Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ein Etikettenschwindel | Der Zoo | bpb.de

Der Zoo Editorial Zoopolis. Eine politische Geschichte zoologischer Gärten Ein Zoo für die Hauptstadt Blicke ins Territorium. Die inszenierten Tierräume der Zooarchitektur Zooethik und Tierrechte Artenschutz durch Zoos. Zwei Perspektiven Zur Relevanz des Brückenbauens Ein Etikettenschwindel

Ein Etikettenschwindel

Volker Sommer

/ 9 Minuten zu lesen

In Deutschland kommt auf zwei Krankenhäuser ein Zoo. Interessierte müssen durchschnittlich nur elf Kilometer bis zur nächsten "dauerhafte[n] Einrichtung" reisen, die das Bundesnaturschutzgesetz als Zoo anerkennt, weil dort "lebende Tiere wild lebender Arten zwecks Zurschaustellung" gehalten werden. 2019 listete ein "Verzeichnis der öffentlichen Tierhaltungen in Deutschland" sage und schreibe 937 "Zoos, Tierparks, Vogelparks, Wildparks, Haustierparks, Aquarien, Reptilienzoos, Schmetterlingshäuser und andere öffentliche Tierhaltungen" auf.

Wozu werden beinahe 1.000 Tiersammlungen gebraucht? Einst stellte der Adel Wildtiere aus, um Macht und Prestige zu signalisieren, ein Ansatz, den Bürger fortführten, ergänzt um Volksbelustigung. Der Schweizer Zoodirektor Heini Hediger definierte schließlich den sogenannten modernen Zoo Mitte des 20. Jahrhunderts durch vier Aufgaben: Erholung, Bildung, Forschung und Artenschutz. Diesem Vier-Säulen-Konzept verschreiben sich die Mitglieder des Verbands der Zoologischen Gärten (VdZ). Weil die Regeneration von Städtern das Einsperren von Tieren heute nicht mehr rechtfertigt, listen Webseiten selbsterklärter moderner Zoos – etwa Köln, Osnabrück, Nürnberg, Heidelberg – "Erholung" oft als letzte Säule auf. Betont wird hingegen der Artenschutz. Im Leitbild schreibt sich der VdZ denn auch den "gesellschaftlichen Auftrag" zu, "mit einzigartigen Tiererlebnissen zu begeistern und die biologische Vielfalt zu erhalten", indem Zoos "gefährdete Arten halten und züchten".

Im Prinzip können Zoos Arten schützen, indem sie Besucher bilden, Forschung betreiben, gefährdete Spezies außerhalb ihres natürlichen Lebensraums (ex situ) züchten und anschließend im Freiland auswildern oder Biotope vor Ort (in situ) erhalten. Warum Zoos diese Ansprüche so gut wie nicht erfüllen, wird im vorliegenden Beitrag diskutiert.

Zoo ist nicht gleich Zoo

Zum VdZ gehören Zoos, die das Kriterium erfüllen, "wissenschaftlich" geleitet zu werden, also von einer Person mit akademischer Ausbildung. Mit einem Zoo in Spanien, sechs in Österreich, acht in der Schweiz und 56 in Deutschland kommt der VdZ auf 71 Mitglieder. Von fast 1.000 öffentlichen Tierhaltungen zählen mithin nur sechs Prozent zum VdZ. Nicht angeschlossene Betreiber leben gewöhnlich eine selbstdeklarierte Tierliebe aus, die sich leider allzu oft in mit Käfigen garnierten Freizeiteinrichtungen als Tierquälerei manifestiert, und gewiss nicht den VdZ-Anspruch erfüllt, "Tiere nach den bestmöglichen Bedingungen zu halten". Manfred Niekisch, Frankfurts Zoodirektor von 2008 bis 2017, Professor für Internationalen Naturschutz sowie Ehrenmitglied des VdZ, meint ebenfalls, "zahlreiche" Zoos würden den Ansprüchen "an artgerechte Tierhaltung (…) bei Weitem nicht entsprechen".

Da das Gros der deutschen Zoos daher negativ und mit Blick auf den Artenschutz als indiskutabel zu bewerten ist, fokussiert die folgende Kritik auf VdZ-Zoos – zumal die Einrichtungen selbst zwischen guten und schlechten Zoos unterscheiden wollen.

Bildung?

Vertreter von VdZ-Zoos behaupten häufig, ihrem Publikum Natur- und Artenschutz nahezubringen. Der Direktor der Stuttgarter Wilhelma schreibt beispielsweise, besonders Kinder würden "für die Verantwortung für das Mitgeschöpf Tier sensibilisiert".

Allein, das Gegenteil ist der Fall. Besucher – und speziell Kinder – werden systematisch desensibilisiert. Denn das Zooerlebnis normalisiert eine Situation, in der "Mitgeschöpfe" hinter Gittern, Panzerglas, Kunstfelsen und Wassergräben interniert sind – was die orthodoxe Separierung von Mensch und Tier im wahrsten Sinne des Wortes zementiert und keineswegs die Achtung anderer Kreaturen fördert. Ausgestellte Tiere zu betrachten, konditioniert uns von Kindesbeinen an, Zerrbilder für Natur zu halten und den Widersinn auszublenden, dass "wilde" Tiere eingesperrt sind.

Studien belegen zudem, dass Zoobesuche selbst bei besonders an Tieren Interessierten in aller Regel nicht zu einem gesteigerten Engagement beim Naturschutz führen. Zudem mag der Effekt eintreten, dass Bedrohungen unterschätzt werden – weil die Tiere ja in einer vermeintlich sicheren Umgebung leben.

Forschung?

Zoos wollen Untersuchungen zu Arten- und Tierschutz unterstützen. Eine vom VdZ mitgetragene Studie errechnete, dass seine Mitglieder von 2008 bis 2018 an 1.058 begutachteten, wissenschaftlichen Publikationen beteiligt waren. Ein Großteil der Arbeiten wurde extern initiiert, und in fast einem Drittel der Fälle waren Angestellte von VdZ-Institutionen keine Ko-Autoren. Aber immerhin stellten Zoos auch hier Ressourcen wie Tierpflegerzeit, biologische Proben oder Datensätze zur Verfügung oder ermöglichten Verhaltensstudien.

Über 1.000 Arbeiten klingt eindrücklich – pro Jahr ergibt das immerhin 96. Doch geteilt durch 71 VdZ-Zoos verbleiben nur 1,4 Arbeiten pro Institution pro Jahr. Weitaus bedenklicher ist: Aus 20 Prozent der angeblich wissenschaftlich geleiteten Mitgliederzoos kam über mehr als ein Jahrzehnt hinweg nicht eine einzige wissenschaftliche Arbeit.

Obwohl Zoos also gerne mit dem Markenzeichen "Forschung" hausieren gehen, haben sie herzlich wenig vorzuzeigen. Damit das Unternehmen rechtfertigen zu wollen, gleicht Hochstapelei.

Auswilderungen?

Zoos hatten Anteil an der Wiederansiedlung von etwa einem Dutzend zuvor in der Wildnis ausgestorbener Arten, darunter einige Vögel (Hawaiigans, Kalifornischer Kondor, Waldrapp, Bartgeier) und wenige große Säugetiere (Arabische Oryxantilope, Wisent, Przewalskipferd). Hinzu kommen etwa 200 sogenannte Auffrischungen von Wildbeständen (Weißstörche, Seeadler, Gänsegeier, Uhus, Auerhühner, Moorenten, Rebhühner, Steinböcke) und Neuansiedlungen (etwa Schimpansen auf der Insel Rubondo im Viktoriasee ). Die Bilanz erstreckt sich über ein Jahrhundert; de facto wurde also nur einmal pro Jahrzehnt irgendwo auf Erden eine ausgestorbene Art wieder angesiedelt. Das ist das zwar besser als nichts, aber auch so gut wie nichts, und rechtfertigt keinesfalls die Existenz Tausender Zoos auf diesem Planeten.

Insgesamt steht es um den expliziten Anspruch von VdZ-Zoos, dass "vom Aussterben bedrohte Tierarten erhalten und später wieder ausgewildert werden", nicht viel besser. Zurzeit werden zooübergreifend einige Hundert Europäische Erhaltungszuchtprogramme (EEP) koordiniert – darunter für Gorillas, Sumatratiger, Bonobos, Panzernashörner, Okapis, Grevyzebras, Babirusas, Netzgiraffen, Doppelhornvögel und Kongopfauen.

Trotz des enormen Aufwandes ist unwahrscheinlich, dass jemals auch nur eine dieser Nachzuchten in die Freiheit entlassen wird. Denn Aussiedelung ist keineswegs der primäre Antrieb zur Zucht. Vielmehr geht es Zoos darum, Arten ohne den mittlerweile problematischen Erwerb von Wildfängen mit ausreichender genetischer Diversität in Gefangenschaft zu erhalten. Profiteure der EEPs sind damit die Zoos selbst. Überdies sind die meisten gezüchteten Arten überhaupt nicht vom Aussterben bedroht. Selbst etliche EEP-Zuchten haben einen Rote-Liste-Status von "nicht gefährdet", darunter Primaten (Schnurrbarttamarin, Blutbrustpavian, Totenkopfäffchen) und andere reizvolle und deshalb "ausstellungswürdige" Tiere (Wombat, Königspinguin, Tümmler). Wollten Zoos wirklich bedrohte Tierarten konservieren, um sie später auszuwildern, sollten sie sich auf ausgewählte Spezies konzentrieren. Das ist aber nicht der Fall, weil selbst VdZ-Zoos weiterhin dem Prinzip der Briefmarkensammlung folgen und im Durchschnitt 178 Tierarten halten – von denen nicht einmal jede fünfte Art in der freien Wildbahn bedroht ist.

Das Vorgehen der Zoos ist besonders realitätsblind, wenn man es auf traditionelle Publikumsmagneten wie Menschenaffen bezieht. Gleichwohl rechtfertigt der Direktor der Wilhelma die Zucht von Orang-Utans als wahrscheinliches zukünftiges Beispiel "für Tierarten, die nur durch Zuchtprojekte von zoologischen Gärten überleben" werden können. Dabei harren auf Sumatra und Borneo Tausende entwurzelter Orang-Utans in Auffangstationen aus. Deren Auswilderung hätte sicherlich Priorität vor Nachzuchten aus Deutschland. In Schutzstationen in Afrika und Asien werden ebenfalls Tausende heimatloser Schimpansen, Gorillas, Bonobos und Gibbons am Leben erhalten. Warum sollten deutsche Zoos angesichts dieser traurigen Schwemme zusätzliche Menschenaffen produzieren?

Naturschutz vor Ort?

Schließlich: Wie schaut das In-situ-Engagement aus, die Arterhaltung im Freiland über den Schutz der natürlichen Biotope?

In Zoo-Haushalten selbst repräsentieren die für In-situ-Initiativen bereitgestellten Mittel jedenfalls Peanuts. Die Webseite der Stuttgarter Wilhelma beispielsweise listet ein Dutzend Projekte auf – mit Ankerspezies wie Schildkröten, Zebras, Gorillas, Drills, Okapis, Tigern, Bonobos, Orang-Utans in Nationen wie Kenia, Belize, der Demokratischen Republik Kongo oder Indonesien. Das hört sich vielversprechend an. Doch flossen den Initiativen von 1996 bis 2018 lediglich um 64000 Euro pro Jahr zu – also 0,5 Prozent des jährlichen Umsatzerlöses (rund 14 Millionen Euro), beziehungsweise 0,3 Prozent des Jahresbudgets (rund 20 Millionen Euro) oder der Baukosten für das neue Menschenaffenhaus (rund 22 Millionen Euro). Laut der Webseite des VdZ bringen seine 71 Mitglieder insgesamt "über vier Millionen Euro pro Jahr für nationale und internationale Natur- und Artenschutzprojekte auf". Ähnlich der Wilhelma ergibt das lediglich 56338 Euro pro Zoo und bei 43 Millionen Gästen nur etwa zehn Cent pro Besuch.

Derlei Petitessen sollen die Existenz "moderner" Zoos rechtfertigen? Von Institutionen, die Vorbilder sein wollen, wäre mehr zu erwarten – zumindest die zehnfache Summe, um eine Hausnummer zu nennen. Mittlerweile führen einige Zoos – inklusive der Wilhelma – zwar einen sogenannten Artenschutzeuro als freiwillige Abgabe beim Ticketkauf ein. Aber auch das dürfte unter das Motto "too little, too late" fallen: zu wenig, zu spät. Mit geringfügigstem monetären Engagement Imagepflege zu betreiben, ist jedenfalls peinliche Augenwischerei und "greenwashing".

Zoos als Arche Noah?

Wir wissen nicht, wie viele Tierarten gefährdet sind. Eine Hochrechnung geht von acht Millionen existierender Spezies aus, von denen nur zwölf Prozent beschrieben sind. Die Rote Liste der Weltnaturschutzorganisation erfasst lediglich 76.277 Arten, mithin ein Prozent der vermuteten Diversität. Dabei gelten 18 Prozent der 9.316 erfassten Wirbeltier-Spezies und 23 Prozent der 5.419 Wirbellosen als bedroht – insgesamt 14.735 Arten. Werden die insgesamt 19 Prozent gefährdeten Tierarten hochgerechnet auf die potenzielle Spezieszahl, wären knapp 1,5 Millionen bedroht.

Aus diesem traurigen Faktum leiten VdZ-Zoos eine Berechtigung ab, auch noch nicht bedrohte Arten zu halten – als "Notanker", um "im Bedarfsfall auf sie zurückgreifen zu können". Doch welche Dimension hat die Arche Noah inmitten der Sintflut? Zoo-Haltung bewahrte im letzten halben Jahrhundert rund 50 Tierarten vor dem Aussterben, also eine pro Jahr. Das sind 0,3 Prozent der 2020 auf der Roten Liste stehenden Spezies oder 0,003 Prozent der vermutlich insgesamt bedrohten Arten. Selbst wenn Zoos ihre Effizienz in kürzester Zeit auf 500 gerettete Arten verzehnfachten – was nicht geschehen wird –, wäre das noch immer ein Tropfen auf den heißen Stein.

Überdies werden keineswegs Arten gerettet, wenn Individuen in Zoos überleben. Eine Spezies ist ein komplexes Ganzes, sie besteht aus in Ökosysteme eingebetteten Organismen, die Klima, Nahrungserwerb, Krankheiten, Fressfeinde und Fortpflanzung navigieren müssen – was das Erbgut entsprechend kodiert. Fallen diese Faktoren weg, bleiben künstlich am Leben erhaltene Tierhüllen übrig, keineswegs "gerettete Arten".

Zooinsassen als Artenbotschafter?

In Zoos gehaltene Tiere werden von Verantwortlichen gerne als "Botschafter" ihrer Arten und deren Überlebensprobleme bezeichnet. Das ist ziemlich zynisch, denn wir sollten uns klar vor Augen führen, dass eine Existenz "im Gewahrsam von Menschen" für viele Zooinsassen mit immensem Leiden einhergeht, speziell für jene, die natürlicherweise großen Raumbedarf haben. Für verurteilte Kriminelle ist die schlimmste Strafe lebenslängliche Haft – also bei regelmäßiger Verpflegung, medizinischer Versorgung, Beschäftigungstherapie und Ausgang im Hof eingekerkert zu sein. Wenn Menschen diese Routine als nicht optimal erleben, wie können da für immer eingesperrte Eisbären, Giraffen, Löwen, Nilpferde und Co. solchen Alltag erquicklich finden – zumal sie ja meist mit weniger Platz auskommen müssen als Sträflinge? Dabei ist ziemlich irrelevant, ob Tiere die Situation mental als Gefangenschaft wahrnehmen – obwohl Wale und Delfine, Elefanten oder Menschenaffen durchaus verstehen dürften, welche Restriktionen ihnen aufgezwungen werden.

Fazit

Zoos eine tragende Rolle beim Artenschutz zuzuschreiben, mag ein kluger PR-Akt sein. Sollten Verantwortungsträger gleichwohl von der Artenschutzmission überzeugt sein, lügen sie sich in die eigene Tasche. Denn Zoos ändern nichts am Massensterben von Spezies. Artenschutz in situ und ex situ samt assoziierter Aufgabenfelder von Bildung und Forschung sind weitgehend Etikettenschwindel.

Als zentraler Identitätsmarker für Zoos eignet sich lediglich die Hediger-Säule "Erholung". Da diese Vorgabe auf menschliche Interessen zielt, bleiben Zoos das, was sie schon immer waren: Unterhaltsbetriebe, in denen wilde Tiere – wie das Bundesnaturschutzgesetz trocken formuliert – "zwecks Zurschaustellung" eingesperrt sind. Starren wir aber um unserer Entzückung willen auf gefangene Tiere, werden diese schlicht instrumentalisiert, objektiviert und ausgebeutet. Es ist deshalb höchste Zeit, dass Zoos ihre Praktiken hinterfragen, statt das fadenscheinige Argument zu pflegen, sie würden Artenschutz betreiben.

ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London und forscht zur Verhaltensökologie von Primaten sowie zu Naturschutz und Tierrecht. E-Mail Link: v.sommer@ucl.ac.uk