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Nigeria in fünf Büchern | Nigeria | bpb.de

Nigeria Editorial Nigeria in fünf Büchern. Eine literarische Tour Facetten der Unsicherheit. Nigerias Herausforderungen auf dem Weg zum Frieden Der Fluch des Segens. Nigeria und das Öl Zwischen Hegemonialmachtfantasien und Staatsversagen. Nigerias Rolle in Westafrika Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis Ikone einer Debatte. Eine Rezeptionsgeschichte der "Benin-Bronzen" Nollywood. Schaufenster eines sich behauptenden Nigerias

Nigeria in fünf Büchern Eine literarische Tour - Essay

Helon Habila

/ 10 Minuten zu lesen

Eine der besten Möglichkeiten, die Geschichte und Kultur eines Landes zu verstehen, ist durch seine Literatur. Nigeria ist da keine Ausnahme: Das Land hat eine reiche literarische Kultur, die bis in vorkoloniale Zeiten zurückreicht. Vor der schriftlichen Niederlegung wurden Nigerias Mythen, Legenden, Volksmärchen und seine Geschichte durch griots, also durch Hofbarden und reisende Musiker, sowie durch Sängerinnen und Sänger am Leben gehalten, aber auch durch Mütter, die ihren Kindern Gutenachtgeschichten erzählten. Zeitgenössische nigerianische Autorinnen und Autoren setzen diese Tradition fort und zählen heute zu den profiliertesten und produktivsten des afrikanischen Kontinents. Anhand von fünf Büchern möchte ich im Folgenden durch die jüngste Geschichte Nigerias führen.

"Jagua Nana" von Cyprian Ekwensi

Cyprian Ekwensi gehörte der ersten Generation nigerianischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller an, die kurz vor und unmittelbar nach der Unabhängigkeit Nigerias 1960 zu publizieren begannen. Er wird der Schule der Onitsha-Marktliteratur zugeordnet – überwiegend autodidaktischen Autorinnen und Autoren, die in den 1950er und 1970er Jahren in der Marktstadt Onitsha im Südosten des Landes aktiv waren und ihre Texte in Eigenregie herausbrachten und vertrieben. Sie waren vor allem für ihre Ratgeber bekannt, schrieben aber auch Romane. Cyprian Ekwensis "Jagua Nana" ist wohl das wichtigste literarische Werk, das aus dieser Schule hervorgegangen ist. Das Buch, das von der Kritik als Nacherzählung von Emile Zolas naturalistischem Roman "Nana" bezeichnet wurde, erzählt die Geschichte der Jagua Nana, einer "nicht mehr jungen, aber immer noch unwiderstehlichen Frau", und ihrem jüngeren Freund Freddie. Angesiedelt in Lagos nach der Unabhängigkeit, fängt der Roman den hedonistischen Lebensstil der Stadt in den 1960er Jahren ein, die verheißungsvollen Versprechen und die endgültige Desillusionierung. Wie viele Menschen in Nigeria kommt Jagua Nana ursprünglich aus einem Dorf und zieht in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Lagos. Doch das Stadtleben korrumpiert sie, sie verfängt sich in einem Leben aus "Männern, Partys, Schlägereien und wilden Nächten im Tropicana-Hotel (…). Sie eilt von einem Erlebnis zum nächsten auf der Suche nach etwas, das sie nicht ganz begreifen kann."

Obwohl Ekwensi nie so hochangesehen war wie seine literarischen Zeitgenossen, etwa Chinua Achebe und Wole Soyinka, und Kritiker seine Darstellung der Jagua Nana häufig als stereotyp und herabsetzend bezeichnen, ist sein Roman auch heute noch ein wichtiges Werk, weil er eine Metapher vorgegeben hat, die von den meisten nigerianischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern verwendet wird, wenn sie den grundlegenden Gegensatz von Tradition und Moderne abbilden wollen – das Dorf steht für die Tradition, die Stadt für die Moderne. Mit der Moderne sind natürlich die fremden, kolonialen und "korrumpierenden" Einflüsse gemeint, während die Tradition die Familie und alles Gute im afrikanischen Leben verkörpert. In ihrem Dorf war Jagua Nana ein anständiges, liebes Mädchen, doch als sie nach Lagos kommt – in die hyper-urbanisierte afrikanische Megastadt – wird sie von ihrer Familie und Kultur getrennt und dadurch zur leichten Beute für fremde Einflüsse. Der Gegensatz mag stark vereinfachend und sogar lächerlich wirken, doch er bringt die Kernaussage vieler nigerianischer und afrikanischer Romane dieser Generation auf den Punkt und zeigt einen kulturellen Nationalismus und endlosen Kampf gegen Kräfte, die traditionelle Werte zu untergraben versuchen. Lesenswert ist der Roman aber auch aufgrund seiner unvergleichlichen Schilderungen des Lebensgefühls der 1960er Jahre in Lagos und seiner Verweise auf die Popmusik jener Ära.

"The Trials of Brother Jero" von Wole Soyinka

Wole Soyinka wurde 1985 als erster Schwarzer Schriftsteller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er verfasst Gedichte und Romane, ist jedoch in erster Linie für seine Theaterstücke bekannt. Besonders seine tragischen Meisterwerke wie "A Dance of the Forest", "Kongi’s Harvest" oder "Death and the King’s Horseman" fanden weite Verbreitung, doch meine Favoriten sind seine frühen Komödien und Satiren. An vorderster Stelle steht für mich das Stück "The Trials of Brother Jero" aus dem Jahr 1964, das 1967 im Greenwich Mews Theater in New York uraufgeführt wurde: eine Satire über einen falschen Prediger, die die besondere nigerianische Begeisterung für Religion aufs Korn nimmt.

Nigeria gilt als eines der religiösesten, wenn nicht sogar als das religiöseste Land der Welt. Diese Hingabe hat auch eine dunkle Seite, die Soyinka in seinem Theaterstück entlarvt, indem er zeigt, dass nicht alle religiösen Bewegungen ausschließlich Gott dienen wollen, sondern viele auch auf Macht und Geld aus sind. Das Theaterstück schildert einen Tag im Leben des Propheten Jerobeam, auch bekannt als Brother Jero, einem Prediger und religiösen Scharlatan, der vor allem am Strand von Lagos aktiv ist. Im Eröffnungsmonolog erklärt Brother Jero: "Ich bin ein Prophet. Ein Prophet kraft meiner Geburt und Neigung. Sie haben bestimmt schon viele von uns auf der Straße gesehen, viele haben ihre eigene Kirche, manche im Landesinneren, manche an der Küste, wir führen Prozessionen an, lassen Taube wieder hören, wecken die Toten auf …"

Diese ersten Zeilen bringen die Selbstüberzeugung, ja Arroganz religiöser Anführer zum Ausdruck. Die Handlung entspinnt sich um eine Transaktion, bei der Brother Jero einen Samtumhang von der Händlerin Amope erwirbt, allerdings hat er keineswegs die Absicht, für die Ware zu bezahlen. Das ist natürlich als Kommentar auf das ausbeuterische Verhältnis zu verstehen, das häufig zwischen religiösen Anführern und ihrer Anhängerschaft besteht. Soyinka unterstreicht das noch zusätzlich, indem er Brother Jero in einem unbedachten Moment sagen lässt: "Ich bin froh, dass ich vor den Kunden – ich meine Gläubigen – hier angekommen bin. Oder doch Kunden, wenn Sie mögen, eigentlich komme ich mir jeden Morgen vor wie ein Ladenbesitzer, der auf Kunden wartet."

In seiner Verfassung wird Nigeria als "multireligiöses Land" bezeichnet. Die verschiedenen Religionen sind der Islam, das Christentum und der Animismus – eine Vielfalt traditioneller afrikanischer Religionen mit ihren jeweils eigenen Gottheiten und Praktiken. Die Muslime leben überwiegend im Norden des Landes, die Christen im Süden, und die Animisten sind überall anzutreffen – was auch daran liegt, dass sich Christen und Muslime nicht auf ihre Religion beschränken, sondern sich zusätzlich der traditionellen Religion zuwenden.

Die Religion bietet vielen Menschen in Nigeria Trost und Seelenfrieden, zudem zählen religiöse Feste und Feiertage für fast alle zu den schönsten Kindheitserinnerungen, allerdings hat sie sich auch als ein besonders spalterisches Element in der nigerianischen Geschichte und Politik erwiesen, wie etwa das aktuelle Beispiel der islamistischen Terrororganisation "Boko Haram" im Nordosten des Landes zeigt, wo über vier Millionen Menschen auf der Flucht sind und über 30.000 getötet wurden.

Die naheliegende Frage lautet: Warum sind die Menschen in Nigeria so religiös? Die Antwort ist einfach: Das Land war politisch schon immer instabil, weshalb die Menschen Halt in der Religion suchen, und auf der Suche nach Halt sind sie leichte Beute für skrupellose religiöse Anführer wie Brother Jero oder Abubakar Shekau, den ehemaligen Anführer von "Boko Haram".

"A Man of the People" von Chinua Achebe

Chinua Achebe, der bereits mit seinen drei früheren Romanen "Things Fall Apart" ("Alles zerfällt", 1958), "No Longer at Ease" (Heimkehr in ein fremdes Land, 1960) und "Arrow of God" (Der Pfeil Gottes, 1964) Berühmtheit erlangt hatte, schlug mit "A Man of the People" ("Einer von uns") 1966 einen neuen literarischen Weg ein, indem er seinen Roman nicht wie die anderen drei in Nigeria ansiedelte, sondern in einem namenlosen afrikanischen Land, das Nigeria sein könnte und dessen Entwicklung ganz ähnlich verläuft wie die Nigerias in den 1960er Jahren. "A Man of the People" ist als Ich-Erzählung des Lehrers Odili verfasst, der eine Einladung von seinem ehemaligen Lehrer erhält, dem mächtigen Kultusminister Chief Nanga. Schon bald kommt es zwischen den beiden zum Konflikt, weil der korrupte Minister seinen unrechtmäßig erworbenen Reichtum und seine Macht nutzt, um Odilis Freundin zu verführen, die ihn mit dem Minister betrügt. Aus Rache verführt Odili nicht nur die Verlobte des Ministers, sondern tritt auch der Oppositionspartei bei, um dem Minister seinen Posten streitig zu machen. Doch weder Odili noch Nanga setzen sich durch, am Ende müssen beide ihre politischen Ambitionen aufgrund eines Militärputsches begraben.

"A Man of the People" sollte sich als prophetisch erweisen, denn nur wenige Monate nach der Veröffentlichung erlebte Nigeria seinen ersten Staatsstreich. Obwohl der Putsch von Major Chukwuma Kaduna Nzeugwu und seinen Truppen scheiterte, läutete er das Ende der ersten nigerianischen Republik ein und war einer der Auslöser des Biafra-Krieges, des nigerianischen Bürgerkrieges, der von 1967 bis 1970 währte. Mit dem Putsch begann die Einmischung des Militärs in die nigerianische Politik, die über drei Jahrzehnte andauerte und gewalttätige Staatsstreiche zum Mittel der Politik erhob, um den Wechsel von einem Regime zum anderen zu vollziehen. Diese Phase brachte einige der brutalsten und gesetzlosesten Diktatoren hervor, die das Land je erlebt hat, von Murtala Mohammed über Sani Abacha bis zu Ibrahim Babangida. Das Militär untergrub den föderalen Aufbau des Landes, zerstörte die regionale Autonomie und konzentrierte die Macht in den Händen einer korrupten Zentralregierung, die den Kontakt zum Alltag und zu den Sorgen der nigerianischen Bevölkerung verloren hatte.

Achebes Buch wirft wichtige Fragen zur Demokratie in Nigeria auf: Wie überlebensfähig ist diese Regierungsform in einem Land, das in so vieler Hinsicht gespalten ist? Wie kann es effektiv regiert werden, wenn Politiker ihre eigenen Interessen und die ihrer ethnischen Gruppe in den Vordergrund stellen? Die Fragen, die in dem Buch vor fast 60 Jahren angesprochen wurden, sind heute genauso relevant wie damals: Das "Chief-Nanga-Syndrom" ist auch heute noch bei nigerianischen Politikerinnen und Politikern zu beobachten. Angesichts der aktuellen Ereignisse bietet die politische Gegenwart wenig Anlass zur Hoffnung.

"A Month and a Day: Prison Diaries" von Ken Saro-Wiwa

Ken Saro-Wiwa wird als nigerianischer Patriot bezeichnet, als Ogoni-Nationalist, Vater der afrikanischen Umweltbewegung, Schriftsteller, Dichter, Essayist, Theater- und Fernsehautor und als Mörder – allerdings wurde die Anklage von der nigerianischen Militärregierung fingiert, um ihm den Prozess zu machen und ihn am 10. November 1995 hinzurichten.

In seinen postum veröffentlichten Memoiren "A Month and a Day" beschreibt er ausführlich seine Erfahrungen während der Haft. Die nigerianische Regierung hatte ihn wegen seiner Proteste gegen die Ölförderung im Nigerdelta und vor allem in seiner Heimat verfolgt, dem Land der Volksgruppe der Ogoni. Öl ist für Nigeria Segen und Fluch zugleich. Seit der Entdeckung der Ölvorkommen 1956, die Nigeria zu einem der wichtigsten Erdölproduzenten der Welt machten, müht sich das Land, mit den Folgen des unverhofften Reichtums zurechtzukommen. Saro-Wiwas Buch konzentriert sich auf die durch die Ölförderung entstandenen Umweltschäden in Nigeria und zeigt die verheerenden Auswirkungen auf die Gemeinschaft der Ogoni. Aus der einst unberührten Auenlandschaft mit einer Vielzahl an Tier- und Pflanzenarten ist eine Mondlandschaft geworden, mit durch Öllecks verschmutzten Gewässern, von Bohrtürmen durchsetztem Ackerland und einem von den Rauchwolken der Gasfackeln verdunkelten Horizont. Die nigerianische Regierung verschließt konsequent die Augen vor den zerstörerischen, ja sogar kriminellen Aktivitäten der großen Ölunternehmen in den Förderregionen. Die oft rostigen und undichten Pipelines führen zum Teil mitten durch Dörfer und sogar durch Familienanwesen, mitunter kommt es zu Explosionen, die zahlreiche Opfer fordern. Die Geschichte der Ogoni steht stellvertretend für die Geschichte Hunderter anderer Gemeinschaften im Nigerdelta.

Das Buch beschreibt detailliert Saro-Wiwas Werdegang als Geschäftsmann und Politiker und seine Entwicklung zum Umweltaktivisten. Sein Einsatz für sein Volk, die Ogoni, ist eng verknüpft mit ihrem Status als Minderheit in Nigeria, wo die drei großen ethnischen Gruppen, die Hausa, Igbo und Yoruba, die übrige Bevölkerung dominieren.

Saro-Wiwas Buch ist wichtig, weil es nicht nur detailliert zeigt, wie eine afrikanische Umweltbewegung aus dem Nichts entstand und es mit einem multinationalen Ölgiganten wie Dutch Shell aufnahm, sondern auch, wie fragile Demokratien wie Nigeria von diesen Ölkonzernen in ihrem Streben nach Profit als Schachfiguren benutzt werden.

"My Sister the Serial Killer" von Oyinkan Braithwaite

Das letzte Buch meiner literarischen Tour durch die Geschichte Nigerias unterscheidet sich etwas von den anderen. Nicht nur ist die Autorin, Oyinkan Braithwaite, die erste Frau auf meiner Liste und die einzige Vertreterin der Generation der "Millennials". Im Gegensatz zu den anderen ist ihr 2018 veröffentlichtes Buch auch kein Roman, sondern ein Thriller. Braithwaite wurde 1988 in Lagos geboren, bevor ihre Familie nach Großbritannien auswanderte, wo sie aufwuchs und studierte. 2012 kehrte sie nach Nigeria zurück, um dort zu arbeiten. Der Werdegang der Autorin spiegelt den vieler Nigerianerinnen und Nigerianer ihrer Generation wider, deren Eltern aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Umstände und des angespannten politischen Klimas emigrieren mussten. Heute findet man überall auf der Welt Nigerianerinnen und Nigerianer, viele von ihnen sind gut ausgebildete Fachleute. Trotz ihrer Entscheidung, im Ausland zu leben, betrachten die meisten ihr Land immer noch als ihre Heimat und – ungeachtet aller Probleme und Herausforderungen – als den glücklichsten Ort der Welt.

In "My Sister the Serial Killer" ("Meine Schwester, die Serienmörderin") geht es um zwei Schwestern, von denen die jüngere eine psychopathische Mörderin mit der Neigung ist, ihre Liebhaber zu töten, während ihre leidgeprüfte ältere Schwester ihr hilft, die Leichen zu begraben, damit ihre Taten nicht ans Licht kommen. Braithwaites Buch ist also nicht nur ein Krimi oder ein Thriller, sondern auch eine Familiengeschichte. Ich sehe darin eine Metapher für Nigeria: Trotz der vielen Herausforderungen, trotz aller Mängel und Ärgernisse würden die meisten Menschen in Nigeria ihr Land als das schönste der Welt bezeichnen. Nigeria tötet zwar Tag für Tag unsere Träume und Hoffnungen, doch wir werden weiter hoffen, dass eines Tages alles besser wird, und wir werden helfen, die Leichen zu verscharren, weil wir nicht aufhören können, dieses unbeholfen dahinstolpernde Land, das wir Heimat nennen, zu lieben.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Schriftsteller, Dichter und Professor für Creative Writing an der George Mason University in Washington, D.C. In deutscher Übersetzung sind seine Romane "Öl auf Wasser" (2012) und "Reisen" (2020) im Verlag Das Wunderhorn erschienen. E-Mail Link: hngalaba@gmu.edu