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Wirkungsmacht und Grenzen des Bundesverfassungsgerichts | Herrschaft des Rechts | bpb.de

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Wirkungsmacht und Grenzen des Bundesverfassungsgerichts

Udo Di Fabio

/ 10 Minuten zu lesen

Ein Gericht ist ein Gericht. Es bleibt auch dann ein Gericht, wenn es hochpolitische Fälle entscheidet und deshalb wie ein politischer Akteur wahrgenommen wird. Die Bindung politischer Herrschaftsmacht an das Recht findet nicht nur in kleiner Münze statt, etwa wenn es um die Gültigkeit einer Erschließungsbeitragssatzung geht. Das Verbot von Parteien, die Rechtmäßigkeit einer vorgezogenen Bundestagswahl, das Tempo von Klimaschutzmaßnahmen, die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Grundsätze der Besteuerung oder Vorgaben für die Teilnahme Deutschlands am europäischen Währungsraum können Gegenstand verfassungsgerichtlicher Urteile sein. Gerade die mit dem Schwert der Justitia markierte Grenze zu dem anders lautenden politischen Willen macht die Bindung an Gesetz und Recht anschaulich. Die offene Konfrontation von Macht und Recht ist die eigentliche Nagelprobe des Rechtsstaats. Die Mehrheitsherrschaft der Demokratie bekommt durch die dritte Gewalt ihre Grenzen zu spüren, und jeder kann es sehen, wenn Gesetze kassiert oder verbindliche Aufträge an das Parlament erteilt werden. Im Laufe der vergangenen 70 Jahre seit Errichtung des Bundesverfassungsgerichts wurde immer wieder deutlich, dass Karlsruhe politisch bedeutsam zu entscheiden vermag. Dabei trifft die spezifisch juristische Rationalität auf die politische. Beide interferieren in einer Zone des verfassungspolitischen Begegnungsraums. Doch wenn dabei das Gravitationszentrum des politischen Betriebes näher rückt, stellen sich Fragen auch nach der Wirkungsmacht und den Grenzen des Bundesverfassungsgerichts.

I.

Die Politik lebt mit den Gerichten, meist in friedlicher Symbiose. Sie erlebt Urteile, die im Rechtssystem gefällt werden, nur dann als politische Ereignisse, wenn sie denn als politische Ereignisse taugen und entsprechend anschlussfähig sind. Darüber wird allein im politischen System "entschieden". Je nach Sach- und Gefechtslage können Judikate mal als störende Interventionen wirken, mal als nützliche Argumente für die Opposition oder als Bestätigung der Regierungslinie. Manchmal glauben Richter, etwas Wichtiges entschieden zu haben, und sind dann verwundert, dass es politisch ohne Resonanz bleibt. Vor zwei Jahrzehnten hat das Bundesverfassungsgericht – schon zum zweiten Mal – geurteilt, dass Funktionszulagen für Abgeordnete allenfalls in wenigen Ausnahmefällen erlaubt sind, ohne dass dies die Praxis bis heute allzu sehr bekümmert hätte. In anderen Fällen hat Karlsruhe eine konsistente politische Teilrechtsordnung aus dem Grundgesetz abgeleitet und, einem Gesetzgeber gleich, im Grunde sogar als Verfassungsgesetzgeber, vorgegeben. Das System der Parteienfinanzierung und die jüngst erneut verfestigte Rundfunkordnung sind Paradebeispiele für diese politisch gestaltende Wirkungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, die auch Parlamenten keinen nennenswerten Bewegungsspielraum lässt. Solche gestaltenden Verfassungsgerichtsurteile werden häufig, vor allem, wenn sie wie die Parteienfinanzierung politisch gut verträglich sind, in stiller Demut hingenommen, schon weil es der Idee der Gewaltenteilung zuwiderläuft, die juristische Rationalität des Richterspruchs politisch anzugreifen. Es wird selber angreifbar, wer als politisch Mandatierter unabhängige Gerichte kritisiert.

Blick in den Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts. (© picture-alliance/dpa, Uli Deck)

Normalerweise bleibt die Rechtsprechung in der politischen Peripherie. Zentral wird sie dann, wenn es um Proportionen im Machtkampf, um Amts- und Mandatsmacht, um Wahlchancen und wesentliche Strukturveränderungen des öffentlichen Meinungsraums geht. Eine andere, ebenfalls als hochpolitisch empfundene Materie findet sich bei fühlbaren Bewegungseinschränkungen auf dem internationalen Parkett, im supranationalen oder intergouvernementalen Raum überstaatlicher Willensbildung. Dann werden – aus politischer Sicht – Gerichtsurteile zu "politischen" Entscheidungen. Als auf dem Höhepunkt der 2010 ausgebrochenen europäischen Staatsschuldenkrise das Bundesverfassungsgericht deutlich machte, dass deutsche Gewährleistungen für griechische Kredite jeweils einer konditionierten Ermächtigung des Bundestages bedürften, haben manche europäische Partner gefragt, was hinter solchen Einschränkungen stecke. In Brüssel war unter einem Aufstöhnen zu hören, dass man die deutschen Worte "Bundestag" und "Bundesverfassungsgericht" nicht mehr länger übersetzen brauche, weil man sie täglich von deutschen Regierungsvertretern zu hören bekäme, und zwar als Munition im Arsenal der Abwehr von Forderungen nach fiskalischer Solidarität. Viele glaubten nicht recht, dass hier Jurisprudenz der Grund für das vorsichtige Agieren der Bundesregierung war, verstanden als die übliche Bindung der Politik an das Recht. Manche mutmaßten, dass es sich um ein, wenn nicht kollusives, dann doch mental gleichschwingendes Zusammenwirken von Regierung und Verfassungsgericht handelte. Die Deutschen – so ein vorherrschender Eindruck – wollten nun mal nicht in die gemeinsame Haftung gehen. Und wenn dann ein Jahrzehnt später Karlsruhe im Rahmen einer Ultra-vires-Kontrolle ausgerechnet im Hinblick auf ein geldpolitisches Programm der EZB erstmalig die Unanwendbarkeit von Unionsrecht in Deutschland feststellt und die Beteiligung der Bundesbank an diesem Programm vorübergehend beschränkt, sieht sich vielleicht manch einer in Madrid, Rom oder Paris bestärkt in einer solchen Einschätzung.

II.

Wenn Gerichtsentscheidungen als "hochpolitisch" empfunden werden, neigt die Politik dazu, mit ihren spezifischen Mitteln zu antworten. Wenn ein Gericht allzu prononciert in die Rolle einer politischen Vetomacht gerät, entsteht eine – unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung betrachtet – delikate Situation. Das Gericht, sonst am Rande stehend, erscheint auf dem Radarschirm politischer Aktivität plötzlich als markanter und zentraler Punkt und wird dort dann konsequent als maßgeblicher Akteur wahrgenommen. Die Politik denkt dabei rasch in für sie üblichen personellen Loyalitätszusammenhängen: Es müssen halt die richtigen Leute ins Gericht, die die richtige Linie vertreten. Das kann sich an der Oberfläche schon darin äußern, dass nicht mehr die jeweiligen Fachleute in den Fraktionen oder unter den Regierungsvertretern des Bundesrates Kandidatinnen und Kandidaten für das Gericht aussuchen und bestimmen, sondern das Ganze zur Chefsache oder zwischen den Parteien zum Bestandteil einer größeren Verhandlungsmasse gemacht wird.

Das sollte für sich genommen noch kein Anlass für Empörung sein. In der Demokratie entscheidet nun einmal die organisierte und gewählte Mehrheit auch darüber, wer als Person, als Amtsträger im Rahmen der unabhängigen Gerichtsbarkeit über die Gesetze wacht. Zum Trost steht zudem die Erfahrung bereit, dass manch politisches Kalkül Personen betreffend nicht in Erfüllung gegangen ist, weil die parteipolitische Loyalität sich im Selbstverständnis des Richteramtes rasch verdünnt oder verflüchtigt hat. Und auch die "richtige Linie" ändert sich im politischen Meinungsraum mitunter rascher als in einem Gericht, sie ist jedenfalls elastischer als die Einstellungen in den Köpfen von Richterpersönlichkeiten, die sich zudem in den dogmatischen Bahnen einer jahrzehntelangen Rechtsprechung auch nicht völlig frei bewegen können.

Der Gesetzgeber indes kann auch über den institutionellen Rahmen eines Gerichts disponieren. Er bestimmt mit dem Prozessrecht nicht nur die dienstrechtliche Stellung der Richterinnen und Richter, sondern auch die Zuständigkeit der Senate, die Sachentscheidungsvoraussetzungen und die Rechtswirkungen eines Urteils. Was wäre denn im fiktiv-historischen Rückblick aus dem Bundesverfassungsgericht geworden, wenn die Verfassungsbeschwerde – wie in der Ursprungsfassung des Grundgesetzes noch der Fall – als Rechtsmittel, als Verfahrensart gar nicht vorgesehen worden wäre oder das Gericht gar, ähnlich wie der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich in der Weimarer Republik, im Wesentlichen nur für Bund-Länder-Streitverfahren zuständig gemacht worden wäre? Die politische Plastizität der Zuständigkeit auch eines Verfassungsgerichts über den Hebel des Prozessrechts kommt meist denjenigen in den Sinn, die der Auffassung sind, das Gericht habe seine Grenzen im gewaltenteiligen System überschritten. Könnte man heute dem Bundesverfassungsgericht nicht zumindest die Zuständigkeit für Sachverhalte mit unionsrechtlicher Bedeutung oder für das Wahlrecht einfach entziehen? Doch das Bundesverfassungsgericht wäre einem Rückbau, einer Beschränkung seiner Kompetenzen nicht hilflos ausgeliefert, weil die Verfassung den Gesetzen vorgeht und verbindlicher Interpret der Verfassung nun einmal das Gericht selbst ist. So könnten die Rechtsschutzgarantie und die Bindung an die Grundrechte als Elemente des Rechtsstaatsprinzips, mehr noch die Wirksamkeit der Verfassungsbindung selbst, als Bestandteile der Verfassungsidentität im Sinne der Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Absatz 3 des Grundgesetzes von Karlsruhe erkannt und selbst gegen entsprechende Verfassungsänderungen des Gesetzgebers in Stellung gebracht werden.

III.

Fragen der Geltung des Rechtsstaatsprinzips stellen sich nicht nur auf der nationalstaatlichen Ebene. Der gegenwärtig mit dem eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen die Karlsruher Rechtsprechung offen zutage tretende Justizkonflikt zwischen den Organen der EU und dem Bundesverfassungsgericht kreist um die Frage des absoluten Vorrangs des Unionsrechts. Einen solch uneingeschränkten Vorrang kann es in einer abgeleiteten supranationalen Rechtsordnung nicht geben, ohne dadurch die Grundlage dieser Ordnung preiszugeben. Ein solches Verfahren ist im Grunde unzulässig, wenn der Auffassung der Kommission nur mit einer Änderung der Rechtsprechung eines unbestritten unabhängigen Gerichts entsprochen werden kann. Einem Mitgliedsstaat und der hier in Verantwortung genommenen Regierung darf in einer Rechtsgemeinschaft nicht zugemutet werden, die Judikatur politisch abzuändern. Das sollte die selbstverständliche Sicht einer supranationalen Ordnung sein, die Rechtsbindung unter den Verfassungsbedingungen der Ambiguität nicht mit einem kruden Machtspruch verwechselt. Ein solches Verlangen nach Änderung einer systematisch fundierten Verfassungsauslegung ist etwas kategorial anderes als die Beanstandung mitgliedsstaatlicher politischer Eingriffe in die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege.

Wenn das Vertragsverletzungsverfahren zwar nicht formal, aber in der Substanz der Sache gar nicht an die erste und zweite Gewalt im Staat adressiert ist, sondern an die dritte Gewalt, an das Bundesverfassungsgericht selbst, was wird dann verlangt? Gehorsam, Unterwerfung? Das kann nicht gemeint sein. Denn würde ein weltweit so angesehenes Gericht wie das Bundesverfassungsgericht über ein Vertragsverletzungsverfahren zur Änderung seiner Rechtsprechung gezwungen werden und dem dann womöglich auch Folge leisten, so wäre mit einem Schlag die Metapher des europäischen "Gerichtsverbundes" Makulatur. Der Gerichtsverbund ist eine Denkfigur, deskriptiv angelegt, aber auch normativ unterlegt, die mit dem im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwendeten Begriff des "Staatenverbundes" korrespondiert. Es ist der Versuch, die durch das verbindliche Vertragswerk im Laufe der Entwicklung entstandene supranationale Rechtslage angemessen zu verstehen – und zwar ohne den rechtsschöpferischen und im Grunde usurpatorischen Akt eines Vorgriffs auf den noch nicht gegründeten Bundesstaat. Der Begriff soll die Netzwerkarchitektur des europäischen Mehrebenensystems einfangen, die manchmal komplizierten inversen Hierarchien und Interdependenzen mit der Notwendigkeit wechselseitigen, konstruktiven Respekts in Verbindung bringen. Der Gerichtsverbund manifestiert sich nach diesem Bild in einem Trilog zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und der Summe nationaler Verfassungsgerichte. Doch es gibt klare Belege, dass der EuGH in Luxemburg nicht trilogisch und in Verbundmetaphern denkt, weder im Blick auf nationale Verfassungsgerichte noch im Blick auf seine Bindung an die Straßburger Menschenrechtsprechung. Luxemburg agiert ganz traditionell hierarchisch und sieht sich selbst allein an der Spitze einer Rechtsordnung, in der Autonomie womöglich mit Souveränität verwechselt wird. Damit gerät das Bundesverfassungsgericht an geradezu dilemmatische Wirkungsgrenzen. Seine als Verfassungsprinzip bezeichnete Integrationsfreundlichkeit stößt auf den ebenfalls in der eigenen Rechtsprechung so erkannten Auftrag zur Identitätswahrung. Das betrifft sowohl das Prinzip demokratischer Selbstbestimmung eines nach wie vor souverän bleibenden Mitgliedsstaates als auch den Telos einer Verfassung, die internationale und europäische Bindung ebenso entschieden will wie die Wahrung ihrer identitätsstiftenden Merkmale.

IV.

Mündliche Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, 17. 1. 2018. (© picture-alliance/dpa, Uli Deck)

Die Wirkungsmacht eines Verfassungsgerichts kann enorm groß sein, aber seine Urteile können auch verpuffen oder sich an der Wirklichkeit brechen. In der gesellschaftlichen Rezeption werden manche Urteile als Blockade empfunden oder aber als progressive Trendsetter verstanden. Eine Blockadewirkung wurde dem Gericht in den Siebzigerjahren jedenfalls von der politischen Linken zugeschrieben, als etwa die Fristenlösung im Abtreibungsrecht als verfassungswidrig verworfen oder im Rahmen der Prüfung des Grundlagenvertrages das Wiedervereinigungsgebot akzentuiert wurde. Heute steht das Bundesverfassungsgericht in einer ganz anderen gesellschaftspolitischen Konstellation. Der politische Konservatismus ist in der Mitte der Gesellschaft praktisch verschwunden, es gibt noch den Liberalismus und eine dreifach gefächerte politische Linke, deren alte sozialemanzipatorische Strömungen schwächer, dafür aber der ökologische "Transformatismus" und der Kampf um kulturelle Diversität stärker geworden sind. Die beiden letztgenannten prominenten Strömungen bedienen sich auch der Mittel einer "Strategic Litigation", also einer gezielt politischen Anrufung der Gerichte, damit aus der Gerichtsbarkeit heraus politische Impulse kommen, die im parteipolitischen Gegeneinander und im Rahmen parlamentarischer Kompromissfindung so nicht zu erwarten sind. Während früher gerade aus dem öffentlichen Meinungsraum gerichtliche Zurückhaltung, ein "Judicial self-restraint" angemahnt wurde, hoffen heute viele auf einen "Judicial activism" der Gerichte. In den USA und Europa mehren sich menschenrechtlich begründete Klimaklagen, weil der Verdacht sich ausbreitet, die gewählten Volksvertretungen und Regierungen seien im System der Demokratie schon strukturell nicht in der Lage, angemessen auf die apokalyptische Klimabedrohung zu reagieren. Auch der Klimabeschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts wurde insofern mit Lob geradezu überschüttet. Getragen von einer öffentlichen Stimmungslage können Gerichte insofern ihre Wirksamkeit im politischen Raum auf ein Neues enorm steigern. Doch ein Preis wird auch zu entrichten sein: Gerichte, die gestützt auf Grund- und Menschenrechte oder Staatszielbestimmungen politische Erstentscheidungen treffen, werden funktionell zu politischen Akteuren. Solche neu erfahrene tagesaktuelle Wirksamkeit führt rasch an Grenzen der institutionellen Wirksamkeit.

Die im System der Gewaltenteilung gespeicherte Klugheit lässt dem parlamentarischen Gesetzgeber nicht nur protokollarisch den Vortritt für konzeptionelle Leitentscheidungen und komplexe Abwägungsfragen. Die Kritik an der angeblichen Unfähigkeit der parlamentarischen Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. Die Kritik wird von dem Ressentiment beherrscht, im deliberativen Parteienstreit, unter dem Druck ständiger Wahlen, könnten die großen Probleme der Zeit nun einmal nicht gelöst werden. Nach aller geschichtlichen Erfahrung verschiebt sich dabei etwa alle zwanzig Jahre die Matrix der drängenden Probleme – auch wenn das die jeweilige Gegenwart nicht wahrhaben will.

Darüber hinaus haben die institutionellen Herausforderer der offenen Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt gezeigt, dass sie es wirklich und auch länger als für den Augenblick des entschiedenen Durchgreifens besser können. Die unabhängigen Gerichte existieren nur im Verbund mit der Volksherrschaft; sie können Parlamente und gewählte Regierungen nicht ersetzen und sollten sie nicht ohne Not düpieren. Gerichte sind dazu berufen, die Konsistenz im Geist der Gesetze zu wahren und dem Einzelfall am Maß des gesetzten Rechts gerecht zu werden. Reflektierte Rechtsanwendung ist auf das institutionelle Bewusstsein angewiesen, und zwar bei der Verteidigung der Unabhängigkeit ebenso wie in der Erkenntnis eigener Grenzen. Hier treffen sich Problemlagen der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts in einer Einsicht: Wer auf Dauer wirksam bleiben will, muss seine Identitätsmerkmale kennen und seine eigenen Grenzen akzeptieren.

ist Professor für Öffentliches Recht (Abteilung Staatsrecht) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Direktor des Forschungskollegs normative Gesellschaftsgrundlagen und war von 1999 bis 2011 Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts.
E-Mail Link: sekretariat.difabio@jura.uni-bonn