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Position: Autonomie am Lebensende ist mehr als nur die Selbstbestimmung des eigenen Todeszeitpunkts

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio

/ 4 Minuten zu lesen

Laut Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner und Professor an der Universität Lausanne, greift die deutschsprachige Sterbehilfe-Debatte zu kurz. Im Interview erklärt er, warum er Verallgemeinerungen ablehnt, welche Missverständnisse er für besonders problematisch hält und wie seiner Meinung nach die Medizin der Zukunft aussieht.

Gian Domenico Borasio spricht sich für einen Ausbau der Pailliativmedizin aus (© Gian Domenico Borasio)

Ihr aktuelles Buch nennt sich "selbst bestimmt sterben". Was bedeutet "Selbstbestimmung" am Lebensende für Sie?

Auf jeden Fall mehr als nur das Recht, meinen eigenen Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen. Es gibt so viel mehr wichtige Dinge, die es am Lebensende zu betrachten, zu klären und zu regeln gibt. Damit sollte man am besten schon lange vor dem Lebensende beginnen. Und natürlich wünscht man sich, so zu sterben, wie es die eigene Familie am wenigsten belastet. Für mich persönlich geht es aber letztlich vor allem darum, wie der tibetische Meister Milarepa um das Jahr 1100 sagte, "mich auf mein Totenbett nicht schämen zu müssen".

Sie beschreiben den Autonomiebegriff in der Sterbehilfe-Debatte als zu eng gefasst. Warum sind Sie dieser Meinung?

Die Hauptthese meines Buches ist, dass es zu kurz gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Debatte über die Autonomie am Lebensende auf die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende Kriterium. Ausgehend von der unumstößlichen Tatsache, dass jeder von uns selbst bestimmt sterben wird, stellt sich die Frage, was selbstbestimmtes Sterben in der heutigen multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann. Geht es wirklich vorwiegend um die Frage, ob es erlaubt sein soll, unter bestimmten Umständen mit fremder Hilfe aus dem Leben zu scheiden? Meines Erachtens verdeckt die medial aufgeheizte Diskussion über die sogenannte "Sterbehilfe" den Blick auf wichtigere Realitäten, die für die allermeisten Menschen am Lebensende von größerer Bedeutung sind.

Welche Realitäten blendet die Sterbehilfe-Debatte aus?

Wenn man als Arzt das Privileg geschenkt bekommt, Menschen auf dem letzten Stück ihres Weges begleiten zu dürfen, dann erschließt sich eine weit komplexere Wirklichkeit, als es die Vereinfachungen und Verallgemeinerungen in den Sterbehilfe-Talkshows vermuten lassen. So banal es klingt: Jeder Mensch stirbt anders, und die meisten Menschen sterben in etwa so, wie sie gelebt haben. Das Spektrum der Wünsche, Ängste und Nöte am Lebensende ist so unterschiedlich wie das Leben selbst. Es gibt zum Beispiel nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, die Autonomie-Debatte gehe an ihnen gänzlich vorbei, weil sie gar nicht selbstbestimmt sterben wollen, sondern sich voll und ganz anderen Menschen anvertrauen möchten – was natürlich wiederum ein Akt der Selbstbestimmung ist.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die ökonomischen Kräfte, die das Gesundheitssystem beeinflussen?

Wäre ich von Beruf Pharma-Lobbyist, dann würde ich viel Geld aufwenden, um die Sterbehilfe-Debatte anzuheizen. Sie soll möglichst lange, möglichst kontrovers und möglichst medial prominent weiterkochen. Denn solange sie das tut, wird die Öffentlichkeit sehr effektiv von dem abgelenkt, was die Menschenwürde am Lebensende wirklich verletzt: die allgegenwärtige Übertherapie sowie die unzureichende pflegerische und palliative Versorgung.
 Unzweifelhaft lässt sich mit dem zu Ende gehenden Leben viel Geld verdienen. Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten im Leben eines Menschen fällt in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an. Es geht hier also – allein in Deutschland – um dreistellige Milliardenbeträge. Die verzweifelte Hoffnung schwerstkranker Menschen und ihrer Familien auf Heilung oder wenigstens Aufschub wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere Renditen durch zum Teil zweifelhafte Heilungsversprechen zu erzielen. Diesen Gewinnerzielungsabsichten spielen auch die Ängste der Ärzte in die Hände, die sich unglaublich schwer damit tun, einem Patienten "nichts mehr anbieten zu können".

In Ihrem Buch wollen Sie mit Missverständnissen zum Thema Sterbehilfe aufräumen. Können Sie da Beispiele nennen?

Es gibt derer viele. Ein Beispiel ist die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sich aufgrund von z.B. Lähmungen nicht selbst töten können, weshalb man die Tötung auf Verlangen einführen müsste. Tatsächlich ist dies in der Praxis angesichts des technologischen Fortschritts nicht notwendig: Jeder Mensch, der in der Lage ist, einen freiverantwortlichen Suizidwunsch zu äußern, ist auch in der Lage (und sei es z.B. durch die heute problemlos mögliche Computersteuerung mittels Augenbewegungen), die Tatherrschaft über das Geschehen bis zum Ende zu behalten.

Inwiefern sehen Sie die in der Palliativmedizin eine Gegenbewegung zur Sterbehilfe?

Die Palliativmedizin zeigt dem Gesundheitssystem den Weg. 2010 wurde eine Studie zur frühzeitigen Integration der Palliative Care in die Betreuung schwerstkranker Krebspatienten veröffentlicht. Das Ergebnis: Die Patienten mit Palliativbetreuung hatten eine bessere Lebensqualität, weniger depressive Symptome, bekamen weniger Chemotherapien am Lebensende und verursachten so auch weniger Kosten. Das Unerwartete dabei: Sie lebten im Schnitt drei Monate länger als die Patienten ohne Palliativbetreuung. Letztlich brauchen wir eine Medizin, die in der Lage ist, die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker Menschen und ihrer Familien wahr- und ernstzunehmen. Unabdingbare Voraussetzung für Patientenautonomie ist die Anerkennung und Würdigung jedes einzelnen Menschen in seiner unverwechselbaren Individualität. Dies geschieht nicht durch das Sprechen, sondern durch das Zuhören. Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir das Auseinanderfallen unseres Gesundheitssystems in eine Zwei-Klassen-Medizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es ist daher meine tiefe Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein.

Vor etwa einem Jahr haben Sie zusammen mit drei anderen Wissenschaftlern einen Gesetzesentwurf zur Regelung des assistierten Suizids vorgelegt? Was beinhaltet er? Und in welche Richtung wird sich die Gesetzgebung wirklich ändern? Wie sollte sie sich ändern?

Unser Gesetzentwurf lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon an. Wir schlagen eine streng regulierte Freigabe des ärztlich assistierten Suizids vor. Ärzte dürfen bei der Selbsttötung schwerstkranker Menschen mit geringer Lebenserwartung unter klar definierten Sorgfaltsbedingungen helfen. Der Entwurf versucht, ausgehend von wissenschaftlichen Daten, den beiden ethischen Prinzipien der Selbstbestimmung und der Fürsorge gleichermaßen Rechnung zu tragen. Er ist somit ein Vorschlag, der aus dem Blickwinkel der praktischen Vernunft entstanden ist.

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Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne sowie Autor der Bücher „Über das Sterben“ und „selbst bestimmt sterben“.