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Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie | Postdemokratie? | bpb.de

Postdemokratie? Editorial "Postdemokratie" und die zunehmende Entpolitisierung - Essay Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation Informationsmedien in der Postdemokratie. Zur Bedeutung von Medienkompetenz für eine lebendige Demokratie Die Allgegenwart der "Androkratie": feministische Anmerkungen zur "Postdemokratie" Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert

Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie

Paul Nolte

/ 18 Minuten zu lesen

Ein Blick in die jüngere Geschichte der Demokratie zeigt, dass sie im vergangenen Jahrhundert in eine dynamische Phase der Erweiterung getreten ist. Repräsentative Formen sind durch partizipative Muster ergänzt worden.

Einleitung

Die Demokratie ist nicht mehr selbstverständlich. Im vergangenen Jahrzehnt ist eine neue Debatte über die Demokratie entbrannt, die grundsätzliche Fragen an die Zukunftsfähigkeit demokratischer Regierungsformen aufgeworfen hat, ihrer Institutionen wie der Parteien und Parlamente ebenso wie des tieferen Fundaments von demokratischer Gesellschaft und Kultur. In Deutschland war die Demokratie lange Zeit nicht selbstverständlich: Die Weimarer Republik ist gescheitert, auch an einem Mangel an demokratischer Gesinnung, die nach 1945 in der jungen Bundesrepublik erst gelernt werden musste, zumal von den Eliten und den bürgerlichen Schichten. Die DDR versuchte bis 1989, einen sozialistischen Gegenentwurf zur liberal-pluralistischen Demokratie aufzubauen. Von einer Selbstverständlichkeit, einer voraussetzungslosen Unbestrittenheit der Demokratie kann man insofern erst seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten sprechen.

Für Westdeutschland aber markieren die frühen 1970er Jahre den Übergang in die Vorbehaltlosigkeit der Demokratie. Die Aufforderung Willy Brandts in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969, mehr Demokratie zu wagen, kann als symbolische Marke dafür gelten. Über die grundsätzliche Rechtfertigung der Demokratie musste man jetzt nicht mehr streiten: weder im konservativ-kulturkritischen Sinne der alten Frage, ob diese vermeintlich "westliche" Regierungsform den Deutschen überhaupt angemessen sei, noch im linken, marxistischen Sinne der Zweifel, ob die Bundesrepublik denn überhaupt eine Demokratie sei oder nicht vielmehr ein autoritäres Regime auf dem Weg in einen neuen Faschismus, wie während der ersten Großen Koalition (von 1966 bis 1969) viele Kritiker befürchtet hatten. Der westdeutsche Staat und seine Bürger - so lässt sich Brandts berühmte Formel deuten - waren in der Demokratie angekommen, sollten sich damit aber nicht zufrieden geben, sondern in ihr neue Möglichkeiten erproben.

Der Aufstand der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gegen das SED-Regime und die daraus folgende Entstehung eines demokratischen Nationalstaats schienen diese Selbstverständlichkeit zu besiegeln. War die deutsche Geschichte, die zweihundert Jahre um das Problem der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Einheit und Freiheit gekreist hatte, damit nicht zu einem guten Ende gekommen, in eine auch international stabile Lage, die jedes neue Zweifeln an der Demokratie für immer unmöglich machte? Vordergründig gesehen ist ein solches Urteil nicht einmal falsch, denn das politische System Deutschlands ist stabil, auch wenn sich die Parteienlandschaft rapide wandelt; die Zustimmung der Bevölkerung ist groß, auch wenn die Zweifel an den politischen Eliten wachsen; und irgendeine Alternative ist schon gar nicht in Sicht, wie es zwischen 1918 und 1989 immer der Fall war.

Sieht man etwas genauer hin, ergeben sich allerdings beunruhigendere Befunde. Es mag sogar mit der Alternativlosigkeit einer gegebenen Ordnung zusammenhängen, wenn sich diffuse Unzufriedenheit vermehrt artikuliert. Die Emphase der demokratischen Kultur in der alten Bundesrepublik vor 1989 war ja immer auch ein Ausrufezeichen an das Andere der Demokratie: gegenüber der eigenen Geschichte im "Dritten Reich" ebenso wie im Zeichen des Kalten Kriegs über die Mauer hinweg. Dennoch kann man eine schleichende demokratische Ermüdung oder Auszehrung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie äußert sich in sinkender Wahlbeteiligung, in Alterung und Schrumpfung der Parteienmitgliedschaft, aber auch im rapide nachlassenden Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der politischen Führung und der klassischen Institutionen der liberal-repräsentativen Demokratie, vor allem der Parlamente und Regierungen.

Neue Debatte über Demokratie

Das neue Unbehagen in der Demokratie ist allerdings nicht bloß ein deutsches Phänomen, auch wenn in älteren westlichen Demokratien das historisch gewachsene Vertrauen größer und die Neigung, während einer Wirtschaftskrise oder nach einer Korruptionsaffäre gleich die demokratische Grundsatzfrage zu stellen, geringer ausgeprägt ist. Die neue Debatte über die Demokratie ist eine allgemein-westliche, sogar eine globale Debatte geworden. Sie wird auch nicht nur in den Medien und der Öffentlichkeit geführt; sie ist nicht nur am Wandel von Einstellungen oder politischem Alltagshandeln ablesbar. Vielmehr finden Wandel und Zukunft der Demokratie seit ein bis zwei Jahrzehnten auch in den Wissenschaften mehr Aufmerksamkeit als früher.

Dabei trifft man auf ein charakteristisch gespaltenes Bild. Zum einen überwiegt in der empirischen Politikwissenschaft ein Optimismus, der im Gefolge der demokratischen Transformation um 1990 bisweilen sogar euphorische Züge angenommen hat. So hat Samuel Huntington drei globale Wellen der Demokratisierung im 20. Jahrhundert identifiziert, in denen trotz Rückschlägen die globale Ausbreitung der Demokratie immer weitere Fortschritte gemacht habe. Neue Zeitschriften wie das "Journal of Democracy" oder "Democratization" widmen sich demokratischen Transformationsprozessen und demokratischen Bewegungen in autoritären Regimes in der Erwartung, dass der globale Siegeszug der Demokratie weitergehen und sich über kurz oder lang in einer vierten Welle - in Ostasien, im Mittleren Osten? - manifestiert. Auch zahlreiche historische und politiktheoretische Bücher haben neue Anläufe der Erklärung und Rechtfertigung der Demokratie unternommen, die über den Stand des mittleren 20. Jahrhunderts hinausgehen, als die Rechtfertigung der Demokratie im Zeichen der Abwehr von Nationalsozialismus und sowjetischem Kommunismus stand.

Zum anderen macht sich eine neue Kritik der Demokratie geltend, vor allem in der Demokratietheorie und der politischen Philosophie, die gegenüber früherer, etwa neomarxistischer Demokratiekritik der 1960er und 1970er Jahre weniger scharf und aggressiv auftritt, sondern in bisweilen sogar eher elegischen Tönen eine Erosion der Demokratie beklagt. Colin Crouchs Manifest zur "Postdemokratie", dessen Titel schnell zum griffigen Schlagwort wurde, ist das beste Beispiel dafür. So wie die positive Sicht auf die globale Ausdehnung der Demokratie heute überwiegend von Wissenschaftlern vertreten wird, die man dem liberalen oder dem konservativen Lager zurechnen kann, ist die neue Demokratiekritik überwiegend auf der Linken verankert, in einem breiten Spektrum von sozialdemokratischen bis zu neokommunistischen Ansätzen. Anders als in der "Neuen Linken" steht diese Kritik häufig auf dem Fundament der klassischen, der "bürgerlichen" Demokratie, die jedoch - so die Diagnose - angesichts neuer Herausforderungen etwa des globalisierten Kapitalismus zunehmend erodiere und bestenfalls eine Hülle der Schein-Demokratie zurücklasse: einen Zustand der "Postdemokratie", in denen den Bürgerinnen und Bürgern nur noch die Illusion demokratischer Rechte bleibe.

Neben diese innere Diagnose tritt häufig ein Gegenakzent zur positiven Erzählung über die Globalisierung der Demokratie: Die Demokratie westlichen Typs werde sich keineswegs weltweit und in nichtwestlichen Kulturen wie denen Ostasiens oder der islamisch-arabischen Welt ausbreiten; sie könne, normativ gesehen, auch gar keinen Anspruch auf universale Geltung oder Überlegenheit beanspruchen. Sie bleibt also auf ihre historischen Ursprungsregionen beschränkt und verliert auch dort zusehends Dynamik, Legitimation und kohärente Überzeugungskraft.

Eine weiterführende Alternative zu den Diagnosen?

Einer solchen Alternative bedarf es, weil beide skizzierten Sichtweisen wichtige Veränderungen in der Praxis von Demokratie während der vergangenen drei bis vier Jahrzehnte nicht hinreichend abbilden, und weil sie, auf unterschiedliche Weise, eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte und Zukunft der Demokratie zu blockieren drohen: Die liberal-konservative Sicht deshalb, weil sie ein allzu glattes, konfliktfreies Bild der Demokratie zeichnet, der Gefahr nur von äußeren Gegnern drohe; die linke, "postdemokratische" Perspektive, weil sie den Zustand der Demokratie in ein düsteres Licht taucht, das eher resignative Einstellungen zu befördern droht. Wenn anonyme Kräfte wie der globale, neoliberale Kapitalismus die Demokratie zur Postdemokratie aushöhlen, bleibt die Handlungsmacht der Bürgerinnen und Bürger, ihre kritische und konstruktive demokratische Energie schon in der Theorie auf der Strecke.

Paradoxerweise leiden beide Sichtweisen unter ganz ähnlichen Blindstellen: Sie unterschätzen die Weiterentwicklung der Demokratie jenseits ihres klassischen Institutionengefüges. So wie der liberal-positive Ansatz das Muster der liberal-repräsentativen Demokratie basierend auf Parlament und freien Wahlen zum Maßstab für die globale Durchsetzung der Demokratie macht, misst auch der links-skeptische Ansatz den (Miss-)Erfolg der Demokratie am Bedeutungsverlust ihres klassischen Institutionen- und Handlungsrepertoires. Die Demokratie des beginnenden 21. Jahrhunderts ist aber nicht mehr diejenige, die nach dem Zweiten Weltkrieg begründet worden ist. Die westlichen Gesellschaften haben sich rapide gewandelt und mit ihnen das Arsenal demokratischer Partizipation und Legitimation. Da diese Dynamik häufig von Bewegungen getrieben wurde, die eher auf der linken Seite des politischen Spektrums angesiedelt sind, ist der "Demokratie-Defätismus" eines großen Teils der gegenwärtigen linken Politiktheorie umso überraschender.

Historisch sollte man die gegenwärtige Debatte ohnehin im Horizont einer langen Krisengeschichte verstehen. Demokratie definiert sich geradezu als eine "schwache" Regierungsform, als ein Modell mit offenen Flanken, und vor allem als ein reflexives und darum selbstkritisches Muster der politisch-sozialen Organisation. Schon in der Gründungs- und Erfindungsphase der modernen Demokratie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert finden sich, bei aller typisch aufklärerischen Selbstgewissheit und Fortschrittsemphase, immer wieder Zweifel auch der republikanisch-demokratischen Protagonisten, welche Zukunft dieses Modell langfristig haben könne. Von der bisher tiefsten Krise der Demokratie war ebenfalls schon die Rede: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war fast überall auf der Welt die Überzeugung verbreitet, dass der historische Bogen der Demokratie nun dem Ende entgegengehe. So bilanzierte 1927 John Dewey: "Optimism about democracy is today under a cloud." Andere wie der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt sahen dieselbe Entwicklung euphorisch: Der liberale Parlamentarismus werde durch zeitgemäßere Formen von Führertum im Verein mit plebiszitärer Akklamation abgelöst.

Das Ergebnis ist bekannt: Die bestenfalls pseudo-demokratischen, faschistischen Diktaturen sind gescheitert; die Demokratie trat in eine neue Phase des Selbstbewusstseins - auch gegenüber dem sowjetisch-kommunistischen Modell -, des globalen Erfolgs und der Revitalisierung, die von den späten 1940er Jahren bis in die 1980er Jahre dauerte; spätestens wenige Jahre nach dem triumphalen Moment von 1989 dauerte dieser Zyklus. Es mag noch zu früh für ein sicheres Urteil sein, aber vieles spricht dafür, dass die Demokratie nur wenige Jahre später wieder in eine Phase der Ermüdung und der Selbstzweifel trat - eben jene Phase, in der wir uns momentan befinden. In dieser Perspektive lassen sich also die gegenwärtigen Krisendiskurse historisieren: Welche Parallelen sind zwischen der demokratischen Endzeitstimmung der 1920er und der 1930er Jahre und den heute umlaufenden Befürchtungen erkennbar, die Demokratie werde durch die Macht ökonomischer Umwälzungen, die diesmal unter Stichworten wie "Neoliberalismus" und "Globalisierung" laufen, vermeintlich unwiderruflich und unrettbar ausgehebelt?

Das Schlagwort von der Postdemokratie jedenfalls wäre, hätte es schon existiert, vor achtzig Jahren auf fruchtbaren Boden gefallen. Mit anderen Worten: Eine bessere Kenntnis der Geschichte demokratischer Krisendiskurse und ihres Verhältnisses zur realen Geschichte der Demokratie könnte heute davor schützen, diese Geschichte voreilig für beendet oder auch nur für im Abstieg begriffen zu erklären. Und noch schärfer: Wer heute das Ende der Demokratie ausruft und damit den Beifall vordergründig Unzufriedener findet, sollte um seine historischen Vorläufer wissen. Dass die Demokratie sich in Krisen und Konflikten selber infrage gestellt, neu erfunden und "kreativ" erweitert hat, vor allem seit den 1960er Jahren, steht dazu keineswegs im Gegensatz.

Partizipation, Protest und mehr: eine neue Phase

Historisch gesehen bildete die repräsentative Demokratie seit dem späten 18. Jahrhundert - klassisch seit ihrer Begründung in den amerikanischen Federalist Papers - den wichtigsten Fluchtpunkt der demokratischen Entwicklung. Sie war politisch-kulturelles Leitbild und institutionelles Grundschema: in der Transformation nicht-demokratischer Regime ebenso wie in der Ausweitung von Teilhaberechten der frühen Demokratien Großbritanniens oder der USA. Diese Phase ging jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Ende entgegen. Vor allem seit den 1960er Jahren artikulierten sich, vehement und oft konfliktreich, neue Handlungsformen und Mechanismen, die zumeist durch die direkte Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern, durch den Protest gegen politische Entscheidungen beziehungsweise das protestförmige Eintreten für politische Ziele sowie durch den neuen institutionellen Rahmen einer "Bewegung" gekennzeichnet waren.

Zum wohl einflussreichsten Modell dieser Protest- und Bewegungsdemokratie wurde die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die seit der Mitte der 1950er Jahre gegen Segregation sowie gegen die bürgerliche und politische Entrechtung der Afroamerikaner vor allem im Süden der USA auftrat. Ihre Ursprünge reichen weiter zurück und über den klassischen "Westen" hinaus. Vor allem die indische Unabhängigkeitsbewegung mit Mahatma Gandhi als charismatischer Führungsperson erprobte neue Methoden des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Protests, die nach Nordamerika und Europa zurückwirkten.

Die internationale Protestwelle der 1960er Jahre markierte einen ersten Höhepunkt der Formen, Ziele und Legitimationsmuster dieser neuen Demokratie, die als generationelle Revolte von "1968" zu einer oft scharfen Zurückweisung durch die traditionelle Demokratie führte. Tatsächlich musste in den 1960er und 1970er Jahren erst in immer neuen, nicht selten auch gewalthaften und häufig kulturkämpferische Züge tragenden Konflikten ausgehandelt werden, in welchem Verhältnis die partizipatorische Protestdemokratie zur repräsentativ-parlamentarischen stand. So dominierte in den USA, aufs Ganze gesehen, ein eher pragmatischer Grundzug, der auf die Erweiterung der klassischen Demokratie zielte.

In vielen westeuropäischen Ländern wie in Frankreich und der Bundesrepublik spielte dagegen die fundamentale Kritik liberaler Demokratie eine wesentliche Rolle, und nicht wenige glaubten an deren historische Überwindung und ihre Ablösung aus dem Geist des Protests und einer romantischen Utopie. Ein Jahrzehnt später jedoch, im Übergang in die 1980er Jahre, wurde deutlich, dass die "Demokratie von unten" mehr bedeutete als eine historische Episode. Nicht zuletzt an der westdeutschen Geschichte der "Neuen sozialen Bewegungen" und der Partei Die Grünen lässt sich eine Verfestigung und Institutionalisierung der partizipatorischen Protestdemokratie verfolgen, die ihre anfangs prinzipielle Opposition zum repräsentativen System, zum Parteien- und Wahlregime allmählich aufgab, ohne auf ihre Differenz zu diesem traditionellen Ensemble zu verzichten. Dazu gehören ein Verständnis des demokratischen Bürgers, das über den "Wahlbürger" deutlich hinausgeht, die Mobilisierungsfähigkeit der Bewegung in für kritisch gehaltenen Situationen und der Anspruch, darin die Legitimität repräsentativ getroffener Entscheidungen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu revidieren.

Die Bürgerbewegungen der 1980er Jahre in den damals kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas bilden eine weitere historische Wurzel der Konsolidierung dieses neuen demokratischen Musters. Sie haben ganz wesentlich zu seiner Verallgemeinerung beigetragen, in einem doppelten Sinne: Zum einen traten sie im Vergleich zu den sozial, kulturell und generationell eher partikularen Bewegungen des Westens (Stichworte: Jugendkultur, Alternative, Counterculture) breiter auf, als Anspruch der gesamten, bis dahin unfreien Gesellschaft gegenüber dem autoritären Staat. Zum anderen entwickelten sie daraus ein erweitertes Verständnis einer demokratischen civil society oder Zivilgesellschaft, die mehr sein sollte als ein gesellschaftlicher Vorhof der Politik, mehr als ein bloßes Rekrutierungsfeld für Repräsentanten in Parlamenten oder als deren Spiegelung in der "Öffentlichkeit". So ist in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten das schon früher oft verfolgte Ziel näher gerückt, die Demokratie in die Gesellschaft auszudehnen und sie in der Lebensführung der Menschen zu verankern.

Die partizipatorische Protest- und Bewegungsdemokratie ist die historisch vermutlich wichtigste Innovation in der Geschichte der Demokratie des vergangenen halben Jahrhunderts. Sie hat die repräsentative Demokratie nicht abgelöst, aber sie zu einem Zeitpunkt ergänzt und überlagert, als deren "Erfüllungsgeschichte" zu Ende ging, also ihre innere Erweiterungsfähigkeit aufgebraucht war. Die repräsentative Demokratie hat ihre zentrale Bedeutung und Kernfunktion damit keineswegs verloren. Im Protest gegen autoritäre Regime und Diktaturen und in der primären Transformation zur Demokratie stehen bis heute - ob in Osteuropa oder Ostasien, in Afrika oder demnächst im Mittleren Osten - die institutionelle Sicherung von parteipolitischem Pluralismus, freie Wahlen und eine durch sie legitimierte Regierung ganz vorne auf der Agenda. Aber in den entwickelteren demokratischen Nationen hat sie ihren Alleinvertretungsanspruch verloren - oder anders formuliert: Auf ihr ruht nicht mehr die gesamte Last der demokratischen Legitimation. Die Demokratie ist insofern zu einem komplexen Gefüge verschiedener Handlungsformen und institutioneller Arrangements geworden, zu einer multiplen Demokratie.

Sicher kann man argumentieren, dass Demokratie seit dem 18. Jahrhundert nie einen monolithischen Charakter hatte und auf den repräsentativen Typus beschränkt blieb. Nationale und regionale Varianten lassen sich ebenso anführen wie eine lange Geschichte von Konflikten um die "richtige" Auslegung von Selbstregierung und Volksherrschaft. Soziale Bewegungen und Proteste etwa sind keine Erfindung der Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern führen zurück in die Geschichte des 19. Jahrhunderts (mit seinen bürgerlichen und religiösen Reformbewegungen, mit Arbeiterbewegung und bäuerlichem Protest) und in die Aktionsformen der Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts.

Aber das spätere 20. Jahrhundert scheint doch eine grundsätzlichere Zäsur in der Geschichte der Demokratie zu markieren. Nicht nur gewannen die partizipatorischen Formen erst jetzt funktionale Selbstständigkeit, statt vor allem Vehikel im Kampf um die traditionelle Demokratie zu sein. Auch etablierten sich in derselben Zeit weitere Muster von Demokratie außerhalb der repräsentativ-parlamentarischen Ordnung: Die Entfaltung der Konsumgesellschaft ließ einen neuen Typus des Konsumbürgers entstehen, der durch private ökonomische Entscheidungen politische Präferenzen zum Ausdruck bringt und politische Entscheidungen steuert bis hin zu Konsumboykotten gegen einzelne Länder, politische Regime oder Unternehmen. Dabei spielen ethische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle, wie man überhaupt von einer Tendenz zur (Re-)Moralisierung der Demokratie seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sprechen kann.

Neue Legitimationsmuster

Jenseits des überwiegend noch immer nationalstaatlich verfassten Rahmens der repräsentativen Demokratie haben sich international, europäisch und global nicht nur neue Institutionen und Organisationen, sondern auch neue Legitimationsmuster der "Herrschaft des Volkes" etabliert. Das gilt für die EU jenseits des Europäischen Parlaments: Was in klassischer Perspektive ein europäisches Demokratiedefizit ist, lässt sich auch als ein Netzwerk neuer, intergouvernementaler und delegativer Demokratie interpretieren. Erst recht gilt es für ein globales Netzwerk, dessen demokratische Akteure Regierungen, intergouvernementale Organisationen wie die Vereinten Nationen und internationale Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace sind. Das historische Grundmuster ist dabei ähnlich wie bei der innergesellschaftlichen Demokratisierung: Die ursprüngliche Erwartung einer Ausdehnung des repräsentativen Prinzips hat sich nicht erfüllt; globale Demokratie hat nicht die Form einer Weltregierung" angenommen, wie man sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts vielfach anstrebte.

Die jüngste Entwicklung in dieser Phase eines Innovationsschubes der Demokratie lässt sich bisher nur in Umrissen beschreiben: Die Kommunikationsrevolution der digitalen Technologien und des Internets ist dabei, der multiplen Demokratie eine wiederum neue Schicht hinzuzufügen. Dabei ist weniger an das "e-Government" gedacht, das eher eine technische Ergänzung der klassischen Demokratie bildet; auch nicht primär an Phänomene wie die "Twitter-Revolution" im Iran, also die Rolle des Twitter-Dienstes bei der Mobilisierung der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009. Vielmehr und noch grundsätzlicher scheint das Internet eine Reorganisation sozialer Beziehungen und politischer Willensbildung zu konstituieren, die über mediale und instrumentelle Funktionen hinausreicht und die Bedeutung von Autonomie und Assoziation sowie das Verhältnis von Deliberation und Dezision, von gesellschaftlichem Diskurs und politischer Willensbildung neu definiert.

Probleme und Chancen der multiplen Demokratie

Unser politisches Bewusstsein hat mit dieser rapiden Ausdifferenzierung demokratischer Möglichkeiten bisher wohl nicht ganz Schritt gehalten. In unserer Vorstellungswelt sind wir - die Bürgerinnen und Bürger demokratischer Gesellschaften - immer noch zu eng an das alte Gerüst der repräsentativen Demokratie gebunden. Das gilt bisweilen für deren Repräsentanten, für die "politische Klasse", aber auch für unterschiedliche Varianten der Demokratiekritik, die angesichts einer multiplen Demokratie nicht mehr überzeugen können: Wer wegen sinkender Wahlbeteiligung oder dem Mitgliederschwund in Parteien der Demokratie per se ein schlechtes Zeugnis ausstellt, übersieht den komplementären Zuwachs von Partizipation an anderen Stellen; wer immer noch darüber klagt, man dürfe ja nur alle vier Jahre sein Kreuzchen machen, dem sind offenbar andere Handlungsoptionen entgangen.

Ein schöngefärbtes Bild ergibt sich damit dennoch nicht. Denn der Übergang der Demokratie in einen neuen Aggregatzustand wirft neue Konflikte auf und grundsätzliche Fragen, die noch nicht geklärt sind. Wird die repräsentativ-parlamentarische Legitimation demokratischer Willensbildung ausgehöhlt, wenn solche Entscheidungen - wie es in Deutschland bei großen Infrastrukturvorhaben geradezu die Regel zu werden scheint - einer zweiten Legitimation durch die partizipatorische Protestdemokratie bedürfen, die durch das unmittelbare öffentliche Handeln auf der Straße erzwungen oder durch ein nachgelagertes Schieds- oder Mediationsverfahren herbeigeführt wird? Denn hier geht die Erweiterung der Demokratie noch über das hinaus, was John Keane sehr treffend als monitory democracy analysiert hat: als eine Erweiterung der repräsentativen Demokratie in der permanenten Beobachtung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft.

Die Kontrolle verschafft sich eine eigene Legitimationsbasis, die in den Verfassungen nicht vorgesehen ist. Sollen wir deshalb die Verfassung, etwa das Grundgesetz, umschreiben, um der multiplen Demokratie Rechnung zu tragen? Abwegig ist dieser Gedanke nicht, denn die berühmte Erwähnung der Rolle der politischen Parteien im Grundgesetz (Artikel 21 Absatz 1) geht auf eine ähnliche historische Erfahrung zurück, nämlich die Einsicht aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, dass Demokratie nicht nur in der unmittelbaren Staatsordnung begründet sein kann. Verstehen wir also die Verfassung als das Grundbuch einer demokratischen Lebensorganisation in allen ihren Dimensionen oder als das Regelwerk der nationalstaatlich-repräsentativen Ebene einer vielschichtig gewordenen Demokratie?

Die Liste der Probleme und offenen Fragen einer multiplen Demokratie lässt sich leicht fortsetzen. In der Geschichte von Partizipation und Protest in den westlichen Gesellschaften während der vergangenen Jahrzehnte stößt man einerseits auf einen neuen Altruismus: das Engagement für den Anderen, jedenfalls jenseits der unmittelbaren Eigeninteressen, welche die repräsentative Demokratie als grundlegend für Interessenartikulation und Pluralismus ansah. Humanitäres und ökologisches Engagement sind wichtige Beispiele dafür. Doch gerade darin wird die Grenze zu einem neuen Partikularismus, der nur im Gewand eines vermeintlich unwiderlegbaren Gemeinwohls auftritt, leicht überschritten. Im lokalen Protest von Betroffenen gegen eine neue Straße, ein Kraftwerk oder eine Gewerbeansiedlung steckt ein produktives Element einer lebensweltlichen Auffassung von Demokratie, aber auch die Gefahr einer Aushebelung der Mehrheitsregel; eines partikularen Veto-Prinzips, das sich nicht selten auf einen Konsens der "Betroffenen" gegen die "Herrschenden" (die gewählten Repräsentanten) beruft.

Und ein letztes Beispiel: Die neuen, post-repräsentativen Dimensionen der Demokratie begünstigen überwiegend die gebildeten und artikulierten Mittelklassen. In Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen, in der europäischen und globalen Politik ebenso wie in der Nutzung des Internets sind die Arbeiter- und Unterschichten, die formal weniger Gebildeten, oft auch Migranten wesentlich seltener anzutreffen, weil sie die materiellen und kulturellen Zutrittsschwellen nur schwer überschreiten können. Das ist historisch ebenso bemerkenswert wie politisch bedenklich. Gerade in Deutschland ist die Demokratie lange Zeit mehr ein Projekt der Arbeiterbewegung als des Bürgertums gewesen, besonders zwischen 1870 und 1933. Jetzt verstärken sich Misstrauen und Rückzug der unteren Schichten, die Mühe haben, ihren Platz in der multiplen Demokratie zu finden.

Über Verfallstheorien und Appelle zu einer Wiederbelebung

Auf diese Weise entsteht ein facettenreiches, gewiss oft kompliziertes und auch widerspruchsvolles Bild, das gegenüber anderen Deutungen nicht zuletzt den Vorzug hat, realitätsgerechter zu sein. Verfallstheorien der Demokratie sind angesichts einer dynamischen Entwicklung ebenso wenig überzeugend wie Appelle zu einer Wiederbelebung des repräsentativen Systems oder wie die Diagnose eines unaufhaltsamen globalen Siegeszugs der Demokratie. Von Triumphalismus und Untergang sind wir gleich weit entfernt. In ihrer Geschichte seit dem 18. Jahrhundert stand die Demokratie immer wieder im Zentrum von Erwartungen und Enttäuschungen, von Konflikten und Aushandlungsprozessen mit offenem Ausgang.

Mit einer solchen Perspektive auf Demokratie ließe sich auch eine weiterführende Position in den zwei wichtigsten Kontroversen entwickeln, die derzeit die Demokratietheorie umtreiben: Ist die Demokratie universell oder eine westliche Eigenart? Sie ist überwiegend im "Westen" entstanden und hat sich dort lange Zeit am erfolgreichsten durchgesetzt. Aber ihre Geschichte ist auch die von Expansion und Universalisierung, so dass historisch viel für eine Fortsetzung dieses Prozesses spricht, auch wenn man die Universalität der Demokratie nicht prinzipiell wie etwa aus der normativen Überlegenheit oder anthropologischen Universalität des Diskursprinzips zu begründen bereit ist.

Die andere Konfliktlinie verläuft zwischen "prozeduralistischen" und "dezisionistischen" Auffassungen einerseits, "substanzialistischen" und "deliberativen" andererseits: Ankert die Demokratie in einem Verfahrens- und Institutionenkern, wie ihn vor allem das repräsentativ-parlamentarische Set bereitstellt, und in der Fähigkeit zur Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen? Oder ist sie ein allgemeines Lebensprinzip, das in der freien Privatsphäre beginnt und sich in der kommunikativen Konsensfindung fortsetzt, von der die parlamentarische Deliberation nur ein Sonderfall ist?

Historisch scheint eine Tendenz zur deliberativen Demokratie zu führen, in der politischen Praxis ebenso wie in den Ideen und Theorien von Demokratie. Aber historisch hat sich bisher noch keine moderne Demokratie so etablieren oder reformieren können, dass sie auf Repräsentation und Mehrheitsregel, geschweige denn auf die Ausübung von Herrschaft, verzichten könnte. Vielmehr haben historisch alle Projekte, die diesen Verzicht dezidiert verfolgt haben, die Demokratie substanziell gefährdet oder abgeschafft. Wohin diese Aushandlungsprozesse in Zukunft führen werden, ist offen. Das heißt aber nicht, dass die Zukunft der Demokratie beliebig ist oder uns egal sein könnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2000.

  2. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the late Twentieth Century, Oklahoma 1991.

  3. Vgl. John Dunn, Democracy. A History, New York 2006; Robert A. Dahl, On Democracy, New Haven 1998; John Keane, The Life and Death of Democracy, New York 2009.

  4. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Bonn 2009 (Schriftenreihe der bpb, Bd. 745). Ebenfalls mit der Diagnose einer Tendenz zur Entdemokratisierung der westlichen Gesellschaften, doch zugleich theoretisch weiterführend die Arbeiten von Chantal Mouffe (vgl. ihren Beitrag in dieser Ausgabe) und Martin Nonhoff (Hrsg.), Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007.

  5. John Dewey, The Public and Its Problems, New York 1927, S. 110.

  6. Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926².

  7. In der Forschung wird diese Phase heute oft unter Stichworten wie "Konsensliberalismus" und "Cold War Democracy" behandelt. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999.

  8. Vgl. Taylor Branch, Parting the Waters: America in the King Years, 1954-1963, New York 1988.

  9. Vgl. J. Keane (Anm. 3).

  10. Vgl. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008.

  11. Vgl. Johannes Agnoli/Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt/M. 1968.

  12. Ruud Koopmans, Democracy from Below. The New Social Movements and the Political System in West Germany, Boulder 1995.

  13. Vgl. Lawrence B. Glickman, Buying Power. A History of Consumer Activism in America, Chicago 2009.

  14. Vgl. J. Keane (Anm. 3); Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Democracies, in: Aurel Croissant/Wolfgang Merkel (eds.), Consolidated or Defective Democracy?, Democratization, 11 (2004), S. 33-58.

  15. Bekannt als "St. Florians-Prinzip" oder, wie die Amerikaner sagen, NIMBY ("Not in my Backyard!").

  16. Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische, Bonn 2010, S. 108-117 (Schriftenreihe der bpb, Bd. 1039); Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992.

  17. Vgl. Ch. Mouffe (Anm. 16); Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996.

Dr. phil., geb. 1963; Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, zurzeit Gastprofessor an der University of North Carolina, Chapel Hill/USA, Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstraße 20, 14195 Berlin. E-Mail Link: paul.nolte@fu-berlin.de