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Am Ende des Sozialismus | bpb.de

Am Ende des Sozialismus (Persönliche) Überlegungen nach 30 Jahren am Beispiel Jugoslawiens - Essay

Dejan Djokić

/ 12 Minuten zu lesen

1991 begann in einem Teil Europas eine Zeit der Integration und Wiedervereinigung, während fast zeitgleich zwei spätsozialistische, multiethnische Föderationen, die Sowjetunion und Jugoslawien, kollabierten. Was kann man 30 Jahre später zum Ende Jugoslawiens sagen?

1991 bewegte sich (West-)Europa im Zuge der Transformation der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union auf eine größere Integration zu. Fast zeitgleich kollabierten zwei spätsozialistische, multiethnische Föderationen: die Sowjetunion und Jugoslawien. Wenig später, am 1. Januar 1993, löste sich auch die Tschechoslowakei auf, deren "samtene Scheidung" in deutlichem Widerspruch zu den "Balkankriegen" stand, die das ganze Jahrzehnt lang andauern sollten. In diesem Zusammenhang wird meist die DDR vergessen – ein weiterer sozialistischer Staat, der scheinbar aus denselben Gründen zur selben Zeit verschwand: nationale Selbstbestimmung und Befreiung. In diesem Fall lief es aber nicht auf eine Zersplitterung hinaus, sondern auf die Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands 1990.

Warum kollabierten diese Staaten, als doch der Sieg der (individuellen wie kollektiven) Freiheit und Demokratie sowie eine multiethnische und multikulturelle Koexistenz das Ende des Kalten Krieges einläuteten, ja sogar das "Ende der Geschichte", wie Francis Fukuyama damals konstatierte? Wie sollen wir diese Ereignisse 30 Jahre später interpretieren? Was bleibt von ihnen? Welche Lehre können wir (sofern es eine gibt) aus der Vergangenheit ziehen, während Europa und der Rest der Welt vor neuen Herausforderungen stehen, einschließlich des Aufstiegs rechtspopulistischer Nationalismen, der sogenannten Flüchtlingskrise und der Corona-Pandemie? Im Folgenden werde ich mit Blick auf Jugoslawien und einigen kurzen Hinweisen zur Sowjetunion einige Antworten geben und – so hoffe ich – innerhalb dieses begrenzten Rahmens Denkanstöße sowie Diskussionsmaterial liefern.

Ein überraschendes Ende und das Weiterleben Jugoslawiens als Gefühl

Der Zusammenbruch Jugoslawiens war für mich eine Überraschung, ebenso für viele meiner jugoslawischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das gilt nicht nur für Menschen meiner Generation, die teilweise mit mir in der jugoslawischen Volksarmee als Wehrpflichtige dienten, als der Jugoslawienkrieg im Juni 1991 in Slowenien ausbrach. Wer zu meiner Generation gehört, also zu den Jahrgängen 1971/72, war einer von Titos letzten Soldaten. Die Armee war unser letztes sowie vielfach unser erstes Jugoslawien. Wir waren auch die erste postjugoslawische Generation.

Zugleich überraschte es mich weniger, dass der Zerfall, als er einmal einsetzte, so gewalttätig war. Die Erzählung, mit der die Menschen meiner Generation aufwuchsen, war, dass Jugoslawien Frieden und Stabilität garantierte und die Alternativen Krieg, extremer Nationalismus und Faschismus hießen. So wurden etwa Zitate von Präsident Tito wie ein Mantra wiederholt: Da wir "einen Ozean voller Blut für [die] Brüderlichkeit und Einheit [der jugoslawischen Nationen] vergossen haben", müssten wir für deren Schutz eintreten, oder: "Wir gehen davon aus, dass es ein Jahrhundert des Friedens geben wird, doch wir sind vorbereitet, falls morgen ein Krieg ausbricht." Diese Aussagen bezogen sich implizit auf den Sieg der jugoslawischen Partisanen über Verfechter antijugoslawischer oder rivalisierender jugoslawischer Optionen im Zweiten Weltkrieg. Sie beruhten auf den Gründungsmythen des Jugoslawiens der Zwischenkriegszeit, in denen es um die Opfer der serbischen Armee (und weniger explizit des serbischen Volkes) im Ersten Weltkrieg geht. 1934 wurde Alexander I. von Jugoslawien ermordet. Diese Tat wurde sowohl von den Mördern des als "der Vereiniger" bekannten Königs als auch von den Trauernden als Versuch gesehen, Jugoslawien zu zerstören. Als der König blutüberströmt im Sterben lag, sollen seine letzten Worte gewesen sein: "Rettet Jugoslawien!", womit er Titos Mahnung vorwegnahm.

Obgleich es die Menschen in Jugoslawien selbst waren, die ihren Staat 1991 zerstörten, ist es aus heutiger Sicht erstaunlich, dass die sogenannte Internationale Gemeinschaft nicht mehr unternommen hat, um die jugoslawische Föderation zu erhalten oder zumindest den Krieg zu verhindern. Vor 30 Jahren begann anderswo in Europa eine Zeit der Integration und Wiedervereinigung, und es bestand die Hoffnung auf eine friedlichere Welt.

Überraschend war auch, wie schnell sich bereits vor dem Ende der 1990er Jahre in der gesamten früheren Föderation Menschen nach Jugoslawien zurücksehnten. Man sprach von "Jugostalgie" (und später auch von "Titostalgie"). Jugoslawien mag keine vollständig integrierte Gesellschaft gewesen sein, doch anscheinend ist es auf der ideellen Ebene auch nie vollständig zerfallen. Man könnte die Argumentation fortführen und sagen, Jugoslawien existiere heute als Gefühl, da es bei seinen früheren Bürgerinnen und Bürgern (und teils auch bei außenstehenden Fachleuten und "Beobachtenden") nach wie vor starke positive und negative Reaktionen hervorruft. Dies war zum Beispiel offensichtlich, als sich die Trauer um den an Covid-19 gestorbenen Djordje Balašević im Februar 2021 Bahn brach. Der beliebte serbische Liedermacher stand in der Region für Antinationalismus, Pazifismus und Versöhnung. Seit Titos Tod im Jahr 1980 wurde im früheren Jugoslawien niemand mehr so intensiv und öffentlich beweint. Der Tod von Balašević erschien vielen als endgültiger Tod Jugoslawiens. Verkörperte er zunächst die erste echte Nachkriegsgeneration, hatte er sich zuletzt zu einer Identifikationsfigur für die letzte jugoslawische Generation entwickelt.

Auch andere Beispiele in den vergangenen Jahren sprechen für eine immer wieder aufscheinende Solidarität unter den ehemaligen Jugoslawen: während der zerstörerischen Hochwasser in Bosnien, Kroatien und Serbien 2014; nach den Erdbeben in Kroatien in den ersten Monaten der Corona-Pandemie; nach Serbiens Entscheidung vom Sommer 2021, seine Grenzen für Bürgerinnen und Bürger der Nachbarstaaten zu öffnen, um diesen eine Gratisimpfung zu ermöglichen.

Warum ist Jugoslawien kollabiert?

Die Gründe für die Auflösung Jugoslawiens sind komplex und die Beziehung zwischen dem Ende dieses Staates und anderer sozialistischer Staaten, von denen zwei, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei, ebenfalls multiethnische, slawisch dominierte Föderationen waren, nicht einfach zu bestimmen. Erste Analysen konzentrierten sich auf die Rolle des Nationalismus, der – wie mitunter angenommen wurde – historisch verwurzelt und nahezu unvergleichlich gewalttätig sei. Außerdem wurde die Rolle von führenden Persönlichkeiten untersucht, insbesondere jene von Slobodan Milošević. Eine der wichtigsten Studien zum Zerfall von Jugoslawien konzentriert sich auf die ideologische Entwicklung dieser Föderation, bei der die marxistische Doktrin vom Verschwinden des Staates – wenn auch tragischerweise – 1991 Realität wurde. Um den Zusammenbruch zu erklären, müssen interne wie externe Faktoren berücksichtigt werden, die nicht immer klar zu trennen sind.

Anders als 1918, als Jugoslawien geschaffen wurde (ursprünglich als serbisch-kroatisch-slowenisches Königreich), oder 1945, als es nach der Besatzung und Aufspaltung durch Nazideutschland, das faschistische Italien, Albanien, Ungarn und die kroatische Ustaša wiederhergestellt wurde, gab es 1991 keine starke projugoslawische Ideologie und ebenso wenig Institutionen oder Persönlichkeiten, die für Zusammenhalt hätten sorgen können. Bis 1974 hatte sich Jugoslawien zu einem losen Staatenbund entwickelt, was zu Titos Lebzeiten nicht von großer Bedeutung war, doch nach seinem Tod fehlte der große Schiedsrichter. Milošević mag gehofft haben, ein neuer Tito zu werden, doch seine Entscheidung für den serbischen Nationalismus, von dem er vielleicht nicht völlig überzeugt war, den er aber als Legitimation für seine Ambitionen verwendete, machte diesen Weg unmöglich (die Frage ist, ob er oder sonst irgendjemand "ein neuer Tito" hätte werden können). Die jugoslawische Volksarmee blieb die einzige und wahrscheinlich auch die letzte jugoslawische Institution, doch ihre Generäle schafften den Übergang von der Parteiarmee zur unparteiischen Armee nicht.

Selbst wenn sie diesen Übergang bewältigt hätten, wurde die zweite wesentliche ideologische Unterströmung der Armee, das Jugoslawentum der "Brüderlichkeit und Einheit", um 1991 von drei wichtigen Teilrepubliken abgelehnt: Slowenien, Kroatien und Serbien. Milan Kučan, Franjo Tudjman und Slobodan Milošević, die diese Republiken regierten, waren entweder antijugoslawisch eingestellt oder zogen (so wie Milošević) ein Jugoslawien vor, in dem ihre eigene Republik und Nation bevorzugt würden. Am Ende stellte die Armee sich in ganz Jugoslawien auf die Seite von Milošević, Serbien und den Serben. Die Gründe waren komplexer als normalerweise angenommen wird, wenn auch das serbisch dominierte Offizierskorps bei der endgültigen Serbisierung der Armee um den Jahreswechsel 1991/1992 eine wesentliche Rolle spielte.

Der Nationalismus wurde in ersten Studien als Faktor des Zerfalls überschätzt, um dann in späteren Arbeiten weitgehend vernachlässigt zu werden. Im Rückblick, 30 Jahre später, wird deutlich, dass er bei der Destabilisierung der Föderation eine wichtige Rolle spielte. An dieser Stelle sind zwei Hauptkonflikte der 1980er Jahre zu erwähnen: Die serbische Führung stritt mit der slowenischen über die Frage der Dezentralisierung und Reformen des politischen Systems; Serben und Montenegriner stritten wiederum mit den Albanern über den Status des Kosovo, Serbiens südlichster Provinz, die schon damals überwiegend von ethnischen Albanerinnen und Albanern bewohnt wurde. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Jugoslawienkrieg im Juni 1991 in Slowenien begann und im Juni 1999 im Kosovo endete. Allerdings sollte man die Bedeutung des Nationalismus in den Kriegen der 1990er Jahre auch nicht überbetonen. Gleiches gilt für die gesamte jugoslawische Geschichte. Es ist von Bedeutung, dass Jugoslawien, ein Land, dessen Zweck es war, verschiedene ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Gruppen mit ihrem jeweiligen historischen Erbe zu einen sowie einen Rahmen für die Versöhnung potenziell feindseliger Nationalismen zu schaffen (insbesondere von serbischer und kroatischer Seite nach 1945), den größten Teil des gewalttätigen 20. Jahrhunderts überlebt hat. In gewisser Weise war dieses Projekt eine der EU vorangehende Miniatur. Damit sind wir wieder bei dem Paradox von 1991/92: Eine kleinere Version der EU in Südosteuropa zerfiel, und zugleich entstand die EU.

Externe Faktoren waren das Ende des Kalten Krieges und das Heraufziehen einer neuen Weltordnung, in der die internationale Position Jugoslawiens verblasste. Zuvor hatte Jugoslawien eine wichtige Rolle in der Weltpolitik gespielt – erstens, weil es das einzige kommunistische Land in Europa war, das (da Tito und Stalin 1948 auf Abstand gegangen waren) nicht zum sowjetischen Block gehörte, und zweitens, weil es von den frühen 1960er Jahren an als führende und einzige europäische Macht unter den Blockfreien Staaten auftreten konnte. Diese Bewegung von nunmehr postkolonialen Ländern des Globalen Südens wurde 1961 sogar in Belgrad begründet – von den Präsidenten Tito, Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Kwame Nkrumah (Ghana), Sukarno (Indonesien) und Premierminister Jawaharlal Nehru (Indien). Schließlich spielte die Unterstützung aus Deutschland und Österreich für die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens eine Rolle beim Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderation.

Sowjetisch-jugoslawische Parallelen?

Die jugoslawische Verfassung von 1946 beruhte auf der sowjetischen Verfassung von 1936. Jugoslawien war wie die Sowjetunion eine "ethnische Föderation", mit Ausnahme Bosnien-Herzegowinas, das offiziell keine Nation, sondern eine Republik der Serben, Kroaten und Muslime war; die Anerkennung als eigenständige Nation kam erst in den späten 1960er Jahren. Beide Föderationen waren sozialistisch, multinational und multireligiös, und sie entstanden beide nach der Abschaffung einer mit der dominierenden Gruppe (Serben, Russen) verknüpften Erbmonarchie gegen Ende eines Weltkrieges und während eines Bürgerkrieges sowie einer sozialistischen Revolution. In beiden Fällen war die größte Nation der Republik (Serben/Serbien, Russen/Russland) die potenziell größte Bedrohung und zugleich der Schlüssel zur Stabilität der Föderation. Schließlich wurden in beiden Fällen die größten Republiken, Serbien und Russland, zur Föderation. Sie wurden also zur Föderation in einer Föderation.

Siedlungsgebiete und Bevölkerungsanteile der Volksgruppen im Vielvölkerstaat Jugoslawien 1981. (© mr-kartographie, Gotha)

Doch es gibt auch gewichtige Unterschiede. So lagen die autonomen Regionen Russlands am Rande der Republik, während es in Serbien genau umgekehrt war: Die Wojwodina und das Kosovo reichten durch ihre Länge weit in den Norden beziehungsweise Süden der Republik. Darüber hinaus waren beide als Heimat oder gefühlte Heimat der mittelalterlichen und modernen serbischen Nationalkultur von historisch-symbolischer Bedeutung. 1991 lebten 8,5 Millionen Serben in Jugoslawien, 36,2 Prozent der 23,5 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung. 6,4 Millionen dieser Serben lebten in Serbien (einschließlich autonomer Provinzen), 2,1 Millionen oder nahezu 25 Prozent aller jugoslawischen Serben außerhalb Serbiens. Diese Situation war vergleichbar mit der UdSSR, wo 25 Prozent der Russen außerhalb der russischen Teilrepublik lebten. Schließlich war Jugoslawien nicht nur sozialistisch, sondern auch de facto ein Nationalstaat der Jugoslawen (Südslawen). Hingegen hatte die Sowjetunion keine ethnische Konnotation, obgleich ihre Bevölkerung zu 70 Prozent aus Ostslawen bestand – vergleichbar mit den mehr als 80 Prozent Südslawen in Jugoslawien. (1989 waren etwas mehr als die Hälfte der beinahe 287 Millionen Menschen in der UdSSR Russen).

Warum war der Zerfall von Jugoslawien so viel gewalttätiger als jener der Sowjetunion? Wie der Sozialwissenschaftler Veljko Vujačić gezeigt hat, identifizierten die Serben sich viel stärker mit dem jugoslawischen Staat als die Russen mit dem sowjetischen. Die Gründe dafür waren komplex. Zu nennen ist die Rolle der Serben bei der Entstehung Jugoslawiens sowie die gewaltigen Opfer der beiden Weltkriege, die im Ersten Weltkrieg insbesondere Serben aus Serbien gebracht hatten und im Zweiten Weltkrieg vor allem bosnische und kroatische Serben, die der genozidalen Gewalt im Unabhängigen Staat Kroatien ausgeliefert waren.

Im Falle der Sowjetunion bevorzugte die russische Führung 1991 die Auflösung der UdSSR – hier lässt sich eine Parallele zur Tschechoslowakei ziehen, bei der die tschechische Seite, also die dominierende Nation innerhalb der Föderation, die Auflösung des Bundes anstrebte. Die serbische Führung versuchte hingegen anfangs, wenn auch zu ihren eigenen Bedingungen, Jugoslawien zu erhalten. Als dies unmöglich wurde, versuchte sie, eine Art "Rumpf-Jugoslawien" zu erhalten (Serbien-Montenegro), wobei sie zugleich in den Kriegen der 1990er Jahre die bosnischen und kroatischen Serben unterstützte.

Der Zerfall Jugoslawiens war zwar extrem gewalttätig, doch es gab auch in diesem Land "samtene Scheidungen", wie vor langer Zeit der Belgrader Soziologe Aleksa Djilas, Sohn des kürzlich verstorbenen Dissidenten Milovan Djilas, feststellte. So trennten sich Serbien und Mazedonien (heute Nordmazedonien) 1991/92 friedlich (obwohl alle dort einen Konflikt erwarteten) und ebenso Slowenien und Kroatien 1991 sowie Serbien und Montenegro 2006. Endgültig aufgelöst hat sich Jugoslawien auch in den 1990er Jahren nicht, so wie dies auch in den 1940er Jahren nie der Fall war, als das Land besetzt und aufgeteilt wurde. Allerdings ist eine Wiederherstellung der Union, wie jene von 1945, unwahrscheinlich. Zugleich bleiben aber auch 30 Jahre nach dem Auseinanderbrechen des Landes viele persönliche, familiäre, kulturelle, wirtschaftliche, sportliche und sogar politische Verbindungen bestehen. Es sagt möglicherweise viel aus, dass wir zwar vom "postsowjetischen" Raum sprechen, aber in der Regel nicht von einem "postjugoslawischen". Liegt das daran, dass Jugoslawien noch gar nicht hinter uns liegt?

Eine letzte Parallele, die gezogen werden kann, ist, dass sowohl das frühere Jugoslawien als auch der postsowjetische Raum in den vergangenen 30 Jahren einen Bevölkerungsrückgang erlebt haben – durch Migration, niedrige Geburtenraten und, insbesondere im Falle Jugoslawiens, durch Krieg. Im Anschluss an die "ethnischen Säuberungen" der 1990er Jahre setzte sich die großflächige Entvölkerung des früheren Jugoslawiens fort. Serbien hat allein zwischen 1990 und 2017 mehr als 700000 Bürgerinnen und Bürger verloren, von denen nahezu 80 Prozent in EU-Länder ausgewandert sind. 2019 schätzten die Vereinten Nationen, dass bei einer Fortsetzung dieses Trends die Bevölkerung Serbiens (7,2 Millionen Menschen im Jahr 2011 ohne das Kosovo) von 2020 bis 2050 um nahezu 19 Prozent schrumpfen wird. Ähnliche Berechnungen gibt es für Bosnien, Kroatien, das Kosovo und andere Balkanstaaten.

Schluss

Als 2015 Menschen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten auf ihrer Fluchtroute Richtung Westen den Balkan durchquerten, sah Serbien die Gelegenheit, wenigstens einige von ihnen zu überzeugen, dauerhaft zu bleiben. Doch obwohl die Geflüchteten in Serbien, das im März 2021 als eines der ersten Länder überhaupt anfing, diesen Teil der Bevölkerung gegen Covid-19 zu impfen, aufgenommen wurden, wurde diese Chance offenbar verpasst. Eines ist indes gewiss: Im früheren Jugoslawien gibt es mehr als eine "Flüchtlingskrise", und das scheint auch für die absehbare Zukunft zu gelten – sollte sich die Entvölkerung der Region durch Massenemigration, die die Pandemie unterbrochen hat, fortsetzen. Es ist unklar, wie diese Probleme zu lösen sind, doch die Aufnahme von allen ex-jugoslawischen Staaten in die EU (derzeit sind nur Slowenien und Kroatien Mitgliedstaaten) könnte ein guter Anfang sein. Die Migration nähme wohl kaum von heute auf morgen ein Ende, doch früher oder später würden die Menschen wieder bleiben. Dies würde auch helfen, die Spannungen zwischen den regionalen Regierungen zu mindern, die in den vergangenen Jahren wieder verstärkt spürbar waren. Die Grenzen zwischen den exjugoslawischen Teilrepubliken wären dann wieder vor allem administrativ, wie schon vor drei Jahrzehnten, als eine echte Einheit zwischen den Menschen in Europa – im Osten wie im Westen – erreichbar schien und nicht nur ein Ideal war, das zuvor nur in einigen Ausnahmefällen Realität geworden war, wie etwa in der jugoslawischen Föderation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mein Dank gilt Serhii Plokhy von der Harvard University und Gwendolyn Sasse vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Während einer Podiumsdiskussion, die Katarina Berg und Kateryna Stetsevych von der Bundeszentrale für politische Bildung organisiert hatten und die (vorwiegend virtuell) vom Literaturhaus Leipzig im Mai 2021 veranstaltet wurde, erhielt ich den Anstoß, über diese und ähnliche Fragen nachzudenken.

  2. Vgl. Mitja Velikonja, Titostalgia: A Study of Nostalgia for Josip Broz, Ljubljana 2008.

  3. Vgl. Dejan Jović, Yugoslavia: A State that Withered Away, Lafayette 2009.

  4. Vgl. Veljko Vujačić, Nationalism, Myth and the State in Russia and Serbia, Cambridge 2015.

  5. Vgl. Ruža Petrović, The National Composition of Yugoslavia’s Population, 1991, in: Yugoslav Survey 1/1992, S. 3–24; Vujačić (Anm. 4), S. 21, S. 311ff.

  6. Vgl. Ognjen Radonjić/Mirjana Bobić, Brain Drain Loses: A Case Study of Serbia, in: International Migration 1/2021, S. 5–20, S. 6; Tim Judah, "Too Late" to Halt Serbia’s Demographic Disaster, 24.10.2019, Externer Link: https://balkaninsight.com/2019/10/24/too-late-to-halt-serbias-demographic-disaster. Vgl. auch die Reports von Judah für andere Balkanstaaten im Oktober und November 2019 auf balkaninsight.com.

  7. Vgl. Dejan Djokić, Serbischer Sonderweg in der Flüchtlingskrise (übersetzt von Jan Plamper), in: Neue Zürcher Zeitung, 27.10.2015, Externer Link: http://www.nzz.ch/meinung/debatte/serbischer-sonderweg-in-der-fluechtlingskrise-1.18636148.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dejan Djokić für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Goldsmiths College/University of London und Gastprofessor für südosteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: djokicde@hu-berlin.de