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Krisenmodus statt Visionen | bpb.de

Krisenmodus statt Visionen Eine Reformbilanz der Regierungen unter Angela Merkel

Reimut Zohlnhöfer

/ 15 Minuten zu lesen

Angela Merkel wurde am 22. November 2005 erstmals zur Bundeskanzlerin gewählt und hat die Bundesrepublik Deutschland seither 16 Jahre lang regiert – so lange wie sonst nur Helmut Kohl. Gleichzeitig ist sie nicht nur die erste weibliche Amtsinhaberin, sondern auch die erste Bundeskanzlerin, die Koalitionen mit unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung führte: Stand sie zunächst zwischen 2005 und 2009 an der Spitze einer Koalition ihrer CDU und deren bayerischer Schwesterpartei CSU mit der SPD, bildeten CDU und CSU zwischen 2009 und 2013 eine Koalition mit der FDP, die ab 2013 wiederum durch eine Koalition von Union und SPD abgelöst wurde, die auch nach der Bundestagswahl 2017 fortbestand.

Doch was ist Angela Merkels Erbe? Welche Reformen sie in ihrer langen Amtszeit auf den Weg gebracht hat – und wie sich Gelingen und Misslingen ihrer Reformbemühungen erklären lassen –, steht im Zentrum dieses Beitrags. Dabei werde ich zunächst die Besonderheiten der Themenkonjunktur von Angela Merkels Kanzlerschaft in Erinnerung rufen, nämlich die Vielzahl von Krisen, auf die sie zu reagieren hatte. Anschließend werden die wichtigsten innenpolitischen Reformen in der Wirtschafts- und Sozial- sowie der Umwelt- und Gesellschaftspolitik auf Spuren der Merkel’schen Kanzlerschaft hin untersucht.

Die Agenda: Politik im dauerhaften Krisenmodus

Politische Akteure möchten üblicherweise die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen gestalten und bestimmte politische Projekte umsetzen. Gleichzeitig müssen Regierungen aber auch auf die Herausforderungen reagieren, die sich ihnen während ihrer Amtszeit stellen. Um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Themen die Wählerschaft während Angela Merkels Kanzlerschaft bewegten, bietet es sich an, auf die Umfragedaten des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen zu blicken. Dort wird regelmäßig nach den beiden wichtigsten Problemen in Deutschland gefragt.

Bei der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin im November 2005 dominierte das Thema Arbeitslosigkeit, für rund 80 Prozent der Befragten gehörte die Arbeitsmarktsituation zu den vordringlichsten Problemen Deutschlands – mit weitem Abstand zu allen anderen Themen. Das war zu jenem Zeitpunkt keineswegs neu, hatte die Beschäftigungslosigkeit doch auch die Agenda der rot-grünen Vorgängerregierung dominiert. Mit der stetigen Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt nahm aber auch die Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit als Problem ab, ohne dass zunächst ein anderes Thema zu dominieren begann. Konkurrenz bekam das Thema Arbeitslosigkeit erst im Herbst 2008, als die Krise des Finanzsystems aus den USA nach Deutschland zu schwappen drohte: Im Oktober 2008 zählte knapp die Hälfte der Befragten (49 Prozent) die Finanzkrise zu den wichtigsten Problemen – noch vor der Arbeitslosigkeit (32 Prozent). Mit dem Übergreifen der Krise auf die Realwirtschaft kehrte die Arbeitslosigkeit allerdings schon bald wieder als wichtigstes Problem zurück. Im September 2009, dem Monat der nächsten Bundestagswahl, erklärten rund 60 Prozent der Befragten sie zum wichtigsten Thema.

Während die Bedeutung der Arbeitslosigkeit im Laufe der zweiten Regierung Merkel (und für ihre restliche Amtszeit) abnahm, kam es im Frühjahr 2011 im Zusammenhang mit der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima kurzzeitig zu einem erheblichen Anstieg der Aufmerksamkeit für die Umweltpolitik, und die Frage nach der Zukunft der Atomkraft avancierte im Frühjahr 2011 zu einem der wichtigsten Probleme. Ab dem Sommer 2011 übernahm dann die Eurokrise die Spitzenposition bei den wahrgenommenen Problemen Deutschlands, wobei auf ihrem Höhepunkt (Oktober 2011) fast zwei Drittel der Befragten (63 Prozent) die Eurokrise als eines der beiden wichtigsten Probleme einstuften. Erst gegen Ende der zweiten Regierung Merkel nahm die Bedeutung dieses Themas wieder deutlich ab.

Wiederum eine andere Problemwahrnehmung herrschte in der dritten Regierungsperiode Merkels (2013–2017). Unterbrochen nur von einem kurzen Wiederaufflackern der Eurokrise im Juli und August 2015 im Zusammenhang mit dem dritten Rettungspaket für Griechenland, dominierte in diesen Jahren die Migrationspolitik die öffentliche Problemwahrnehmung. Interessanterweise gilt dies nicht erst für die Zeit ab der sogenannten Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015, sondern bereits ab dem Sommer 2014. Gleichwohl nahm die Aufmerksamkeit, die dieses Politikfeld in der Öffentlichkeit bekam, ab August 2015 nochmals stark zu: Zwischen August 2015 und Februar 2016 nannten stets über 80 Prozent der Befragten den Bereich "Ausländer, Integration, Flüchtlinge" als eines der beiden wichtigsten Probleme. Auch wenn die Dominanz dieses Themas im weiteren Verlauf der Wahlperiode wieder abnahm, blieb es doch bis ins Frühjahr 2019 – und damit bis in Merkels letzte Regierungsperiode – das am häufigsten genannte politische Problem. Abgelöst wurde es in der Spitzenposition erst im Mai 2019 durch die Umweltpolitik, die im Zuge der Klimaproteste der Fridays for Future-Bewegung große Aufmerksamkeit erfuhr: Im September 2019 waren 59 Prozent der Befragten der Meinung, dass das Thema "Umwelt, Klima, Energiewende" zu den wichtigsten Problemen in Deutschland gehörte. Dass auch die Umweltpolitik ab dem Frühjahr 2020 wieder deutlich an Prominenz einbüßte, lag schließlich an der Coronapandemie, die schon im März 2020 von 82 Prozent der Befragten als eines der wichtigsten Probleme eingestuft wurde – ein Aufmerksamkeitsniveau, das insbesondere in den Wintermonaten 2020/21 sogar noch übertroffen wurde.

Schon dieser knappe Überblick über die Wahrnehmung der wichtigsten politischen Probleme während der Merkel-Jahre zeigt, dass die Koalitionen der ersten Bundeskanzlerin allzu oft im Krisenmodus regieren mussten: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise – die Merkel-Regierungen sahen sich mit einer ungewöhnlichen Häufung schwerwiegender Herausforderungen konfrontiert, die weitreichende Maßnahmen und erhebliche Änderungen bisheriger Politikroutinen erforderten.

Wirtschafts- und Sozialpolitik: Abschied von der Liberalisierung

Zumindest zu Beginn von Angela Merkels Amtszeit beschäftigten die Bürgerinnen und Bürger wie die Bundesregierung allerdings noch klassische wirtschaftspolitische Themen, insbesondere die Arbeitslosigkeit. Die zweite rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte mit der Agenda 2010 und deren Kernstück, den Hartz-Reformen, weitreichende, aber unpopuläre Maßnahmen verabschiedet – in den meisten Fällen mit der Zustimmung der von Merkel geführten CDU im Bundesrat. Allerdings gingen diese Reformen der CDU und ihrer Vorsitzenden zunächst nicht weit genug. Vielmehr profilierte sich Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 mit einem weitreichenden wirtschaftspolitischen Reformprogramm. So wurde unter anderem eine Liberalisierung des Kündigungsschutzes, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer einschließlich des Spitzensteuersatzes sowie eine Gesundheitsprämie gefordert, nach der jeder/jede erwachsene Versicherte den gleichen Beitrag zur Krankenversicherung zahlen sollte, allerdings mit sozialem Ausgleich für Versicherte mit niedrigem Einkommen. Viele dieser Vorschläge waren politisch höchst umstritten, ja, Medien attestierten Merkel sogar, sie habe "für das radikalste Reformprogramm, mit dem eine Volkspartei je in die politische Schlacht gezogen ist", gestanden.

Dieses Programm wurde dann allerdings auch für das enttäuschende Wahlergebnis der Union bei der Bundestagswahl 2005 verantwortlich gemacht, das letztlich ein Bündnis mit der SPD erzwang: Wegen des schwachen Ergebnisses der Union wurde keine Bundestagsmehrheit mit der FDP erreicht, die die liberalen Reformen mitgetragen hätte. Mit der SPD als Koalitionspartner waren die liberalen und unpopulären wirtschafts- und sozialpolitischen Ideen dagegen nicht durchzusetzen. Der Kündigungsschutz wurde nicht angetastet, die Steuerreform beschränkte sich auf die Unternehmenssteuern und die Gesundheitsprämie fand ebenfalls nicht die Zustimmung des Koalitionspartners. Sogar die wichtigsten Privatisierungsvorhaben, etwa bei der Bahn, scheiterten. Lediglich die Mehrwertsteuererhöhung und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ließen sich durchsetzen.

Wer allerdings erwartet hatte, dass der liberale Reformschub nach der Bundestagswahl 2009 nachgeholt würde – als die schon 2005 angestrebte Koalition mit der FDP realisiert werden konnte –, sah sich getäuscht. Weder die 2005 angekündigte Liberalisierung des Kündigungsschutzes noch die damals schon geforderte Strukturreform der Einkommensteuer schafften es ins Bundesgesetzblatt; auch die Schritte zur Durchsetzung der Gesundheitsprämie blieben allenfalls vorsichtig, und andere wirtschaftsliberale Reformprojekte wurden, mit sehr wenigen Ausnahmen (etwa der Liberalisierung des Fernbuslinienverkehrs), nicht einmal angegangen.

Im Gegenteil kam es sogar zu einer – zunächst sehr vorsichtigen – Modifizierung oder Rücknahme der Liberalisierungsreformen der Vorgängerregierungen, insbesondere der zweiten rot-grünen Koalition. In der ersten Merkel-Regierung wurden beispielsweise die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere verlängert und einzelne "außerplanmäßige" Rentenerhöhungen vorgenommen sowie sektorale Mindestlöhne eingeführt. Die zweite Regierung Merkel schaffte die sogenannte Praxisgebühr ab, die Versicherte einmal im Quartal bei Arztbesuchen zu zahlen hatten, und hielt überraschenderweise an den sektoralen Mindestlöhnen fest – obwohl deren Aufhebung im Koalitionsvertrag zumindest erwogen worden war.

Mit der Rückkehr der SPD in die dritte Regierung Merkel verschärfte sich das Tempo der Rücknahme liberalisierender Reformen. Das wichtigste Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Einführung eines flächendeckenden allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Aber auch die Re-Regulierung der Leiharbeit, die Mietpreisbremse, die "Mütterrente" oder die sogenannte Rente mit 63 für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mindestens 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, lassen sich hier anführen. Auch in Merkels letzter Amtszeit zeigt sich die Tendenz zur Rücknahme früherer Liberalisierungsschritte, etwa mit der Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Damit muss der Zusatzbeitrag, den Versicherte seit 2005 allein zu bezahlen hatten, zur Hälfte vom Arbeitgeber getragen werden.

Ein Grund, warum die ursprünglich liberale wirtschaftspolitische Agenda Angela Merkels nicht umgesetzt wurde, ist damit bereits deutlich geworden: Die SPD, in drei der vier Merkel-Regierungen Koalitionspartner, mochte diese Liberalisierungsagenda nicht mittragen und setzte sich sogar für eine Rücknahme vieler Reformen ein, die sie selbst unter Gerhard Schröder durchgesetzt hatte. Einzige Ausnahme blieb die Erhöhung des Renteneintrittsalters, für die sich vor allem der sozialdemokratische Sozialminister Franz Müntefering eingesetzt hatte und die gegen erheblichen Widerstand der eigenen Partei durchgesetzt wurde.

Daneben spielte die wirtschaftliche Entwicklung eine wichtige Rolle. Die Arbeitslosenzahlen sanken während Merkels Regierungszeit fast kontinuierlich, selbst die wirtschaftlichen Einbrüche durch die Finanz- und (soweit derzeit absehbar) die Coronakrise gingen, durchaus unterstützt durch die Regierungspolitik, am Arbeitsmarkt glimpflich vorbei. Gleichzeitig verbesserte sich die Haushaltssituation bis zum Beginn der Coronapandemie merklich, seit 2014 kam der Bundeshaushalt ohne neue Schulden aus, und der Schuldenstand konnte gesenkt werden. Vor diesem Hintergrund erschienen wirtschafts- und sozialpolitische Strukturreformen, die aller Voraussicht nach unpopulär gewesen wären, weder notwendig noch politisch opportun, zumal die politischen Ressourcen der Bundesregierung bald durch andere Krisen gebunden waren.

Umgekehrt kam es im Verlauf der Finanz- und der Coronakrise, die jeweils mit einem massiven Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und einer Abnahme des BIP um 5,7 Prozent (2009) beziehungsweise 5,0 Prozent (2020) einhergingen, zu einer Rückkehr des wirtschaftspolitischen Interventionsstaates. In beiden Fällen wurden milliardenschwere Programme zur Unterstützung unterschiedlicher Wirtschaftssektoren sowie zur Ankurbelung der Wirtschaft verabschiedet, im Rahmen der Finanzkrise kam es sogar zu Verstaatlichungen. Wenngleich solche Programme ohne die besonderen Herausforderungen nicht möglich gewesen wären und stets der Ausnahmecharakter eines derart massiven Eingriffs der Regierung in die Wirtschaft betont wurde, ist doch bemerkenswert, in welchem Umfang die Bundesregierungen unter Angela Merkel in diesen Situationen Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung übernahmen.

Wenig Ambitionen in der Umwelt- und Gesellschaftspolitik?

In der Umweltpolitik nahm in den ersten beiden Merkel-Regierungen die Atomenergie eine besondere Rolle ein. Die rot-grüne Vorgängerregierung hatte mit dem sogenannten Atomkonsens im Jahr 2000 einen Ausstieg aus der Kernenergie über die kommenden rund 20 Jahre in Gang gesetzt – gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP. Rückgängig machen ließ sich der Atomausstieg mit der SPD als Koalitionspartner in der Großen Koalition ab 2005 für die CDU/CSU nicht. Erst mit der Bildung der christlich-liberalen Koalition ab 2009 wurde ein Politikwechsel möglich und 2010 auch vollzogen. So wurden die Laufzeiten der Kernkraftwerke um 8 bis 14 Jahre verlängert; der Neubau von Atomkraftwerken blieb allerdings verboten. Atomenergie wurde als "Brückentechnologie" betrachtet, die den Übergang zu einer Energieversorgung aus erneuerbaren Energiequellen günstig und klimafreundlich gestalten sollte. Dennoch war die Entscheidung höchst umstritten – und sie hielt auch nur ein halbes Jahr. Denn die Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima, ausgelöst durch einen Tsunami am 11. März 2011, führte eine Kehrtwende in der deutschen Atompolitik herbei. Schon am 30. Juni 2011 stimmte der Bundestag einem Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 zu. Eine wichtige Rolle für diese Kehrtwende spielte das sich massiv verändernde Meinungsklima in Deutschland sowie die Landtagswahlen, die kurz nach der Katastrophe in Fukushima abgehalten wurden und bei denen die Regierungsparteien schlecht abschnitten. Auch in diesem Fall richtete sich die Politik der Regierung Merkel stark an externen Ereignissen und dem Wettbewerb um Wählerstimmen aus.

In den folgenden Jahren verschwand die Umweltpolitik weitgehend von der Agenda. Analytikerinnen fanden in der Umweltpolitik "keinen Grund zum Feiern", die umweltpolitische Bilanz verschlechterte sich im internationalen Vergleich, und Deutschland drohte sogar seine Klimaschutzziele für das Jahr 2020 zu verfehlen. Zwar gelang die zugesagte Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen schließlich auf den letzten Metern doch noch, aber dies lag zu einem erheblichen Teil am coronabedingten Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und des Verkehrs im Jahr 2020.

Das im November 2019 verabschiedete Klimaschutzgesetz war dagegen wiederum eine Reaktion auf Druck von außen. In diesem Fall waren es die Klimastreiks der Fridays for Future-Bewegung mit ihrer Forderung nach einer wesentlich entschlosseneren Klimaschutzpolitik, die die politische Agenda ganz erheblich beeinflussten und auch das Klimaschutzgesetz mitinitiierten. Dessen Verschärfung im Juni 2021 schließlich war eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts – auch hier ist also ein externer Auslöser ursächlich für eine politische Veränderung.

In der Gesellschaftspolitik finden sich am Ende der Regierungszeit Angela Merkels durchaus weitreichende Veränderungen, die das Zusammenleben in Deutschland beeinflusst haben und weiter beeinflussen werden. Darunter fällt der Ausbau der Kinderbetreuung ebenso wie die Einführung einer Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, nicht zuletzt aber auch die Aufnahme fast einer Millionen Flüchtlinge im Jahr 2015. Und auch bei den meisten dieser Projekte und Ereignisse zeigt sich, dass der entscheidende Impuls von außen kam.

Der Ausbau der Kinderbetreuung etwa geht auf Ideen der Sozialdemokratin Renate Schmidt zurück, der zuständigen Ministerin in der zweiten Regierung Schröder, die ihre Vorstellungen damals aber nicht auf die Agenda der rot-grünen Koalition setzen konnte. Nach der Amtsübernahme Merkels verfolgte Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) diese Politik weiter und setzte sie mit Unterstützung Merkels durch, teilweise gegen expliziten Widerstand aus der eigenen Fraktion. Ob hier von der Durchsetzung programmatischer Positionen gesprochen werden kann, ist fraglich, jedenfalls für die Union dürfte das eher nicht gelten; in jedem Fall dürfte für diese Reformen aber die Erschließung neuer Wählerinnengruppen sowie der Druck der Arbeitgeber eine wichtige Rolle gespielt haben.

Noch deutlicher ein Projekt anderer Parteien war die Durchsetzung der gleichgeschlechtlichen Ehe am Ende der 18. Wahlperiode 2017. Alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien befürworteten die Möglichkeit der – auch in der Bevölkerung breit akzeptierten – Eheschließung für homosexuelle Paare und machten sie zur Bedingung für den Eintritt in eine nächste Bundesregierung. Angesichts der Isolierung der Unionsparteien in dieser Frage erklärte Angela Merkel sie kurzerhand zur Gewissensentscheidung, woraufhin das Gesetz mit breiter Mehrheit, aber gegen die Stimmen des größeren Teils der Union (und auch gegen die Stimme Merkels selbst) verabschiedet wurde.

Der Politikbereich mit der stärksten Polarisierung während der Merkel-Jahre war aber zweifellos jener der Migrationspolitik. Die Vorstellung, dass sich in der Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 die politischen Überzeugungen Merkels niedergeschlagen hätten, scheint allerdings nicht recht plausibel. Jedenfalls lässt sich in den bis dahin immerhin fast zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft wenig finden, was in diese Richtung deutet; und auch die Nachzeichnung der entsprechenden Politikprozesse im Sommer 2015 spricht eher nicht für eine geplante Umsetzung von klaren politischen Präferenzen. Nicht vergessen werden sollte zudem, dass Angela Merkel wiederholt betont hat, die Ereignisse des Jahres 2015 dürften sich nicht wiederholen, und dass sie ab dem Herbst 2015 auch aktiv versuchte, die Zahl der Migranten und Migrantinnen zu begrenzen, sei es durch ein Abkommen mit der Türkei, die Verschärfung des Asylrechts oder die Verteilung von Migranten innerhalb der EU. Auch in diesem Fall dürfte also eine Gemengelage aus hohem Problemdruck, Medientenor und Rücksicht auf die Wählerinnen und Wähler ihre Politik stärker geprägt haben als eine programmatische Orientierung der Bundeskanzlerin oder ihrer Partei.

Fazit

Obwohl hier nur in groben Zügen einige wichtige Reformen kursorisch gestreift werden konnten, wird deutlich, dass sich ein klares Reformprofil oder gar eine politische Vision, für die die erste deutsche Bundeskanzlerin steht, kaum identifizieren lassen. Die liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, mit der sie im Wahlkampf 2005 angetreten war, verschwand mit wenigen Ausnahmen bereits zum Amtsantritt und kam auch kaum mehr wieder zum Vorschein – interessanterweise auch nicht in der Koalition mit der FDP, die diesen Vorstellungen offen gegenübergestanden hätte. Auch gesellschaftspolitisch lassen sich zwar eine ganze Reihe von Veränderungen konstatieren, aber es fällt schwer, hierin die Realisierung eines eigenen Projekts der Bundeskanzlerin oder ihrer Partei zu sehen. Auch in der Energie- und Umweltpolitik weisen die Regierungen der ehemaligen Umweltministerin aus der letzten Regierung Helmut Kohls (1994–1998) kein klares Profil auf, wie schlaglichtartig die 360-Grad-Wende in der Atompolitik verdeutlicht. In vielen Fällen war es gerade in der Umweltpolitik die öffentliche Mobilisierung, die Wandel hervorbrachte, wie beim Atomausstieg oder dem Klimaschutzgesetz.

Wie lässt sich dieser Befund deuten? Eine abschließende Erklärung kann hier nicht geboten werden, aber es lassen sich doch spezifische Faktoren benennen, die den Mangel eines dezidierten Reformprofils erklären können. Institutionell spielte die Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen in vielen Fällen eine Rolle, insbesondere die SPD war durchaus erfolgreich in der Durchsetzung ihrer Projekte, vom Mindestlohn bis zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die oft nicht recht zu den klassischen Positionen der Union passten.

In anderen Fällen machte es die politische Themenkonjunktur den Regierungen Merkel schwer, eigene Prioritäten umzusetzen. Die Vielzahl an Krisen, mit denen sich Angela Merkel und ihre Koalitionen auseinanderzusetzen hatten, beanspruchte die politischen Ressourcen der Regierenden aufs Äußerste. Die Krisenbekämpfung nahm in den – jeweils lang andauernden – Hochphasen der Probleme einerseits die meiste Zeit und Energie der zentralen politischen Entscheidungsträger in Anspruch; andererseits benötigten die Bundeskanzlerin und ihre Koalitionen auch ihre politischen Ressourcen, um die weitreichenden und nicht selten umstrittenen Maßnahmen der Krisenbekämpfung zu rechtfertigen und durchzusetzen. Merkel und ihren Kabinetten standen so deutlich weniger Zeit und politische Ressourcen zur Verfügung, um eigene politische Projekte zu verfolgen – also um agieren, statt bloß reagieren zu können.

Drittens stellte häufig der Blick auf die Wählerschaft und/oder mögliche Koalitionsoptionen eine wichtige Restriktion für das Reformprofil dar. Die Abkehr vom im Wahlkampf angekündigten wirtschaftsliberalen Kurs 2005 war eine unmittelbare Reaktion auf das enttäuschende Abschneiden bei der Bundestagswahl, und auch die schrittweise Akzeptanz eines Mindestlohns hatte in erheblichem Umfang mit dessen Beliebtheit im Elektorat zu tun. Beim Atomausstieg und der Einführung der Ehe für homosexuelle Paare, die Merkel und die Union hinnahmen, wenngleich sie ihr mehrheitlich nicht zustimmten, dürfte neben der Wählerschaft auch die Koalitionsfähigkeit eine wichtige strategische Rolle gespielt haben. Bei letzterer hatten alle für die Union als Koalitionspartner in Frage kommenden Parteien deutlich gemacht, dass sie nur in eine Koalition eintreten würden, die den Weg für die "Ehe für alle" freimachen würde, sodass gewissermaßen die strategische Notwendigkeit bestand, dieses Thema "abzuräumen". Und der Atomausstieg beseitigte ein erhebliches Hindernis für eine mögliche Koalition mit den Grünen.

Gleichzeitig verlor die Union gerade durch diese Dynamik in der Ära Merkel aber viele Alleinstellungsmerkmale, von der Wirtschafts- bis zur Migrations-, von der Familien- bis zur Verteidigungspolitik; das Ende der Wehrpflicht wurde ja ebenfalls in der Ära Merkel beschlossen. Statt eigene Projekte oder gar Visionen umzusetzen, erscheinen Angela Merkel und ihre Union vielfach als "Getriebene" verschiedener Krisen, der öffentlichen Meinung und der Koalitionspartner. Ob sich mit dieser programmatischen Aushöhlung letztlich der Absturz der Union bei der Bundestagswahl 2021 erklären lässt, bei der diese nicht mehr vom Kanzlerinnenbonus Merkels profitieren konnte, wird zukünftige Forschung analysieren müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alle folgenden Daten stammen aus: Forschungsgruppe Wahlen, Wichtige Probleme in Deutschland, Externer Link: http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_II/.

  2. Markus Feldenkirchen et al., Begrenzte Reichweite, in: Der Spiegel, 14.11.2005, S. 24.

  3. Vgl. Udo Zolleis/Julia Bartz, Die CDU in der Großen Koalition – Unbestimmt erfolgreich, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel, 2005–2009, Wiesbaden 2010, S. 51–68.

  4. Vgl. CDU/CSU/FDP, Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, Berlin 2009, S. 21.

  5. Vgl. Manfred G. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009), in: Egle/Zohlnhöfer (Anm. 3), S. 302–326.

  6. Vgl. Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt für Deutschland 2020, Wiesbaden 2021, S. 7. Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Presse/Pressekonferenzen/2021/BIP2020/pressebroschuere-bip.pdf?__blob=publicationFile.

  7. Vgl. Christian Huß, Durch Fukushima zum neuen Konsens? Die Umweltpolitik von 2009 bis 2013, in: Reimut Zohlnhöfer/Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel, 2009–2013, Wiesbaden 2015, S. 521–553.

  8. Annette Elisabeth Töller, Kein Grund zum Feiern! Die Umwelt- und Energiepolitik der dritten Regierung Merkel (2013–2017), in: Reimut Zohlnhöfer/Thomas Saalfeld (Hrsg.), Zwischen Stillstand, Politikwandel und Krisenmanagement. Eine Bilanz der Regierung Merkel, 2013–2017, Wiesbaden 2019, S. 569–590.

  9. Vgl. Friedbert W. Rüb/Friedrich Heinemann/Reimut Zohlnhöfer, Country Report Germany, Sustainable Governance Indicators 2020, abrufbar unter: Externer Link: http://www.sgi-network.org.

  10. Der am 6.2.2019 vom Kabinett verabschiedete Klimaschutzbericht 2018 prognostizierte, dass Deutschland seine Treibhausgasemissionen bis 2020 nicht um die geplanten 40, sondern nur um 32 Prozent würde senken können; Externer Link: http://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutzbericht_2018_bf.pdf.

  11. Vgl. Judith Raisch/Reimut Zohlnhöfer, Beeinflussen Klima-Schulstreiks die politische Agenda? Eine Analyse der Twitterkommunikation von Bundestagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3/2020, S. 667–682.

  12. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20.

  13. Vgl. Annette Henninger/Angelika von Wahl, Das Umspielen von Veto-Spielern. Wie eine konservative Familienministerin den Familialismus des deutschen Wohlfahrtsstaates unterminiert, in: Egle/Zohlnhöfer (Anm. 3), S. 361–379.

  14. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/244, 30. Juni 2017, S. 25117–25120.

  15. Vgl. zum Beispiel Ludger Helms/Femke Van Esch/Beverly Crawford, Merkel III: From Committed Pragmatist to 'Conviction Leader'?, in: German Politics 3/2019, S. 350–370.

  16. Vgl. Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Inneren der Macht, Berlin 2017.

  17. Vgl. Reimut Zohlnhöfer/Fabian Engler, Courting the Voters? Policy Implications of Party Competition for the Reform Output of the Second Merkel Government, in: German Politics 4/2014, S. 284–303.

  18. Alexander (Anm. 16).

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ist Professor für Politikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
E-Mail Link: reimut.zohlnhoefer@ipw.uni-heidelberg.de