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Stereotypisierungen von Jung und Alt in der Corona-Pandemie | Generationen | bpb.de

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Stereotypisierungen von Jung und Alt in der Corona-Pandemie

Helga Pelizäus Jana Heinz

/ 17 Minuten zu lesen

Die Covid-19-Pandemie trifft jeden. Das Aufrechterhalten des "normalen" Alltags ist für alle eine Herausforderung, auch aufgrund sich stetig ändernder Verhaltensregeln sowie national, regional und kommunal unterschiedlicher Strategien. "Ungewissheit", "Uneindeutigkeit" und "Nichtwissen" sind Schlagworte, die die Pandemie ständig begleiten. In den Wissenschaften, in medialen Diskursen und im sozialen Miteinander existiert eine Vielzahl verschiedener, sich teils diametral widersprechender Einschätzungen der Situation. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Wissenslücken und Ambivalenzen aufgedeckt, alte Annahmen infrage gestellt und verworfen oder neue, noch nicht geprüfte, formuliert werden. Doch trotz aller Ungewissheit scheint eines klar: Schenkt man vielen Medienberichten Glauben, dann ist die Generation der Alten die heutige Risikogruppe, die Generation der Jungen jene der Zukunft.

Die Unübersichtlichkeiten und Ungewissheiten werden auf individueller und gesamtgesellschaftlicher Ebene vielfach als Überrumplung und Überforderung erlebt. Aus risikosoziologischer Sicht sind sie keineswegs überraschend. Die Schwierigkeiten politischen Handelns auf der Basis von Nichtwissen sowie unbeabsichtigte Nebenfolgen gesellschaftlichen Wandels werden seit den 1980er Jahren intensiv erforscht. Die umso dringlichere Suche nach Gewissheiten in Zeiten, in denen sich Unsicherheit und Uneindeutigkeit scheinbar explosionsartig vermehren, ist dabei ein wichtiges Thema. Risikosoziolog*innen verweisen darauf, dass das individuelle Erleben von Ungewissheit in hohem Maße von den herrschenden gesellschaftlichen Deutungen und Interpretationen geprägt ist. Ob sich der Mensch den Ungewissheiten hilflos ausgeliefert fühlt oder sie eher als Herausforderung erlebt, die er durch eigenes Handeln erfolgreich bewältigen kann, hängt entscheidend vom gesellschaftlichen Kontext ab.

Am Beispiel der Corona-Pandemie kann wie unter dem mittlerweile bereits sprichwörtlichen Brennglas studiert werden, was in der Soziologie schon lange als typisch spätmodern beschrieben wird. In risikosoziologischer Terminologie ausgedrückt, ist die derzeitige Situation gekennzeichnet durch eine Pluralisierung kognitiver Grenzen und Grenzziehungen, mit der Folge, dass sich ehemals stabile Orientierungs- und Handlungsrahmen auflösen. So verschwimmt die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden teils in Zweifel gezogen, früher meist als illegitim geltendes "Wissen", etwa Verschwörungserzählungen, erhält Beachtung und Anerkennung. Maßnahmen und Verbote beziehungsweise Grenzziehungen werden beschlossen, erhalten aber nur einen "Als-ob-Charakter". Von den meisten Menschen werden sie zwar anerkannt, aber ihr fiktiver Charakter erscheint vielen offensichtlich. Die Konsequenz dieser Unübersichtlichkeit ist, dass Ad-hoc-Entscheidungen getroffen werden, die nur für gewisse Zeit Geltung erhalten, und Diskussionen eher durch Nichtwissen als durch Wissen bestimmt werden.

Um bei der Bekämpfung der Pandemie auf individueller, gesellschaftlicher und institutioneller Ebene Orientierung und Handlungssicherheit zu ermöglichen, müssen gleichwohl Entscheidungen getroffen werden, insbesondere von politischen Akteur*innen. Denn "Handeln ist nur möglich, wenn sich die Welt als erwartbar stabil darstellt und nicht permanent auch anders erscheint". Das bedeutet, dass "aus dem Universum denkbarer Möglichkeiten bestimmte (…) als handlungsrelevant ausgewählt, andere hingegen als irrelevant ausgeblendet werden, wobei genau dieser Selektionsprozeß zu (sozialer) Eindeutigkeit und Sicherheit führt". In diesem Sinne sind Sicherheiten also immer soziale Konstruktionen, die je nach Kontext unterschiedlich ausbuchstabiert werden.

Während sich die Bundesregierung bei der Einschätzung der Pandemie beispielsweise vor allem auf wissenschaftlich fundierte Eindeutigkeitskonstruktionen des Robert Koch-Instituts (RKI) beruft und auf dieser Basis Maßnahmen beschließt, zeigen sich auf individueller Ebene auch Konstruktionen jenseits der Rationalität. Hier kann auch das Bauchgefühl Sicherheit stiften – oder einfach das Vertrauen darauf, dass schon alles gut gehen werde. Auch der Rückgriff auf Verschwörungserzählungen kann der Fiktion von Sicherheit dienen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die durch ihre Akzeptanz von Ambivalenz und Widersprüchen "auch in undurchschaubaren Situationen pragmatisch, gegenwartsorientiert, voller Selbstvertrauen und im eigenen Interesse (…) entscheiden". Gegenwärtig allerdings scheint allgemein die Hoffnung auf eindeutige Antworten zu überwiegen. Der Wunsch nach Gewissheiten und einer endgültigen Lösung des Problems der Covid-19-Pandemie scheint ungebrochen.

Die Definition (vermeintlich) eindeutiger Risikogruppen kann in dieser Situation Sicherheit bieten, auf der aufgebaut und mit der politische Akteur*innen Handlungsfähigkeit beweisen können. Oder überspitzt formuliert: Je klarer das zu Schützende und je konkreter daraufhin die Gefährdungslage definiert werden, desto eindeutiger können Maßnahmen formuliert und eigene Erfolge belegt werden. Unbeabsichtigte und unerwünschte Nebenfolgen können dabei schnell aus dem Blick geraten. Ein Beispiel hierfür sind die Stereotypisierungen der Generationen im Rahmen der Pandemiebekämpfung.

Bilder von Alt Und Jung

Vor allem in Anlehnung an Angaben des RKI werden ältere Menschen derzeit meist als schutzbedürftig und hilflos beschrieben, als Gruppe mit hohem Risiko für schwere Krankheitsverläufe und Sterblichkeit. Diese vereinfachte Typisierung ist problematisch, da sie das gesellschaftliche Miteinander prägt. Altersbilder verfestigen sich in dem Maße, wie sie konkretes Handeln anleiten. Dass sie sich auch in den Köpfen der älteren Menschen selbst verfestigen können, zeigen zum Beispiel Studien, die belegen, dass sich pflegebedürftige Menschen umso weniger selbstständig verhalten und fühlen, je mehr Unterstützung sie erfahren. Das gegenwärtig herrschende Altersbild steht in deutlichem Widerspruch zum sechsten Altenbericht der Bundesregierung, in dem 2010 dazu aufgefordert wurde, das Alter gerade nicht mit Krankheit, Fürsorge- und Hilfsbedürftigkeit gleichzusetzen, sondern die Heterogenität und die Kompetenzen und Potenziale älterer Menschen zu betonen.

Ein pauschalisierendes Bild wird auch von Kindern und Jugendlichen gezeichnet. Schon jetzt werden sie mitunter als "Generation Corona" bezeichnet, die unter den eingeführten Maßnahmen am meisten leide. So wurde beispielsweise in öffentlichen Diskursen bereits nach wenigen Wochen Homeschooling festgehalten, dass die Pandemie Bildungsprobleme verschärft. Dabei wird mitunter übersehen, dass diese nicht per se Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind. Vielmehr kommen zwei seit Langem bekannte Funktionsdefizite des deutschen Bildungssystems zusammen: die starke Korrelation zwischen sozioökonomischem Status der Eltern und dem schulischen Erfolg ihrer Kinder sowie eine unzureichende digitale Infrastruktur.

Der medialen Berichterstattung kommt mit Blick auf die Stereotypisierung von "Alt" und "Jung" eine besondere Bedeutung zu. Mediale Diskurse lassen sich als argumentative Praxis charakterisieren, durch die kollektives Wissen hervorgebracht und abgesichert wird. Sie werden nicht einseitig von Individuen erzeugt, sondern produzieren und formieren auch Wahrnehmungen und "Wahrheiten" für andere. Damit erzeugen sie Regeln, die bestimmen, was und wie über Dinge gesprochen und was verschwiegen wird, was als wahr und was als falsch erscheint. Gerade in gesellschaftlichen Ausnahmezuständen wie den gegenwärtigen sind Diskurse zur Verständigung über Veränderungen, Risiken und "Normalität" wesentlich. Sie spiegeln die Einstellung der Gesellschaftsmitglieder wider, beschreiben sie und prägen das Bewusstsein in Hinblick auf Gefahren, Gefährdete sowie die Angemessenheit politischer Maßnahmen.

Im Folgenden wird am Beispiel der Online-Berichterstattung der "Süddeutschen Zeitung", der "Welt" und der "Taz" von Anfang März bis Ende September 2020 skizziert, in welcher Weise von älteren Menschen sowie Kindern und Jugendlichen mit besonderem Fokus auf intergenerationelle Beziehungen berichtet wird. Auf den ersten Blick fällt auf, dass ältere Menschen und Kinder in öffentlichen Diskussionen kaum selbst zu Wort kommen. Es wird allenfalls über Kinder berichtet oder sie werden medizinisch untersucht. Dies steht in klarem Widerspruch zu wesentlichen Ansätzen kindheitssoziologischer Forschungen, die gerade Konzepte wie "Agency" und "Akteurschaft" stark machen, damit Kinder ihre Anliegen und Bedürfnisse selbst zum Ausdruck bringen können. In Expert*innenforen und politischen Strategieplänen werden ihre Bedürfnisse – wenn überhaupt – gebündelt von Interessenvertreter*innen eingebracht. Ähnliches lässt sich für die Gruppe der älteren Menschen feststellen: Hier sind es vor allem Pflegeheimleiter*innen, Verbände und Wissenschaftler*innen, die um ihre Einschätzung der Situation gebeten werden.

Betrachtet man die Pandemie in ihrem zeitlichen Verlauf, dann zeigt sich, wie sich Themen und Bilder verschieben, einige mehr oder weniger verschwinden, andere zur quasi unhinterfragten Selbstverständlichkeit werden und wieder andere neu auftauchen und an Relevanz gewinnen können. Zugespitzt kann zwischen vier Phasen unterschieden werden. Da sich die Themen allerdings nicht in allen Zeitungen gleichzeitig verlagern und zudem unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, dient diese Einteilung nur einer vagen Orientierung.

Suche nach Eindeutigkeiten

Die erste Phase könnte auch als "Chaos" beschrieben werden. Weder konnten eindeutige Angaben zur Gefährlichkeit des neuartigen Corona-Virus, seinen Verbreitungswegen oder seiner Infektiosität gemacht, noch über konkrete Ideen zu Gegenmaßnahmen berichtet werden. Durch die Vielfalt unterschiedlicher (Experten-)Meinungen und Einschätzungen waren nicht nur Privatpersonen, sondern auch Politiker*innen überfordert und verunsichert. Das Entwickeln von Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie setzt ein Mindestmaß an Wissen entweder über den sogenannten Feind – das Virus und seine Verbreitungswege – voraus oder darüber, wer besonders zu schützen ist. Da konkretes Wissen zum Virus anfangs fast völlig fehlte, konnte nur die Definition der zu schützenden Gruppe(n) Anhaltspunkte für Schutzmaßnahmen liefern.

Im Februar 2020 wiesen erste Erkenntnisse des RKI darauf hin, dass das Virus für ältere Menschen besonders gefährlich ist und das Risiko tödlicher Krankheitsverläufe mit dem Alter statistisch zunimmt. Auf dieser Basis wurde in der Folge vielfach ein Bild älterer Menschen als stark gefährdet und schutzbedürftig gezeichnet. Neben Menschen mit Atemwegserkrankungen wurden sie zur Risikogruppe erklärt. Diese Stereotypisierung erschien präzise und eindeutig genug, um zumindest für ein wenig Klarheit in der ansonsten unüberschaubaren Situation zu sorgen. Und mit dieser Festlegung konnte über geeignete Strategien zur Eindämmung der Gefährdung nachgedacht werden – etwa darüber, dass die "Alten und Schwachen (…) zu schützen" seien, die Situation insbesondere ihnen "eine striktere Isolation" vorschreibe. Die Jüngeren dagegen sollten "Verantwortung für die ältere Generation" übernehmen.

So hilfreich das Bild älterer Menschen als eindeutige Risikogruppe auf der einen Seite sein mag, so unpassend ist es auf der anderen. Es wird einerseits die Heterogenität des Alters ignoriert, die sich unter anderem in der großen zeitlichen Lebensspanne ausdrückt. Andererseits, und das wiegt schwerer, wird ein teils defizitäres Altersbild gezeichnet, das die Selbstbestimmtheit älterer Menschen völlig übersieht. Eigenverantwortlichkeit wird ihnen pauschal abgesprochen – beispielsweise mit den Worten, sie "seien dankbar, dass jemand ihre Sorgen ernst nehme".

Erfolgte ein fast paternalistischer Zugriff auf die Älteren, tauchten Kinder in der Berichterstattung kaum auf – und falls doch, dann vor allem zur Klärung der Frage, "inwiefern Kinder das Coronavirus übertragen (…) und Schulen und Kindergärten wie Brutstätten wirken".

Abstand im Namen der Solidarität

Vor dem Hintergrund der definierten Risikogruppe wurde in der zweiten Phase insbesondere über geeignete Strategien zu ihrem Schutz diskutiert. Zugespitzt kann zwischen zwei Positionen unterschieden werden:

Die erste Position erachtete die nun von der Politik nach und nach eingeführten Maßnahmen für sinnvoll. Hier lautete das Motto, Abstand zu halten im Namen der Solidarität. Im überwiegenden Maße wurden die Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen, Grenzschließungen und Kontaktbeschränkungen, also all das, was meist unter dem Begriff "Lockdown" verhandelt wird, akzeptiert. Die Pandemie, so wurde betont, sei zugleich eine Chance, Verantwortung für andere zu übernehmen und damit der eigenen Rolle als Staatsbürger*in gerecht zu werden.

Die zweite Position vertrat den Ansatz, dass ältere Menschen freiwillig zu Hause bleiben sollten, damit die Jungen ihr Leben weitgehend unbeschränkt fortführen können. So wurde beispielsweise ein Mediziner mit den Worten zitiert, es würde "die Zahl der schweren Infektionen verringern, wenn die Gruppe der über 75-Jährigen zu Hause bleibt, und je mehr Alte dies tun, desto früher können die Jungen wieder raus". Teils wurde auch über Berechnungen des Ökonomen Bernd Raffelhüschen berichtet, der behauptete, durch den sogenannten Lockdown sei die Zahl der gewonnenen Lebensjahre für die Gesamtgesellschaft geringer als ohne ihn, Rücksichtnahme der Jungen auf die Alten rechne sich also volkswirtschaftlich nicht. Auch die Aussage des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer lässt sich hier einordnen: "Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Diese Position verweist auf einen Generationenkonflikt, der auf unterschiedlichen Ebenen – Einkommen, Wohn- und Arbeitssituation, soziale Bedürfnisse oder Ähnliches – diskutiert wird, mit dem immer gleichen Ergebnis: Die Rentner seien die Gewinner in der Krise, während die Jungen die Kosten zu tragen hätten.

Die beiden Positionen inhärenten Altersbilder ähneln sich in dem Sinne, dass die Typisierung der älteren Generation als Risikogruppe nun nicht mehr infrage gestellt wurde. Unterschiede zeigten sich allerdings in der Hinsicht, dass von Vertreter*innen der ersten Position das Altersbild aus der vorherigen Phase vollständig übernommen wurde. Ein Bild von Zerbrechlichkeit und Gefährdung älterer Menschen wurde gezeichnet; diese bedürften dringend der schützenden Gemeinschaft. Die geforderte Solidarität bezog sich auf die gesamte Gesellschaft, ein Generationenkonflikt wurde nicht inszeniert. Vertreter*innen der zweiten Position hingegen sprachen den älteren Menschen Verantwortung zu und forderten sie auf, sich freiwillig zu isolieren, um den Jungen ihre Freiheiten zu erhalten. Hier wurde ein Generationenkonflikt konstruiert, der zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidet, wobei den Alten die Rolle der Gewinner zugeschrieben wurde.

Veralltäglichung der Krise

In der dritten Phase fand bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine Art Veralltäglichung der Krise statt. Das medial vermittelte Krisenszenario wurde nun mehr oder weniger als gegeben hingenommen und es wurde versucht, im Alltag möglichst konstruktiv damit umzugehen. In der medialen Berichterstattung zeigte sich diese Veralltäglichung darin, dass vormals viel diskutierte Aspekte, etwa die Konstruktion der Älteren als Risikogruppe und die Notwendigkeit eines "Lockdowns" zu ihrem Schutz, kaum noch infrage gestellt wurden. Sie waren zum quasi unhinterfragten Fundament für weitere Entscheidungen geworden.

Die Standpunkte einer kleinen Minderheit Andersdenkender – sich selbst so bezeichnende "Querdenker" – wurden zwar nicht ignoriert, erhielten aber nur am Rande Beachtung. Vielmehr standen nun die Herausforderungen im Mittelpunkt, sich mit den Folgen des "Lockdowns" zu arrangieren. Es wurde kontrovers diskutiert, wie die Maßnahmen jeweils anzupassen seien, damit sich Einschränkungen und Verluste in Grenzen hielten. Entsprechend der föderalen Staatsordnung wurde viel über national, regional und kommunal unterschiedlich zu handhabende Regeln und Verbote und deren Vor- und Nachteile berichtet. Die Risikogruppe der Älteren geriet mehr und mehr aus dem Blick, da eine neue Risikogruppe "entdeckt" wurde: die Kinder und Jugendlichen.

Corona-Generation als neue Risikogruppe

Ab Ende April 2020 wurde verstärkt über Eltern berichtet, die durch vernetzte Aktionen im Internet und Demonstrationen ihre Überforderung zum Ausdruck brachten, im Homeoffice gleichzeitig auch Homeschooling beziehungsweise Betreuung leisten zu müssen. Damit rückte die Situation von Kindern ins öffentliche Bewusstsein. Konsens bestand weitgehend darüber, dass Kinder und Jugendliche von Corona-Infektionen weniger gesundheitliche Schäden davontragen würden. Sie wurden aber nun als die Gruppe beschrieben, die von den Nebenfolgen der Strategien zur Eindämmung des Virus – unter Berücksichtigung des jeweiligen sozioökonomischen Status – am stärksten betroffen sei, etwa durch seelische und körperliche Gefährdungen, Bildungsdefizite, finanzielle Verluste, fehlende Ausbildungsstellen sowie die Aussicht, als "Corona-Generation" die gesamtgesellschaftlichen Schulden infolge der Krise mittel- bis langfristig begleichen zu müssen.

Insgesamt wurde die Gruppe der Kinder und Jugendlichen in Relation zu anderen Altersgruppen meist vor dem Hintergrund eines Generationenkonflikts zwischen Jung und Alt thematisiert. Die Begriffe "Solidarität" und "Gerechtigkeit" rückten in den Mittelpunkt. So wurde von der älteren Generation häufig Gerechtigkeit eingefordert: Sie sollten ihre Ansprüche reduzieren, sich zur Entlastung der Jungen an den Kosten der Krise beteiligen und zu Hause bleiben. Bei der Situationsbeschreibung der Jungen hingegen überwog der Begriff der "Solidarität". Gerade Kinder und Jugendliche hätten diesen Wert verinnerlicht und würden gerne auf Rechte und Freiheiten verzichten. Das Verhalten Jugendlicher, die sich für Partys an den Wochenenden im Freien trafen, wurde dagegen teils zum Spiegelbild defizitärer elterlicher Erziehungspraktiken erklärt. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch wurde beispielsweise mit den Worten zitiert: "Wenn Jugendliche jetzt Partys feiern, halten sie uns den Spiegel vor."

Nebenfolgen

Die Konstruktion von Eindeutigkeiten in unsicheren Situationen ist nicht nur nachvollziehbar, sondern notwendig, um klare Entscheidungen treffen zu können. In diesem Sinne sind auch die zugespitzten Bilder von Alt und Jung erste Schritte, um Strategien im Umgang mit der Pandemie entwickeln und damit Handlungssicherheit und Orientierung bieten zu können. Sie sind jedoch nicht dazu geeignet, komplexe Realitäten abzubilden. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sie mit unbeabsichtigten Nebenfolgen einhergehen können, die reflektiert werden sollten.

So kann etwa der pauschalisierende Diskurs über Ältere dazu führen, dass Entscheidungen "im medizinischen Bereich allein aufgrund des Alters einer Person und nicht aufgrund detaillierter Informationen zu ihrem Gesundheitszustand gefällt werden" oder das defizitäre Altersbild von den Älteren selbst übernommen wird.

Ein vereinfachtes Altersbild vernachlässigt zudem die große Heterogenität der Gruppe älterer Menschen und übersieht, dass auch diese ihr Leben kompetent und verantwortungsvoll gestalten. Es leistet einer Altersdiskriminierung Vorschub, die nicht nur auf institutioneller und organisatorischer Ebene wirkt, sondern die sich ebenfalls in den Köpfen der Menschen verfestigt. Die Vielfalt des Alters zeigt sich nicht nur in sozialen und gesundheitlichen Unterschieden, sie drückt sich zum Beispiel auch in der großen zeitlichen Lebensspanne aus, die mit einem vereinfachten Altersbild nicht adäquat abgebildet wird. Was beispielsweise für Menschen sehr hohen Alters statistisch zutreffen mag – etwa eine höhere Zahl an Vorerkrankungen –, muss nicht für 60-Jährige zutreffen. In der Gerontologie wird zwischen dem sogenannten dritten und dem vierten Alter unterschieden: Menschen im dritten Alter erfreuen sich meist relativ guter Gesundheit und erbringen häufig selbst auf vielfältige Weise Unterstützung für andere, während das vierte Alter die Menschen umfasst, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Die häufig fehlende Differenzierung zwischen diesen beiden Gruppen älterer Menschen führt in der derzeitigen Krise zum Beispiel dazu, dass viele Menschen des dritten Alters "durch die bestehenden Restriktionen in ihrem Engagement ‚ausgebremst‘ werden".

Auch für Kinder und Jugendliche kann die Stereotypisierung zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Bei der starken Fokussierung auf ihre künftigen Nachteile gerät zudem ihre Solidarität als ein wichtiger Wert "an sich" aus dem Blick. Auch die Vielschichtigkeit ihrer derzeitigen Situation bleibt unterbelichtet. So wird etwa übersehen, dass es einige Kinder genießen, mehr Zeit zu Hause mit ihren Eltern zu verbringen. Darüber hinaus sieht ein Teil der jüngeren Generation in dieser Krise durchaus eine Chance und hofft, dass "sich ihre Vorstellungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im Zeitalter nach dem Virus durchsetzen werden".

Selbst die Jüngsten können zudem, wenn sie selbst befragt werden, recht genau ihr Erleben der Pandemie beschreiben und haben durchaus kreative und vielfältige Lösungsvorschläge, wie sie die neuen Sicherheitsvorkehrungen in den Kitas umsetzen können – beispielsweise, indem sie zu Hause Zähne putzen oder Matratzen für die Mittagspause mit Namen beschriften.

Um der Vielschichtigkeit der Situation und der Heterogenität beider Generationen gerecht zu werden, wäre es dringend nötig, sich durch Befragungen bei den Betroffenen selbst ein Bild über die Komplexität ihrer Situationen zu verschaffen. Damit würden auch unintendierte Nebenfolgen gegenwärtiger Maßnahmen in den Mittelpunkt rücken, sodass zugleich Anhaltspunkte für ihre Vermeidung generiert werden könnten.

Erwartung des Unerwarteten

Für spätmodern argumentierende Soziolog*innen steht der adäquate Umgang mit Unsicherheit unter dem Motto "Erwartung des Unerwarteten". Das Mitdenken nicht einschätzbarer Nebenfolgen von Entscheidungen ist ebenso gefragt wie das Akzeptieren zunehmenden Nichtwissens und einer Pluralisierung teils widersprüchlicher (Experten-)Meinungen. Auch wenn es zur Folge hat, dass eindeutige Zuordnungen und klare "Grenzziehungen" nicht (mehr) möglich sind: Es sollte anerkannt werden, dass Entscheidungen in der Regel auf der Basis uneindeutiger Faktenlagen gefällt werden müssen. Die Suche nach endgültiger Sicherheit und Eindeutigkeit ist zwar nachvollziehbar, da Eindeutigkeit der Orientierung für eigenes Denken und Handeln dient und ein Gefühl von Kontrollverlust verhindert. Aber sie ist als Strategie im Umgang mit spätmodernen Ungewissheiten unzureichend.

Hieraus ergeben sich mehrere Forderungen für politisches Handeln: Einerseits muss der Prozess der Entscheidungsfindung mit seinen zugrunde gelegten Annahmen transparent gemacht werden. Er muss für jede und jeden einsehbar und verständlich sein. Und es muss kommuniziert werden, dass die beschlossenen Maßnahmen immer nur an gegenwärtig existierenden, vermeintlichen Gewissheiten orientiert sein können. Ebenfalls sollte deutlich gemacht werden, dass konstruierte Eindeutigkeiten wie stereotype Bilder von Jung und Alt aufgrund ihrer impliziten Vereinfachungen mit unbeabsichtigten Nebenfolgen einhergehen, die ihr Überdenken nötig machen können.

Dies erfordert andererseits, Maßnahmen anhand neuer Datenlagen zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. Es ist Flexibilität und Kontextangemessenheit gefragt, was zugleich bedeuten kann, ehemals für richtig gehaltene Aussagen öffentlich zu revidieren und eigene Fehler einzugestehen. So wurde bei der Festlegung geeigneter Maßnahmen gegen die sogenannte zweite Welle der Corona-Pandemie in Deutschland im Herbst 2020 vor dem Hintergrund sichtbar gewordener Bedürfnisse und Erfordernisse verstärkt über deren Verhältnismäßigkeit diskutiert, um Fehler aus dem Umgang mit ersten Welle nicht zu wiederholen. Und auch die in diesem Beitrag präsentierten Erkenntnisse liefern nur "Blitzlichter" auf sich ständig verändernde Gewissheiten. Entsprechend ist ein auf Dauer gestelltes Analysieren gefragt, das aktuelle Gewissheiten mit ihren unbeabsichtigten Nebenfolgen regelmäßig kritisch reflektiert.

ist Leiterin des Forschungsbereichs "Alter(n) und Digitalisierung" an der Universität der Bundeswehr München und Mitglied der Expertenkommission des achten Altersberichts der Bundesregierung. E-Mail Link: helga.pelizaeus@unibw.de

ist Privatdozentin an der Technischen Universität München und Leiterin des Projekts "Digitale Chancengerechtigkeit" am Deutschen Jugendinstitut in München. E-Mail Link: heinz@dji.de