremdartiges Verhalten registrieren. Infolge des beschränkten Aktionsradius der Angehörigen von Minoritäten - mangels ausreichender Sprachkenntnisse, finanzieller Mittel und Informiertheit über die hiesige Gesellschaft sind sie an bestimmten Orten wie Bahnhöfen, Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln notorisch überrepräsentiert - ist ihre Überwachung einfacher zu bewerkstelligen und deshalb häufiger und intensiver als die der gut informierten, sich angepasst-individualistisch verhaltenden Einheimischen.

Es gibt aber auch Indikatoren für eine differente Behandlung von Migranten durch die Polizei. Trotz des Legalitätsprinzips verfügt sie über einen erheblichen Spielraum in der Steuerung ihrer Ressourcen, indem sie bei ihren Ermittlungen deren Ausmaß und Intensität bestimmt. Ethnische Identifizierbarkeit, wie über Aussehen und Sprache, erlaubt nun eine beträchtliche Vereinfachung der Steuerung. Beispielsweise wird der Bereich, in dem der Verdächtige zu suchen ist, durch die Beschreibung "arabischer Typus" oder "russisch sprechend" viel enger und die Erfolgsaussicht für die Polizei größer. "Die Überprüfung eines Anfangsverdachts gestaltet sich bei Menschen mit einer geringeren Beschwerdemacht wesentlich unproblematischer. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Leibesvisitation wird ein beispielsweise aus Nigeria oder Togo stammender Asylbewerber kaum artikulieren (können), auch wenn er polizeilich nicht in Erscheinung getreten ist und der Anfangsverdacht lediglich darin besteht, dass die betroffene Person schwarz ist." Sprachliche Defizite, fehlende Rechtskenntnisse, geringe Beschwerdemacht und mangelndes Wissen über das Funktionieren hiesiger staatlicher Apparate erschweren den Migranten außerdem die Kommunikation im ersten Stadium der Ermittlungen.

Bei der statistischen Registrierung der Straftaten hat die Polizei einen gewissen Definitions- und Interpretationsspielraum. Wie dieser genutzt wird, hängt u.a. von der Einstellung des Sachbearbeiters, aber auch von dem erwarteten Nutzen für die Institution ab. Im Verteilungskampf um Haushaltsmittel bietet sich offensives Registrierungsverhalten zu Lasten ohnehin nicht beliebter und wenig beschwerdemächtiger Angehöriger von Minoritäten an, zumal in Zeiten der "belastungsbezogenen Kräfteverteilung". Sogar Vorurteile gegenüber Fremden wird man bei der Polizei so wenig wie bei den Bürgern ausschließen können. Auf die Frage in einer polizeiinternen Untersuchung "Glauben Sie, dass Ihre Kollegen tendenziell Ausländer anders behandeln als Deutsche?" antworteten 44,6 % der Polizisten mit "ja, eher benachteiligend" und 53,7 % mit "nein, da gibt es keinen Unterschied". In einer Berliner Studie befragte ausländische Jugendliche waren durchweg der Meinung, dass sich Polizeibeamte Ausländern und Deutschen gegenüber different verhielten. Sehr wahrscheinlich ist somit eine stärkere Aufhellung des Dunkelfeldes zu Lasten von Migranten; insbesondere auch infolge der erwähnten erhöhten Anzeigebereitschaft von Institutionen und Bevölkerung. Ohnehin sind ja Veränderungen in der statistisch festgestellten Kriminalitätsentwicklung in der polizeilichen Kriminalstatistik häufig auf Änderungen im Anzeigeverhalten zurückzuführen.

Dass Richter und Staatsanwälte "in Schwierigkeiten der Verständigung und des Verstehens" eher zu härteren als einen Freiheitsentzug vermeidenden Sanktionen greifen, erklärt sich daraus, dass die Kommunikationsbarrieren, die häufig zwischen dem Gericht und nichtdeutschen Angeklagten bestehen, natürlich auch eine Wirkung auf das Urteil entfalten. Auch gibt es Anzeichen dafür, dass Richter die Strafempfindlichkeit junger Ausländer als geringer einschätzen als die deutscher Angeklagter. Hingegen kann eine "gelungene Kommunikation zwischen Richter und Angeklagten die Chance einer vergleichsweise milden Sanktion stark erhöhen". Vermutlich haben die wiederkehrenden Medienberichte über "kriminelle Ausländer" Auswirkungen auch auf die Strafjustiz gehabt. Jung geht so weit, Richter in diesem Zusammenhang als die "Angstbarometer" der Gesellschaft zu bezeichnen. Im öffentlichen Diskurs werden besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund zur Gefahr stilisiert, obwohl sie in Wahrheit oft doppelt Opfer sind: Im Kontext ihres Aufwachsens im Herkunftsland und der Flucht aus demselben - und ein zweites Mal bei uns, wo sie nicht selten von erwachsenen Landsleuten, Angehörigen oder Dealern ausgebeutet werden. Sie werden als unberechenbar, gefährlich und brutal dargestellt. Schnell wird der Versuch, Handlungen auf dem Hintergrund ihrer Herkunft und bisherigen Sozialisation sowie ihrer Lebenslage zu verstehen, nur noch Entschuldigung von Tätern begriffen. Wird dann mittels unzulässiger Vereinfachungen die komplexe und widersprüchliche Lebenswirklichkeit zu einer einfach zu verstehenden, binären Welt von Gut und Böse zugerichtet, handelt es sich eigentlich nur noch um Propaganda.

Für die große Mehrheit der Bürger sind in Sachen Kriminalität Massenmedien die wichtigste Informationsquelle. Allerdings sind Medien weniger Spiegel als Interpreten der Wirklichkeit. Das von ihnen gezeichnete Bild der Kriminalität und der "Täter" beruht auf eigenen Gesetzmäßigkeiten. In erster Linie zu nennen ist hier der angestrebte wirtschaftliche Erfolg, das Profitinteresse. Dessen Maßstab ist die Einschaltquote oder die Auflage. Deshalb setzen die Quoten- und Auflagenstrategen in den Redaktionen - unter hohem Konkurrenzdruck - auf die Mobilisierung von Gefühlen, neigen zu Dramatisierungen und Skandalisierungen. Fakten spielen da oft eine eher untergeordnete Rolle. Sie dienen oft nur als Anknüpfungspunkte für die eigentliche "message". Weil sie beim Medienkonsum überhaupt nicht an diese Produktionsbedingungen denken, übersehen die Konsumenten meist diese Gesetzmäßigkeiten - und fassen die Medieninhalte als Realität auf. Niklas Luhmann fragt deshalb verwundert: "Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?"

Auch auf Polizisten, Staatsanwälte und Richter werden Mediendarstellungen Auswirkungen haben. Selbst wenn ihnen in ihrem Berufsfeld Primärerfahrungen mit Kriminalität und Straftätern zugänglich sind, sind Berichte in den Medien keine vernachlässigenswerte Quelle ihres Wissens über Kriminalität. Damit findet die medial verzerrte Darstellung des Kriminalitätsgeschehens Eingang auch in den politischen und fachlichen Diskurs. Über diesen berichten die Medien erneut: "Es entsteht ein politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf, der die Kriminalität zum allumfassenden Problem und zur ubiquitären Bedrohung werden lässt..." So wird Kriminalitätsberichterstattung selber zu einem sozialen Problem, wenn es um abweichendes Verhalten von Minderheiten geht, weil sie die Wirklichkeit des Verbrechens verzerrt, sich selektiv auf Gewalt konzentriert, ein falsches Bild vom Straftäter zeichnet und den sozialen Entstehungszusammenhang von Kriminalität ausblendet. Auch Kriminalitätsfurcht scheint stark von Medien beeinflusst und vom individuellen Medienkonsum abhängig zu sein.

Lässt man abschließend die multiplen zusätzlichen Belastungs- und Verzerrungsfaktoren, ob sie nun ihre Gründe im Verhalten und der Lebenslage der Migranten, im Recht oder in ihrer gesellschaftlichen Behandlung haben, noch einmal Revue passieren, erscheint Schüler-Springorums Aussage plausibel: Inländer in vergleichbarer Situation wären womöglich auffälliger.

Ausblick

Wenn die Entscheidung über die Inhaftierung einer Person (auch) davon abhinge, dass diese einer Minorität angehört, wäre dies rechtsstaatlich unerträglich. Recht und Politik müssen etwaigen Fehleinschätzungen der Bürger und Institutionen entgegenwirken. Um herauszufinden, wie die Überrepräsentation von Minoritäten im Strafvollzug zu Stande kommt, sind deshalb die möglichen Gründe näher zu erforschen, namentlich

  • die Belastung von Zuwanderern mit Anpassungs- und Integrationsproblemen,

  • ob, unter welchen Umständen und ggf. weshalb sie häufiger von den Bürgern und Institutionen angezeigt werden,

  • wie bei registriertem abweichendem Verhalten die zuständigen Stellen der Strafverfolgung mit ihnen verfahren.

Dabei ist es wichtig zu ermitteln, unter welchen Umständen die Überrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Stadien des Verfahrens (Verdachtsschöpfung, Anzeigenaufnahme durch die Polizei, Vorlage an die Staatsanwaltschaft, Anordnung von Untersuchungshaft, Anklage bzw. Verfahrenseinstellung, Verurteilung, Vollstreckung und Vollzug, vorzeitige Entlassung) gleichbleibt, sinkt oder steigt; ob und ggf. weshalb Unterschiede bei der Anordnung der Untersuchungshaft, dem Strafmaß und der Verweildauer in Haft gegenüber einheimischen Straftätern festzustellen sind. Methodisch wäre darauf zu achten, dass die Untersuchungen für jede der genannten Ebenen gesondert ausgewertet werden, weil in diesen Fällen Datenaggregation geeignet ist, auf einer der Ebenen feststellbare unterschiedliche Behandlung der Angehörigen von Minoritäten "verschwinden" zu lassen.

Diesen Aufsatz widme ich meinem Freund Prof. Kálmán Irmai.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marcelo Aebi, Immigration et délinquance: le mythe du conflit de cultures, in: Nicolas Queloz et al. (eds.), Youth Crime and Juvenile Justice, Berne 2005, S. 98.

  2. Vgl. Frieder Dünkel, Migration and ethnic minorities: impacts on the phenomenon of youth crime, in: ebd., S. 58 und 67.

  3. Vgl. Joachim Walter/Günter Grübl, Junge Aussiedler im Jugendstrafvollzug, in: Klaus J.Bade/Jochen Oltmer (Hrsg.), Aussiedler: Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, Osnabrück 1999, S. 180.

  4. Zu Personen mit Migrationshintergrund zählt man auch Kinder von Einwanderern, wenn wenigstens ein Elternteil eingewandert ist. Danach hatten in Deutschland 2007 18,7 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund (Stat. Bundesamt Fachserie 1 Reihe 2.2).

  5. Vgl. Stefan Suhling/Tilmann Schott, Ansatzpunkte zur Erklärung der gestiegenen Gefangenenzahlen in Deutschland, in: Mechthild Bereswill/Werner Greve (Hrsg.), Forschungsthema Strafvollzug, Baden-Baden 2001, S. 58.

  6. Ähnlich Christian Pfeiffer et al., Probleme der Kriminalität bei Immigranten und politische Konsequenzen. Expertise für den Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) der Bundesregierung, Hannover 2004, S. 70.

  7. Vgl. S. Suhling/T. Schott (Anm. 5), S. 66f.

  8. Vgl. Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung (PSB II), Berlin 2006, S. 420 und 426.

  9. Daten bei Tilmann Schott, Ausländer vor Gericht, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ), 15 (2004) 4, S. 388f.

  10. Vgl. Heinz Müller-Dietz, Freiheitsstrafe in der Krise - Sanktionsalternativen gleichfalls?, Typoskript des am 6. 12. 1999 in Düsseldorf gehaltenen Referats, S. 9.

  11. Vgl. Dietmar Czycholl, Suchtreport, (1997) 6, S. 34.

  12. Vgl. PSB I, Berlin 2001, S. 564ff.

  13. Vgl. C. Pfeiffer et al. (Anm. 6), S. 11 und S. 55ff.

  14. Vgl. PSB I (Anm. 12), S. 311.

  15. Vgl. C. Pfeiffer et al. (Anm. 6), S. 77ff.

  16. T. Schott (Anm. 9), S. 391.

  17. Michael Walter, Migration und damit verbundene Kriminalitätsprobleme, in: Jörg Martin Jehle (Hrsg.), Raum und Kriminalität, Mönchengladbach 2001, S. 225.

  18. Otto Wolter, Befürchtet - und gewollt? Fremdenhass und Kriminalisierung ausländischer Jugendlicher, in: Kriminologisches Journal (KrimJ), 16 (1984) 4, S. 267.

  19. Vgl. Heiner Busch/Falko Werkentin, Die soziale Produktion polizeilich registrierter Gewaltindizien. Ergebnisse einer Anzeigenstudie in Berlin Neu-Kölln, in: KrimJ, 4. Beiheft (1992), S. 78.

  20. Vgl. Dirk Baier et al., Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, in: ZJJ, 20 (2009) 2, S. 114f.

  21. Vgl. Manfred Koch-Hillebrecht, Der Stoff, aus dem die Dummheit ist, München 1978, S. 151.

  22. Vgl. Cass R. Sunstein, Gesetze der Angst, Frankfurt/M. 2007, S. 307.

  23. O. Wolter (Anm. 18), S. 269.

  24. Thomas Schweer, Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen, in: Interkulturelle Kompetenz in der Polizeiausbildung, Potsdam 2004, S. 16.

  25. Vgl. Horst Schüler-Springorum, Ausländerkriminalität. Ursachen, Umfang und Entwicklung, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, 3 (1983) 12, S. 529.

  26. T. Schweer (Anm. 24), S. 15.

  27. Vgl. Edwin Kube/Karl Friedrich Koch, Zur Kriminalität jugendlicher Ausländer aus polizeilicher Sicht, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 73 (1990), S. 15.

  28. Vgl. H. Schüler-Springorum (Anm. 25), S. 536.

  29. Vgl. Oliver Buckolt, Die Zumessung der Jugendstrafe, Gießen 2009, S. 266.

  30. S. Suhling/T. Schott (Anm. 5), S. 69f.

  31. Vgl. Heike Jung, Richterbilder. Ein interkultureller Vergleich, Baden-Baden 2006, S. 98.

  32. Vgl. Sylvie Marguerat, Mineurs doublement victimes, in: N. Queloz et al. (Anm. 1), S. 255ff.

  33. Vgl. Johannes Stehr, Kritische Kriminologie und der Ruf nach der staatlichen Strafe, in: KrimJ, 29 (1997) 1, S. 53f.

  34. Vgl. Hans-Matthias Kepplinger, Die Entwicklung der Kriminalitätsberichterstattung, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien, Mönchengladbach 2000, S. 58.

  35. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 19962, S. 215.

  36. Bernd Obermöller/Mirko Gosch, Kriminalitätsberichterstattung als kriminologisches Problem, in: Neue Justiz, 28 (1995) 1, S. 54.

  37. H. Schüler-Springorum (Anm. 25), S. 536.

Dr. jur., geb. 1944; Leitender Regierungsdirektor a.D.; 1989 bis 2009 Leiter der Jugendstrafanstalt Adelsheim, Mitherausgeber der Zeitschrift "Neue Kriminalpolitik". Ziegelhütte 1, 74740 Adelsheim.
E-Mail: E-Mail Link: joachim.hans.walter@t-online.de