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Außenseiter oder Spitzenreiter? Das "Modell Deutschland" und die europäische Energiepolitik | Ende des Atomzeitalters? | bpb.de

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Außenseiter oder Spitzenreiter? Das "Modell Deutschland" und die europäische Energiepolitik

Severin Fischer

/ 15 Minuten zu lesen

Soll das "Modell Deutschland" bei der "Energiewende" Schule machen und die Transformation des Energiesystems gelingen, ist die Mitgestaltung der EU-Energiepolitik für die Bundesrepublik von größter Bedeutung.

Einleitung

Deutschland steht nach mehreren Jahrzehnten intensiver Debatten über die Rolle der Atomenergie vor der Befriedung eines gesellschaftlichen Konflikts, der die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik über Generationen hinweg geprägt hat. Mit Beginn der ersten Protestmärsche in Wyhl, Brokdorf oder Wackersdorf hat sich die "Atomdebatte" von einer energiepolitischen oder energiewirtschaftlichen Technologieentscheidung hin zu einer politischen Gewissensfrage gewandelt. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso erstaunlicher, dass die Entscheidungen zur "Energiewende" und der endgültige deutsche Atomausstieg zum Jahr 2022 als Folge des Reaktorunfalls von Fukushima von einer Koalitionsregierung aus CDU, CSU und FDP besiegelt wurden - drei Parteien, die wenige Monate zuvor noch eine Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke beschlossen hatten.

Zwar unterscheidet sich der erneute Atomausstieg in seiner Wirkung kaum von dem Beschluss der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder aus dem Jahr 2000. Er gewinnt jedoch durch die nunmehr parteiübergreifende Zustimmung einen Grad an Legitimation und Glaubwürdigkeit, der dem vermeintlichen "Konsens" mit der Energiewirtschaft elf Jahre zuvor fehlte. Daher erscheint es unwahrscheinlich, dass sich eine der etablierten politischen Parteien im Verlauf der kommenden zehn Jahre für eine wiederholte Verlängerung der Laufzeiten der wenigen noch am Netz verbliebenen Kraftwerke einsetzen wird. Deutschland dürfte damit im Jahr 2023 unter den zehn größten Volkswirtschaften der Welt die einzige sein, die freiwillig auf die Nutzung der Atomenergie verzichtet. Nachdem mit der Energiewende nun die Entscheidung zur Transformation des Energiesystems getroffen wurde, wird es in den kommenden Jahren um die Gestaltung der Rahmenbedingungen für diesen Prozess gehen.

"Modell Deutschland": Ausstieg und Einstieg

Die energiepolitische Debatte in Deutschland auf das Für und Wider der Kernenergie zu beschränken, würde der Komplexität des Themas nicht gerecht werden. Im Strategiepapier der Bundesregierung zur Energiewende vom Juni 2011 wurden neben dem Laufzeitende der 18 Atomkraftwerke auch drei andere Zielsetzungen aus dem Energiekonzept 2010 bestätigt. Dazu gehören erstens die Klimaschutzziele, die eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen von 40 Prozent bis 2020, 50 Prozent bis 2030 und 80-95 Prozent bis 2050 gegenüber dem Jahr 1990 vorsehen. Zweitens sollen die erneuerbaren Energien als Anteil am Bruttoendenergieverbrauch 18 Prozent im Jahr 2020 erreichen und auf 30 Prozent im Jahr 2030 sowie schließlich 60 Prozent im Jahr 2050 gesteigert werden. Als dritten Schwerpunkt formulierte die Bundesregierung in ihrem Energiekonzept auch für die Energieeffizienz Zielwerte, die auf eine Verringerung des Primärenergieverbrauchs um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und 50 Prozent bis zum Jahr 2050 gegenüber dem Jahr 2008 zielen.

Während die Klimaschutzziele eigenständige umweltpolitische Zielsetzungen darstellen, sind die Vorgaben zu den erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz Voraussetzungen, um Atomausstieg und Klimaschutz gemeinsam zu ermöglichen. Durch diese Festlegungen werden nicht nur energie- und klimapolitische Entwicklungspfade vorgezeichnet. Die quantitativen Zielsetzungen dienen auch als industriepolitische Wegmarken und werden teilweise durch politische Steuerungsinstrumente unterlegt. So dient etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) einer besseren Integration alternativer Technologien in den Energiemarkt und ermöglicht die Schaffung weiterer Arbeitsplätze in diesem Bereich in Deutschland. Auch die Klimaschutz- und Effizienzvorgaben stellen ein Signal an Branchen dar, die in effiziente und saubere Technologien investieren wollen. Somit wurde ein energiepolitischer Veränderungsprozess für die Bundesrepublik formuliert, der nicht nur einen Ausstieg aus der Atomkraft, sondern auch einen Einstieg in ein neues Energiesystem festlegt: das "Modell Deutschland".

Die Erfolgschancen dieses Modells lassen sich anhand unterschiedlichster Kriterien bemessen und werden durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst. Entscheidend für eine erfolgreiche Transformation des Energiesystems sind dabei nicht nur die Gestaltung energiepolitischer Steuerungsmechanismen, sondern ebenso die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich ein solcher Prozess vollzieht. Für Deutschland gehört dazu seit einigen Jahren seine politische und energiewirtschaftliche Integration in die Europäische Union (EU). Dabei ist einerseits entscheidend, wie die europarechtlichen Regelungen ausgestaltet sind und inwieweit diese eine Veränderung des Energiesystems zulassen, ermöglichen oder unterstützen. Andererseits stellt sich die Frage, wie Nachbarstaaten und andere EU-Mitgliedstaaten ihre Energiepolitik ausrichten und welche Wechselwirkungen dies mit der deutschen Energiepolitik haben könnte.

Ob das Modell eines kernenergiefreien und klimaverträglichen Wirtschaftssystems letztlich erfolgreich ist, bemisst sich jedoch nicht nur an seinen umweltpolitischen Errungenschaften. Auch soziale und makroökonomische Faktoren müssen dafür herangezogen werden. Genauso zählt auch die Attraktivität des Modells für andere Staaten zu den Erfolgsbedingungen. Dies gilt insbesondere für die Übernahme von umwelt- und klimapolitischen Normen. Sollte sich das deutsche Modell als erfolgreich erweisen, wäre zu erwarten, dass zunächst entsprechende Nachahmungseffekte in der EU auftreten, die sich wiederum positiv auf die Veränderung europapolitischer Rahmenbedingungen auswirken könnten. Erst wenn die Spielregeln gesamteuropäisch entscheidend verändert werden, kann sich ein neues Wirtschaftssystem in einem integrierten Europa auch dauerhaft etablieren.

Der vorliegende Beitrag soll als Einstieg in die Debatte über Erfolgschancen des "Modells Deutschland" und die notwendigen europapolitischen Implikationen einer Umgestaltung des Energiesystems dienen. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche europapolitischen Steuerungsinstrumente für einen Erfolg des energiepolitischen "Modells Deutschland" entscheidend sein könnten. Zunächst sollen jedoch die energiepolitischen Entwicklungspfade in einigen anderen EU-Ländern knapp dargestellt werden.

Was machen die Nachbarn?

Mit 58 Atomreaktoren stellt Frankreich mehr als ein Drittel aller Kernkraftwerke in der EU und erzeugt damit über 75 Prozent seines Stroms. Durch die Ergänzung mit Wasserkraft und Erdgas kann Frankreich heute eine Stromversorgung vorweisen, die beinahe ohne klimaschädliche Emissionen auskommt und im europäischen Kostenvergleich weit unter dem Durchschnitt liegt. Unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy wird das Land auch in Zukunft sein Nuklearprogramm fortsetzen.

Polen dagegen ist wie kein anderer EU-Mitgliedstaat abhängig von Stein- und Braunkohle. Rund 95 Prozent der Elektrizität werden durch die Verbrennung dieser Rohstoffe erzeugt. Die Anforderungen der Klimapolitik sowie die steigenden Kosten des Kohlebergbaus erfordern allerdings auch dort die Einleitung eines energiepolitischen Transformationsprozesses. Die Hoffnung liegt dabei weniger in den erneuerbaren Energien, als in den vermuteten riesigen Schiefergasvorkommen sowie im Bau von zwei Atomkraftwerken.

Italien ist derzeit das einzige Land unter den acht führenden Industrienationen der Welt (G8), das die Kernenergie selbst nicht nutzt. Das positive Bild des kernenergiefreien Industriestaats wird jedoch durch die Tatsache getrübt, dass Italien im Jahr 2008 etwa elf Prozent des im Land verbrauchten Stroms aus dem Ausland importierten musste - in erster Linie aus Frankreich.

Großbritannien fühlt sich seit einigen Jahren wie kaum ein anderes Land in Europa dem Klimaschutz verpflichtet und hat sich vorgenommen, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2025 gegenüber 1990 um die Hälfte zu senken. Dafür setzt das Vereinigte Königreich auf einen Mix aus Kernenergie, erneuerbaren Energien und fossilen Brennstoffen unter Anwendung der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS). Eine Reihe alter Atomkraftwerke soll in den nächsten zehn Jahren durch leistungsfähigere und sicherere Neubauten ersetzt werden.

Die vier Beispiele zeigen, dass es in den 27 EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche nationale Strategien gibt. Die 135 derzeit in der EU betriebenen Atomkraftreaktoren befinden sich in 14 Staaten. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass 13 EU-Länder bislang auf die Nutzung der Kernenergie verzichten. Von diesen hegen lediglich Polen und Litauen Ambitionen, dies zu ändern. Doch auch die Liste der "Aussteiger" ist kurz. Neben Deutschland gibt es nur in Belgien einen gültigen Ausstiegsbeschluss, der sich noch über Jahrzehnte hinauszögern dürfte. Hinzu kommt, dass es sich bei der Mehrheit der atomenergiefreien Staaten um kleinere EU-Mitglieder handelt, die zudem häufig auf Stromimporte angewiesen sind.

Rolle der europäischen Energiepolitik

In wenigen Politikfeldern hat sich in den vergangenen Jahren eine ähnliche "Europäisierung" vollzogen wie in der Energiepolitik. Dies mag vor dem Hintergrund der dargestellten Unterschiede gerade in der Bewertung der Kernenergie überraschen, scheint die Debatte über die Nutzung der Atomkraft doch gerade in Deutschland eine zentrale energiepolitische Grundsatzentscheidung zu berühren. Die Europäisierungstendenzen in der Energiepolitik finden sich vorrangig in den Bereichen der Marktorganisation und der klimaverträglichen Umgestaltung des Energiesystems. So können die Entwicklung eines funktionierenden Energiebinnenmarkts, die Auflösung von Monopolen, der Verbraucherschutz, die Festlegung von Energieeffizienznormen oder die gemeinsamen Zielsetzungen für Klimaschutz und erneuerbare Energien als Errungenschaften der europäischen Institutionen in der Energiepolitik gesehen werden. Mit der Vertragsreform von Lissabon wurde die faktische Existenz einer gemeinsamen Energiepolitik erstmals auch primärrechtlich verankert. Mit dem neuen Vertragstext besitzt die EU nun die explizite Kompetenz und den Auftrag zur Gestaltung europäischer Energiepolitik.

Gleichzeitig wurden jedoch auch die Grenzen der EU-Energiepolitik in den Verträgen festgehalten. So heißt es im Artikel 194 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): "Diese Maßnahmen [der gemeinsamen Energiepolitik, S.F.] berühren (...) nicht das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen." Während also Richtlinien und Verordnungen für den Handel mit Strom oder den Schutz der Umwelt im Rahmen der EU-Gesetzgebung verabschiedet werden können, bleibt die Entscheidung über die Nutzung einzelner Energiequellen oder Energietechnologien in der Hand der Mitgliedstaaten. Auch zukünftig ist nicht zu erwarten, dass die nationalen Regierungen an dieser Stelle einen Eingriff aus Brüssel zulassen werden.

Doch nicht nur auf vertraglicher Ebene, sondern auch mit Blick auf die strategischen Ziele folgt Europa zunehmend einem gemeinsamen Weg. So soll etwa der gemeinsame Energiebinnenmarkt bis zum Jahr 2014 vollendet sein. Dies würde den Fluss von Strom und Gas ohne rechtliche Hindernisse ermöglichen und den grenzüberschreitenden Handel stärken. Gleichzeitig haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU bereits im Jahr 2007 auf gemeinsame Ziele für die umweltverträgliche Umgestaltung der Energiepolitik geeinigt. So will die EU bis zum Jahr 2020 ihre Treibhausgasemissionen um 20 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 reduzieren. Der Anteil erneuerbarer Energien soll sich auf 20 Prozent erhöhen und der Energieverbrauch ebenfalls um 20 Prozent gesenkt werden ("20-20-20-Ziele"). Um diese Zielsetzungen zu erreichen, wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe von Steuerungsinstrumenten auf EU-Ebene installiert, die diesen Transformationsprozess ermöglichen sowie gleiche Bedingungen in allen Mitgliedstaaten und für alle Marktteilnehmer schaffen sollen. Dazu gehört wiederum die Gesetzgebung auf dem Energiebinnenmarkt, die diskriminierendes Verhalten gegenüber neuen Anbietern verbietet, den Netzzugang reguliert und eine weitgehende Trennung von Stromerzeugung und Netzbetrieb garantiert. Zur Erfüllung der gemeinsamen Klimaschutzziele wurde das EU-Emissionshandelssystem installiert, mit dem die Emissionen im Bereich der Stromerzeugung und der Industrie begrenzt werden sollen. Schließlich wurde auch das gemeinsame Ziel für die erneuerbaren Energien auf EU-Ebene in Form nationaler Zielsetzungen übersetzt.

Soll die "Energiewende" gelingen, ist für Deutschland die Mitgestaltung der europäischen Energiepolitik von wachsender Bedeutung. Will man gleichzeitig Atomausstieg, Klimaschutz und den Ausbau erneuerbarer Energien erreichen, ohne dabei seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufs Spiel zu setzen, stellt dies eine Herausforderung dar, die nicht alleine im nationalen Rahmen gelöst werden kann. Insbesondere dann nicht, wenn das "Modell Deutschland" sich erst durch die Nachahmung in anderen Staaten der Welt dauerhaft legitimiert. Während viele Stellschrauben in der deutschen Politik bereits angepasst wurden, liegt eine zentrale Aufgabe nun darin, deutsche Zielsetzungen konsequent in die weitere Entwicklung europäischer Politik einzubinden und hierfür Bündnispartner zu gewinnen. Diese Notwendigkeit soll im Folgenden anhand von drei Beispielen verdeutlicht werden.

Erfolgsbedingungen der deutschen Energiepolitik in Europa

Nukleare Sicherheit.

Die Nutzung der Atomenergie ist unter den EU-Mitgliedstaaten stark umstritten, wie die einzelnen Länderbeispiele gezeigt haben. Zudem existiert auf europäischer Ebene weder eine gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit noch ein Regulierungsregime, mit dem der Betrieb von Kernkraftwerken gesteuert werden könnte. Ein europaweiter Atomausstieg erscheint trotz der Ereignisse in Fukushima damit auf absehbare Zeit unrealistisch. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Maßnahmen in anderen Bereichen zu ergreifen, um die deutsche Entscheidung in die Europapolitik zu übersetzen.

Wenn also, wie dargestellt, keine Möglichkeit zur Kontrolle der Ursache eines Problems besteht, muss die politische Antwort im präventiven Umgang mit den möglichen Folgen liegen. Dies bedeutet in der Praxis die Festlegung von gemeinsamen Sicherheitsnormen, um das nukleare Risiko, das von den 143 Reaktoren in der EU ausgeht, stetig zu reduzieren. Auch wenn die Entscheidung über die Nutzung verschiedener Energietechnologien national getroffen wird, so bleibt die EU aufgrund ihrer räumlichen Zusammengehörigkeit doch eine Risikogemeinschaft. Diese Tatsache sollte sich auch im gemeinsamen Management von Risiken widerspiegeln. Bislang hat die Festlegung einheitlicher Sicherheitsnormen für kerntechnische Anlagen in der EU noch keine Erfolge gebracht. Dies könnte sich nun nach dem Unfall von Fukushima ändern. In einem ersten Schritt haben sich die EU-Mitgliedstaaten in Folge der Havarie in Japan auf die Durchführung von "Stresstests" an allen Kernkraftwerken in der EU geeinigt. In einem zweiten Schritt wurde die Europäische Kommission von den Staats- und Regierungschefs aufgefordert, eine neue Richtlinie zur Sicherheit nuklearer Anlagen vorzulegen. Beide Schritte könnten sich für den zukünftigen Umgang mit der Kernenergie als wichtig erweisen und die Kosten für den Betrieb von Kernkraftwerken näher an eine Internalisierung des Risikos rücken, vorausgesetzt, die Ergebnisse der "Stresstests" und der Rechtsetzungsprozess der Richtlinie haben praktische Auswirkungen.

Um auch künftig eine bessere Regulierung der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen zu gewährleisten, erscheint es zudem erforderlich, den Euratom-Vertrag zu reformieren. Der Euratom-Vertrag aus den 1950er Jahren regelt bis heute alle Fragen rund um den Betrieb von kerntechnischen Anlagen in der EU. Nicht nur die Zielsetzungen, sondern auch die Entscheidungs- und Beteiligungsprozesse im Rahmen dieses Vertrags befinden sich jedoch bis heute auf einem Stand, der Mitte des vergangenen Jahrhunderts adäquat erschien, den heutigen Gegebenheiten aber nicht mehr entspricht. Eine Mitbestimmung des Europäischen Parlaments sowie die Einführung von Mehrheitsentscheidungen sollten elementare Bestandteile einer Vertragsreform darstellen. Die Unterstützung dieses Reformvorhabens durch eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, nämlich derjenigen, die keine Atomkraftwerke betreiben, darf als wahrscheinlich gelten.

Erneuerbare-Energien-Politik.

Die erneuerbaren Energien haben den deutschen Strommarkt in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Die Analysen für das erste Halbjahr 2011 zeigen, dass bereits über 20 Produzent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus Wasser, Wind, Sonne oder Biomasse gewonnen wurde. Vor rund zehn Jahren lag dieser Wert noch im einstelligen Bereich. Der deutschen Politik ist es durch die Einführung des EEG gelungen, nicht nur den Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch deutlich zu erhöhen, sondern auch einen neuen Industriezweig anzusiedeln, in dem Arbeitsplätze und neue Absatzmärkte für Zulieferbetriebe anderer Industriezweige entstanden sind. Dieser Erfolg "ökologischer Industriepolitik" ist jedoch auch mit Kosten verbunden. Rund 12 Milliarden Euro wurden im Jahr 2010 von den Stromkunden an die Anlagenbetreiber alternativer Energiequellen umgelegt.

Die Erneuerbare-Energien-Politik in Europa ist bislang hingegen unterentwickelt. So hatten sich die EU-Mitgliedstaaten zwar auf ein gemeinsames Ziel von 20 Prozent erneuerbare Energien am Endenergieverbrauch bis 2020 geeinigt und dieses Ziel auch auf nationale Werte für jeden Mitgliedstaat aufgeteilt. Eine Umsetzung erfolgt aber allein durch nationale Maßnahmen. Die Folge ist eine Konzentration auf nationalstaatliche Fördersysteme. Dieses Systemdefizit zeigt sich bereits heute mit Blick auf die Entwicklung der erneuerbaren Energien in Europa. Während Deutschland unter den gegebenen Voraussetzungen das vereinbarte Ziel problemlos erreichen wird, lässt die Entwicklung in rund der Hälfte aller EU-Mitgliedstaaten zu wünschen übrig. Zu dieser Gruppe zählen unter anderem Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Österreich.

Die unterschiedlichen Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien sind in erster Linie eine Folge des Beharrens auf nationalen Förderinstrumenten in umweltpolitisch vergleichsweise erfolgreichen Staaten wie Deutschland und dem mangelnden Willen zur Europäisierung der Erneuerbare-Energien-Politik. Diese Haltung erscheint aus dreifacher Hinsicht problematisch für eine erfolgreiche Umsetzung des "Modells Deutschland":

  • Erstens erfordert auch die Erneuerbare-Energien-Politik zunehmend Effizienz beim Einsatz von Mitteln. Während es in einem ersten Schritt wichtig ist, neue Technologien überhaupt in den Markt zu bringen, muss sich die Entwicklung dieser Anwendungen im weiteren Verlauf immer stärker an der Standortwahl und am effizienten Einsatz der Anlagen orientieren. Einhergehend mit der technischen Entwicklung können so die Kosten für jede produzierte Kilowattstunde stetig gesenkt werden. Dies bedeutet einen zunehmenden Ausbau von Solarenergie in südlichen Regionen und von Windenergie an dafür günstig gelegenen Standorten in ganz Europa. Nur durch eine europaweite Vernetzung kann langfristig ein kostengünstiges und effizientes Energiesystem entwickelt werden, das vorrangig auf erneuerbaren Energien basiert.

  • Zweitens versperrt eine nationalstaatlich fokussierte Förderpolitik den Blick auf Absatzmärkte für deutsche Produkte und Technologien im gemeinsamen Wirtschaftsraum der EU. Eine sanfte Auflösung nationalstaatlicher Förderpolitik zugunsten europäischer Förderinstrumente würde neue Perspektiven für Unternehmen aus diesem Bereich bieten, die im deutschen Markt in einigen Bereichen bereits erschöpft sind.

  • Drittens hat die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass erst durch die Integration erneuerbarer Energien in die Märkte eine Dynamik ausgelöst werden kann, die wiederum neue Investoren anlockt und somit resistente Marktstrukturen aufweichen kann. Somit könnten die Spielregeln in den Märkten verändert werden, zu denen die erneuerbaren Energien bislang noch keinen Zugang hatten.

Ohne die Erfolge nationaler Förderinstrumente hätten die erneuerbaren Energien in Europa bislang nicht Fuß fassen können. Dennoch birgt das Ausblenden europäischer Lösungsmodelle auch Gefahren. Deutschland könnte sich hier isolieren, wenn es die anderen Mitgliedstaaten nicht mitnimmt. Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten bieten sich dabei auch neue Entwicklungsperspektiven und Wege aus der Krise. Ein europäisches Förderinstrument für erneuerbare Energien könnte eine solche Chance beinhalten. Langfristig kann so auch eine Verdrängung der Kernenergie aus dem europäischen Strommarkt erfolgen.

Klimaschutz.

Die Klimapolitik spielt in Deutschland seit Jahren eine zunehmend wichtige Rolle. Gerne wird dabei auf die Erfolge Deutschlands beim Klimaschutz verwiesen. So wird die Bundesrepublik nicht nur ihr Kyoto-Ziel erreichen, sondern hat von allen EU-Staaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten die meisten Emissionen eingespart. Gerne wird dabei jedoch verschwiegen, dass ein Großteil dieser Bilanz auf die Abwicklung der DDR-Industrie und eine zunehmende Deindustrialisierung im Zuge von Globalisierungsprozessen zurückzuführen ist. Bereinigt man die Bilanzen um diese spezifischen Effekte, wird der bislang geringe Einfluss umweltpolitischer Maßnahmen auf die Entwicklung der CO2-Emissionen deutlich.

Mit der Einführung des EU-Emissionshandelssystems im Jahr 2005 wurden die klimapolitischen Steuerungsmechanismen weitgehend auf die EU-Ebene transferiert. Alle Emissionen aus Stromerzeugung und Industrie fallen unter dieses Regime. Die konstante Reduzierung des Angebots an verfügbaren Zertifikaten steuert innerhalb des Handelssystems die Emissionsmenge. Am Markt bildet sich so ein Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen. Dieser Preis erscheint auch als wichtiger Anreiz für Investitionen in effiziente und erneuerbare Technologien. Der europaweite Handel mit Zertifikaten garantiert zwar, dass die Gesamtmenge der Emissionen den zuvor festgelegten politischen Vorgaben entspricht. Innerhalb des Systems ist es jedoch nicht möglich vorherzusagen, in welchen Mitgliedstaaten die Emissionen anfallen. Zusätzliche Emissionseinsparungen in einem Land können so zu einer Erhöhung der Quote in einem anderen Land führen. Was bedeutet das für die deutsche Energiewende?

Die Bundesregierung hat in ihren Beschlüssen vom Juni 2011 das bereits zuvor gefasste Ziel einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Deutschland um 40 Prozent bis zum Jahr 2020 wiederholt. Aufgrund der Wirkungen des europäischen Emissionshandelssystems ist es für die deutsche Politik jedoch kaum möglich, die Einhaltung dieser Zielsetzung auch zu gewährleisten. Selbst wenn sie zusätzliche Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen würde, hätten diese zur Folge, dass die damit erzielte Einsparung in einem anderen EU-Mitgliedstaat durch einen Emissionszuwachs ausgeglichen wird. Sollen die Klimaschutzziele Deutschlands also ernst genommen werden, muss der Blick auf die Gestaltung der europäischen Klimapolitik geworfen werden.

Innerhalb der EU hatten sich die Staats- und Regierungschefs bereits im Jahr 2007 darauf geeinigt, die CO2-Emissionen Europas bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu reduzieren. Diese Zielsetzung wurde im Verlauf des Jahres 2008 im Zuge der Reform des Emissionshandelssystems in die Gesetzgebung überführt. Durch die einsetzende Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Rückgänge im Energieverbrauch und bei der Produktion wurde jedoch bereits im Jahr 2009 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um rund 17 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 erreicht. Eine Steuerungswirkung des 20-Prozent-Ziels für das Jahr 2020 ist damit kaum mehr zu erwarten. Dies spiegelt sich auch im Preis für CO2-Zertifikate wider, der derzeit bei etwa zehn Euro pro Tonne und damit weit unter dem prognostizierten Niveau liegt.

Soll das deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 aufrechterhalten werden, ohne dass es gleichzeitig zu einem Zuwachs der Emissionen in anderen EU-Mitgliedstaaten kommt, müsste die deutsche Politik auf eine Erhöhung des europaweiten Reduktionsziels auf eine Marke von 30 Prozent drängen. Dies würde nicht nur konsequent mit Blick auf die Umsetzung der nationalen Klimapolitik erscheinen, es würde auch die Erfolgschancen für das deutsche Modell in der Energiepolitik verbessern. Durch einen steigenden CO2-Preis könnten sich die Anreize für Investitionen in effiziente und erneuerbare Energietechnologien verstärken, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dies wiederum könnte eine Transformation analog zum deutschen Entwicklungspfad auch in anderen Mitgliedstaaten der EU attraktiver machen.

"Energiewende" europäisch denken

Die Umgestaltung des deutschen Energiesystems erscheint aus heutiger Perspektive als Mammutprojekt. Die Gleichzeitigkeit des Ausstiegs aus der Atomenergie, des Einstiegs in das Zeitalter der erneuerbaren Energien sowie die Beachtung der Klimaschutzvorgaben stellt die Politik vor komplexe Herausforderungen. Häufig geht dabei jedoch der Blick über den Tellerrand verloren. Dies gilt insbesondere für die Frage, unter welchen Bedingungen ein solcher Entwicklungspfad umweltpolitisch und wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Dabei erscheint die bereits existente Integration Deutschlands in ein europäisches Energiesystem ebenso wichtig, wie die Tatsache, dass nicht alleine die nationalstaatliche Regelungsebene für die erfolgreiche Umsetzung des "Modells Deutschland" relevant ist. So kann weder ein Schutz vor den Risiken nuklearer Unfälle noch eine Bekämpfung des Klimawandels ohne die Koordination in Europa erreicht werden. Sogar die Umgestaltung der Energiewirtschaft hin zu mehr erneuerbaren Energien erfordert aus Effizienz- und Kostengründen eine stärkere Beachtung europaweiter Potenziale. Durch eine aktive Rolle bei der Gestaltung europäischer Energie- und Klimapolitik und die Übersetzung nationaler Strategien in die Europapolitik können die Erfolgschancen für das "Modell Deutschland" erhöht werden. Auch wenn Entscheidungsprozesse in der europäischen Politik oft komplex, mühsam und schwerfällig erscheinen, kann nationale Politik im 21. Jahrhundert kaum ohne sie auskommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bundesregierung, Der Weg zur Energie der Zukunft - sicher bezahlbar und umweltfreundlich. Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Energiewende, 6.6.2011, online: www.bmu.de/energiewende/doc/47465.php (22.9.2011); Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie/Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung, 28.9.2010, online: www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/
    pdf/energiekonzept_bundesregierung.pdf (26.9.2011).

  2. Vgl. Severin Fischer, Auf dem Weg zur gemeinsamen Energiepolitik. Strategien, Instrumente und Politikgestaltung in der Europäischen Union, Baden-Baden 2011.

  3. Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweisen der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union, 2010/C 83/01, 30.3.2010, S. 134f.

Dipl.-Pol., geb. 1983; Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin. E-Mail Link: severin.fischer@swp-berlin.org