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Wie geht es weiter nach der Europawahl? | Themen | bpb.de

Wie geht es weiter nach der Europawahl?

/ 6 Minuten zu lesen

Nach den Wahlen beginnen die nationalen Parteien nun, Fraktionen im Europaparlament zu bilden. Warum das besonders lange dauert, erklärt der Politikwissenschaftler Andreas Maurer im Interview. Noch nicht abzusehen sei, wie die Wahl des Kommissionspräsidenten ablaufen wird.

Die Abgeordneten im Europaparlament schließen sich nun zunächst in Fraktionen zusammen. (© picture-alliance/dpa)

Herr Maurer, die Wahl zum Europaparlament ist vorbei – was geschieht nun im Parlament?

Andreas Maurer: Das ist vergleichbar mit den Vorgängen nach einer Wahl im Deutschen Bundestag, nur dass es länger dauert. Entscheidend ist zunächst: Die Fraktionen müssen sich finden. Sie tun das auf der Grundlage der vorhandenen Fraktionen, zumindest bei denjenigen, die relativ etabliert sind, also Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberalen und Grünen. Es gibt jeweils einen Block aus denjenigen Parteien, die auf jeden Fall zur Fraktion gehören werden. Hinzu kommen Verhandlungen mit Parteien, die nicht unbedingt zu der jeweiligen Parteienfamilie gehören, gegenüber der Fraktion aber signalisieren, dass sie bereit wären, Mitglied der Fraktion zu werden. Bis sich die Fraktionen dann fest konstituiert haben, dauert es länger als in nationalen Parlamenten. Bisher wurde die Fraktionsbildung im Europäischen Parlament immer erst im September abgeschlossen.

Warum dauert das so lange?

Die Verhandlungen dauern so lange, weil sich damit entscheidet, wie groß die Fraktionen überhaupt werden und wer daher Erstwahlrechte bei den Ausschussvorsitzenden, auf wichtige Führungs- und Steuerungsgremien im Parlament erhält. Außerdem klärt sich dabei, welche Ämter die nationalen Parteien in ihrer Fraktion und im Parlament bekommen. Der Vorgang, bis sich eine Fraktion konstituiert hat, ist bei über 160 Einzelparteien viel komplizierter als in einem nationalen Parlament. Erst nach der Konstituierung beginnen die Wahlen innerhalb der Fraktionen. Wie wir das aus Deutschland kennen, wählen die Fraktionen auch im Europaparlament jeweils Vorstände, Präsidien und Schatzmeister.

Sie haben angesprochen, dass sich zunächst die Fraktionen im Parlament finden müssen. Welche Rolle spielt dabei die Internationalität?

Die Parlamentsgeschäftsordnung schreibt vor, dass zur Bildung einer Fraktion mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten kommen müssen. Dies ist gewollte Mulitnationalität und unterstreicht den supranationalen Charakter des Parlaments. Die Internationalität und Sprachenvielfalt spielt im Fraktionsbildungsprozess selbst aber keine große Rolle. Die Infrastruktur des Europäischen Parlaments bleibt unabhängig von den Wahlen bestehen, das heißt der Dolmetscherdienst ist da und steht den Fraktionen zur Verfügung. In der Administration gibt es Mitarbeiter, die Verträge über die Legislaturperiode hinaus haben. Es ist also nicht so, dass die Abgeordneten nach Brüssel kommen und dann dort erstmal niemanden vorfinden. Was ein Abgeordneter selbst organisieren muss, sind seine persönlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter und Assistenten.

Zur Person

Andreas Maurer (© University of Innsbruck)

Andreas Maurer ist Professor für Politikwissenschaft und Europäische Integration am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck und Direktor des Innsbruck Center on European Research. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen den europäischen Mehrebenenparlamentarismus, den Wandel parlamentarischer Funktionen im EU-System sowie die Entwicklung der verfassungsmäßigen Grundlagen der EU-Integration und ihre Umsetzung.

Was sind darüber hinaus wichtige Aufgaben für Parlamentsneulinge?

Zunächst wissen die Abgeordneten noch nicht, in welchen Ausschuss und welche Delegation sie gehen. Das besprechen sie in den ersten Sitzungen: Wer bewirbt sich in welchem Ausschuss um einen Sitz? Entscheidend für die Fraktionen als Großgruppen ist, dass es für jeden Parlamentsausschuss eigene Fraktionsbedienstete gibt, das sind Angestellte, die alle Abgeordneten in einem Ausschuss betreuen. Sie geben insbesondere den neuen Parlamentariern wertvolle Tipps: Wie funktioniert unser Ausschuss, wie nominieren und wählen wir Berichterstatter, wie erteilen wir Verhandlungsmandate im Gesetzgebungsverfahren, und mit welchen Ausschüssen kommen wir häufiger in Zuständigkeitskonflikte? Das ist in der Geschäftsordnung des Parlaments nicht einheitlich geregelt, das macht jeder Ausschuss selbst. Daran müssen sich die Abgeordneten erst langsam gewöhnen.

Diejenigen, die zum ersten Mal dabei sind, sollten sich vorher Gedanken darüber gemacht haben, welches Thema sie eigentlich bearbeiten wollen. Da die Mitgliederzahl in den Ausschüssen von den Führungsgremien des Parlaments begrenzt wird, müssen Prioritäten ausgehandelt werden. Generell haben es Abgeordnete einfacher, die Erfahrungen mit Arbeitsparlamenten haben, also mit Parlamenten, in denen die Gesetzesvorlagen vor allem in Ausschüssen und Fraktionen beraten werden und im Plenum selbst in erster Linie die Öffentlichkeit informiert wird. In Redeparlamenten werden die Vorlagen hingegen eher im Plenum bearbeitet. Deshalb hat es ein Abgeordneter, der den Betrieb des Deutschen Bundestags oder eines Landtags kennt, einfacher als einer, der beispielsweise aus Großbritannien oder einem osteuropäischen Parlament kommt. Auch im Europaparlament machen die Abgeordneten in den allermeisten Ausschüssen vor allem Gesetzgebungsarbeit.

Innerhalb der Ausschüsse gibt es klare Hackordnungen: Wer zum ersten Mal in einen Ausschuss geht, muss zunächst beobachtend am Gesetzgebungsprozess teilnehmen. Allerdings kann ein neuer Abgeordneter innerhalb einer Legislaturperiode sehr viel schneller in den Gesetzgebungsprozess einsteigen als beispielsweise im Bundestag, weil die Gesetzgebungsarbeit ähnlich wie in Frankreich sehr stark personalisiert ist: Es gibt immer einen Berichterstatter, der einen Parlamentsbericht federführend alleine betreut. Er ist persönlich für den Gesetzesvorschlag zuständig und führt in der Regel auch die Verhandlungen mit dem Ministerrat.

Am 1. Juli findet die konstituierende Sitzung des Parlaments statt. Was passiert dort?

Der scheidende Präsident oder der mandatsälteste Abgeordnete leiten die konstituierende Sitzung. Die Abgeordneten wählen zunächst den Parlamentspräsidenten. Bislang beruhte das immer auf einer Absprache zwischen zwei Fraktionen, in der Regel die beiden größten, die sich verständigten, das Amt quasi zu teilen: Die erste Hälfte der Legislaturperiode stellte die eine Fraktion den Präsidenten, die zweite Hälfte dann die andere Fraktion. Danach wählen die Parlamentarier die 14 Vizepräsidenten, die zum Teil feste Funktionen im Parlament haben, zwei sind beispielsweise zuständig für die Zusammenarbeit des Europaparlaments mit den nationalen Parlamenten. Außerdem werden die Ausschüsse benannt und besetzt und die Quästoren gewählt. Die Quästoren kennen wir aus den deutschen Parlamenten nicht. Sie übernehmen sozusagen die Funktion von Ordnungshütern im parlamentarischen Alltag. Sie betreuen beispielsweise das Lobby-Register, die Lobbys müssen also ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen. Und schließlich verabschieden die Abgeordneten den Sitzungskalender. Bisher war die konstituierende Sitzung damit gelaufen. Nun kommt aber hinzu: Wie steigt das Parlament formal in die Wahl des Kommissionspräsidenten ein?

Hier hat das Parlament ja de facto Rechte hinzugewonnen, weil sich der Europäische Rat beim Vorschlag des Kommissionspräsidenten an der Mehrheit im Parlament orientieren muss. Wie soll das konkret ablaufen?

Das ist nicht abzusehen, weil dies nicht im Interner Link: Vertrag von Lissabon geregelt ist. Der Vertrag legt nur fest, dass der Europäische Rat mit Mehrheit dem Europaparlament einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt, und das im Lichte des Ergebnisses der Wahlen zum Europäischen Parlament. Eine dem Vertrag angehängte Erklärung hält außerdem fest, das Vertreter des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates bereits vor dem Nominierungsbeschluss des Europäischen Rates Konsultationen über das konkrete Prozedere durchführen. Vor der Wahl hatten sich die Abgeordneten und die Spitzenkandidaten der Parteien darauf verständigt, dass sie respektieren, dass die Fraktion mit den meisten Sitzen im Europaparlament dann den Kommissionspräsidenten stellen soll.

Aber das hört sich einfacher an als es ist. Bislang war es ja so, dass die Fraktionen immer mehrere Monate brauchten, bis sie sich fest konstituiert hatten. Das muss nun eigentlich schneller über die Bühne gehen, damit klar ist, welche Fraktion denn den Sieger stellt, sodass der Europäische Rat einen Kandidaten aus ihren Reihen vorschlagen kann. Aber wie das funktionieren soll, kann man momentan nicht sagen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Spitzenämter in einer Koppellösung zwischen den beiden größten Fraktionen verteilt werden: Eine Fraktion stellt beispielsweise den Kommissionspräsidenten, die andere stellt den Präsidenten des Europäischen Rats. Das wäre für beide Fraktionen ein gangbarer Weg. Berücksichtigt werden könnte dabei auch noch die drittgrößte Fraktion, da es in einem solchen Paketgeschäft auch schon um die Frage gehen wird, wer das Amt der Hohen Repräsentantin für die Außen- und Sicherheitspolitik bekleiden soll.

Sie rechnen also mit einer Lösung im Konsens?

Bisher war es immer so, dass die Spitzenämter nach einem groben regionalen Proporz verteilt wurden, Vertreter aus den vier Himmelsrichtungen mussten vertreten sein. Zudem musste die Verteilung halbwegs parteipolitisch ausgewogen sein. Ich gehe davon aus, dass es auch diesmal wieder nach diesem Muster ablaufen wird. Der große Unterschied zu den bislang in den berüchtigten „Hinterzimmern“ geführten Verhandlungen wird aber sein, dass erstmals die direkt gewählten Spitzenvertreter des Europäischen Parlaments daran teilnehmen werden und die Staats- und Regierungschefs nicht mehr über, sondern auf Augenhöhe mit dem Parlament agieren müssen.

Fussnoten