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Regelt die EU zu viel? | Themen | bpb.de

Regelt die EU zu viel?

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Die Europäische Union regelt immer mehr, sagt der Politikwissenschaftler Rainer Eising. Den Bürgern solle das unter anderem Mobilität ermöglichen, den Unternehmen Kosten sparen. Im Interview gibt er einen Überblick über die Debatte.

Auf der EU-Ebene gab es mehrere Initiativen, die Bürokratie zu reformieren. (© picture-alliance/dpa)

Herr Eising, in der Diskussion über die "Regelungswut" der Europäischen Union nennen Kritiker oft zahlreiche Beispiele vermeintlich überflüssiger Regelungen. Wie ist das generell, welche Themenfelder reguliert die Europäische Union eigentlich?

Rainer Eising: Die Europäische Union regelt eine ganze Reihe Themenfelder. Sie hat in der Entwicklung von der begrenzten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur Europäischen Union binnen 60 Jahren ihre Zuständigkeiten deutlich ausgeweitet. Schwerpunkt der Regelungsaktivitäten ist die Wirtschaftspolitik im Zusammenhang mit der Interner Link: Marktintegration, hinzu kommen weitere Politikfelder wie beispielsweise die Umwelt- und die Agrarpolitik.

Welche Kompetenzen haben die Nationalstaaten behalten?

Das klassische Feld der Nationalstaaten ist weiterhin die Steuerpolitik, in der die EU kaum Befugnisse hat. Hinzu kommt die Sozialpolitik, also die Arbeitsmarkt- und die Wohlfahrtspolitik. In diesen Feldern genießen die Nationalstaaten ein hohes Maß an Autonomie, obwohl es mittlerweile auch dort Muster der Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten gibt, die aber in der Regel nicht in verbindliche Regulierungen münden.

In der Debatte behaupten Kritiker, die EU regele immer mehr. Ist das wirklich so?

Es ist richtig, dass die EU immer mehr regelt, wenn man das über den Zeitraum von 60 Jahren betrachtet. Im Jahr 2011 hatte die EU einen Rechtsbestand von etwas mehr als 32.000 Rechtsakten, also beispielsweise Richtlinien, Verordnungen oder Verträge. Davon waren insgesamt 1.844 Richtlinien oder Rahmengesetze sowie 8.471 Verordnungen. Wenn man das Revue passieren lässt, sieht man, dass die Zahl der jährlich verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen gestiegen ist: Von 1981 bis 1990 verabschiedete die EU jährlich durchschnittlich 111 Richtlinien, 1991 bis 2000 waren es jährlich 149 und 2001 bis 2010 dann 181 pro Jahr. Das muss man in Relation zur nationalen Gesetzgebung sehen: Der Deutsche Bundestag hat im Zeitraum von 1976 bis 2005 im Durchschnitt etwa 100 Gesetze pro Jahr verabschiedet. Auch hier ist die Zahl der jährlich verabschiedeten Gesetze gestiegen: von knapp 100 in den 1980ern (10. und 11. Wahlperiode) auf 123 in den 2000ern (14. und 15. Wahlperiode)

Wie kommt das zustande? Regelt die EU bestimmte Bereiche immer intensiver oder gibt es immer mehr Regelungen, weil die EU für immer mehr Themenfelder zuständig ist?

Es kommt beides zusammen. Zum einen gibt es in Politikbereichen, für die die EU bereits seit langem zuständig ist, einen Zuwachs an Regelungen. Ein Beispiel dafür ist die Agrarpolitik: Die EU hat ausgeprägte Kompetenzen im Bereich des Agrarmarktes, sie regelt dort auch Einzelheiten. Es ist aber auch so, dass im Laufe der Zeit neue Politikfelder hinzugekommen sind, wie beispielsweise die Umweltpolitik. Besonders viele Rechtsakte hat die EU in der Wirtschaftspolitik formuliert, in der Wettbewerbspolitik und in der Marktintegration. Hinzu kommen mittlerweile viele Verträge mit Drittstaaten, zum Beispiel Vereinbarungen im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik oder Handels- und Kooperationsabkommen in der Entwicklungspolitik.

Zur Person

Rainer Eising. (© privat)

Rainer Eising ist Professor für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse an der Ruhr-Universität-Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Europäische Union und die EU-Mitgliedstaaten sowie Politische Ökonomie.



Welche Vorteile soll es grundsätzlich haben, wenn die EU etwas auf europäischer Ebene regelt?

Politikwissenschaftler haben dazu verschiedene Überlegungen angestellt. Die allgemeine Begründung für die europäische Integration nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Schaffung von Frieden und Wohlstand. Das erste Motiv ist mit der Zeit etwas in den Hintergrund getreten, wird aber möglicherweise durch Konflikte wie jenen in der Ukraine wieder sichtbarer werden. Im Mittelpunkt der Marktintegration und der Währungsunion steht die Vermehrung des Wohlstands.

Ganz allgemein kann man sagen, dass die EU dazu beiträgt, dass die Mitgliedstaaten glaubwürdige Verpflichtungen eingehen, dass sie sich an geschlossene Verträge halten und sie umsetzen. Dafür sorgen die Europäische Kommission als "Hüterin der Verträge" sowie der Europäische Gerichtshof. Die Regelungen auf europäischer Ebene sollen Rechtssicherheit schaffen.

Die Europäische Union soll in einer von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt außerdem den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume ermöglichen, die sie alleine nicht mehr besitzen. Sie soll zudem die Verhandlungsmacht stärken, indem die EU als Kollektivakteur auftritt, zum Beispiel bei der Welthandelsorganisation WTO.

Für die Bürger bedeutet die EU mehr Mobilität, für Unternehmen bedeutet sie die Reduzierung von Kosten, weil internationale Unternehmen nicht 28 verschiedene Standards einhalten müssen, sondern ihre Produktion an einem europäischen Standard ausrichten können.

Welche Vor- und Nachteile diskutieren Wissenschaftler im Zusammenhang mit den zunehmenden Regelungen?

Die Regelungsaktivität wird auf verschiedenen Ebenen diskutiert. Zum einen stellt sich grundsätzlich die Frage, wer überhaupt das Sagen in der EU hat, also ob die Mitgliedstaaten die Regelungen mitgestalten oder ob die EU-Institutionen ihnen diese aufzwingen. Der aktuelle Tenor der Debatte ist, dass die Europäische Kommission als supranationale Bürokratie wichtig ist als Gestalterin der Agenda, dabei aber die Interessen der Mitgliedstaaten mit berücksichtigt.

Eine zweite große Debatte ist die Frage, ob EU-Regulierungen grundsätzlich auf einem hohen oder einem niedrigen Niveau erfolgen. Dabei geht es beispielsweise um Umweltschutzstandards, soziale Standards oder die Sicherheit am Arbeitsplatz. Die Frage ist: Gibt es in der EU eher ein "Rennen nach oben" oder eher ein "Rennen nach unten", was die Standards angeht. Der momentane Tenor der Debatte ist, dass das Niveau der Standards tendenziell hoch ist, aber grundsätzlich von den nationalen Interessen abhängt. Wenn es beispielsweise um die Emissionswerte von Autos geht, sind davon Automobilhersteller betroffen: Höhere Standards könnten sich direkt auf nationale Arbeitsplätze auswirken.

Drittens geht es darum, Interner Link: wie die europäische Politik demokratischer gestaltet werden kann. Im Fokus stehen unter anderem die Rechte des Europaparlaments und die Möglichkeiten der Teilhabe der Bürger.

Welche Rolle spielt Bürokratieabbau in diesem Zusammenhang?

Ich würde das gerne etwas weiter fassen. Man kann nicht nur von Entbürokratisierung sprechen, es geht auch darum, die Bürokratie der Europäischen Union effektiv und effizient zu gestalten. Es gab auf der EU-Ebene eine ganze Reihe von Initiativen, die Bürokratie zu reformieren. Ich nenne zwei wichtige, mit denen die Akteure der EU auf den Vorwurf der "Regelungswut" reagierten.

Nach 1999 wurde die Europäische Kommission umfassend reformiert. Die Kommission unter dem Präsidenten Jacques Santer war zuvor wegen des Vorwurfs der Korruption und des Missmanagements zurückgetreten. Mit den Reformen wurde darauf abgezielt, solche Vorgänge zu verhindern und die Finanzen effektiver zu managen und zu kontrollieren. Außerdem sollte eine stärkere Dienstleistungskultur in der Europäischen Kommission implementiert werden. Zudem wurde die Fähigkeit der Kommission zur strategischen Planung gestärkt, die unter anderem in Form von Arbeitsprogrammen umgesetzt wird. Außerdem wurde die Personalpolitik reformiert, um die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter der Kommission zu steigern.

Anfang der 2000er Jahre gab es dann die Initiative "Better Regulation". Damit wollte die EU-Kommission unter anderem die Zahl der Gesetze reduzieren. Durch die Konsolidierung von Regelungen und die Abschaffung überflüssiger Regelungen beispielsweise liegt die Zahl der in Kraft befindlichen Richtlinien seit etwa 2005 konstant bei etwa 1.900. Eine weitere Maßnahme bestand in der Einrichtung einer Gruppe hochrangiger Experten zum Bürokratieabbau unter dem Vorsitz des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, die unter anderem Vorschläge zur bestmöglichen Implementation von EU-Recht entwickelt hat. Die Kommission hat zudem 2007 ein Programm zur Reduzierung administrativer Lasten der Wirtschaft beschlossen. Nach Darstellung der Kommission sind mit diesem Programm Auflagen im Umfang von fast 38 Milliarden Euro abgeschafft worden. Außerdem führte sie Folgeabschätzungen der geplanten Regelungen und Mindeststandards für die Konsultation interessierter Akteure im Gesetzgebungsverfahren ein.

Waren diese beiden Initiativen auf Basis der wissenschaftlichen Forschung erfolgreich?

Einige dieser Maßnahmen haben zu einer stärkeren Formalisierung der Verfahren geführt. Sie haben auch zu einer stärkeren Formalisierung innerhalb der Europäischen Kommission geführt, beispielsweise was das Finanzmanagement und die Kontrolle angeht. Die Frage ist, wie man das bewertet. Man kann kritisieren, dass diese Reformen zusätzliche Bürokratie geschaffen haben. Man kann aber auch positiv anführen: Es wurden Mechanismen für ein besseres Finanzmanagement und eine adäquatere Kontrolle der Finanzen der Europäischen Kommission geschaffen. Außerdem wurden die Gesetzgebungsverfahren der EU dadurch transparenter.

Ob die Reform der Konsultationen interessierter Akteure dazu geführt haben, dass nun Interessengruppen wie Nichtregierungsorganisationen genauso oft konsultiert werden wie beispielsweise Akteure der Wirtschaft, ist zweifelhaft. Schließlich gibt es weiterhin informelle Konsultationen zwischen den Dienststellen der Kommission und Interessenorganisationen. Wissenschaftler zeigen in neueren umfassenden Studien zum Einfluss verschiedener Akteure allerdings, dass die Akteure der Wirtschaft vielfach mit EU-Regelungen konfrontiert sind, die nicht ihren Präferenzen entsprechen, sondern eher denen der Akteure, die eine größere Öffentlichkeit vertreten, wie beispielsweise Umweltschutzorganisationen.

Interner Link: Regelt die EU zu viel? Diskutieren Sie mit im Chat zum Thema am 14. Mai ab 13:30 Uhr.