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Die Rolle der Medien in der öffentlichen Wahrnehmung von Streiks | Streik | bpb.de

Streik Quiz Glossar

Die Rolle der Medien in der öffentlichen Wahrnehmung von Streiks

Dr. Hans Jürgen Arlt

/ 4 Minuten zu lesen

Die vergangenen Streiks bei der Deutschen Bahn und Post haben gezeigt: Die mediale Aufbereitung der Geschehnisse hat großen Einfluss auf die gesellschaftliche Diskussion darüber. Hans Jürgen Arlt erklärt die Mechanismen im Hintergrund.

Diese Forderung findet in vielen Fällen mediale Unterstützung. (CC, Streik beenden von Marc Brüneke Externer Link: Marc Brüneke ) Lizenz: cc by-sa/2.0/de

Redaktion: Welche Rolle spielen die deutschen Medien in der öffentlichen Wahrnehmung von Streiks?

Arlt: Für die öffentliche Wahrnehmung spielen Medien eine zentrale Rolle, aber ich sehe zwei aktuelle Einschränkungen. Zum einen haben die Konfliktparteien dank Internet mehr eigene Möglichkeiten, ihre Positionen und Argumente öffentlich zugänglich zu machen. Zum anderen gehen heute mehr Menschen davon aus, dass die Medienrealität eigene Themen, Perspektiven, Gewichtungen hat. Die Erwartung, dass die von den Massenmedien dargestellte Realität "objektiv" oder auch nur in der Regel sachlich richtig sei, hat im Alltag deutlich weniger Anhänger. Gerade in einer offenen Konfliktsituation wie dem Streik stehen die Mediendarstellungen in Konkurrenz sowohl zu den selbsterlebten Wirklichkeiten der Beteiligten als auch zu dem persönlichen Erfahrungsaustausch mit Verwandten, Freunden, Kollegen, Bekannten, also mit der "Kommunikation unter Anwesenden", und natürlich mit den Social Media Beiträgen.

Inwiefern hat sich die Berichterstattung über die Jahre verändert? Gibt es hier einen klaren Trend?

Meines Erachtens gibt es einen klaren Trend, den ich als Entideologisierung bezeichnen möchte. Bis Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – der Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche Mitte der 80er bildete einen Höhepunkt und einen gewissen Endpunkt – war die Tonlage der Berichterstattung und Kommentierung durchaus klassenkämpferisch und zwar auf beiden Seiten des Medienspektrums, rechts wie links. Arbeitskämpfe, zumindest größere Streiks, wurden sehr schnell zu gesellschaftspolitischen Grundsatzkonflikten hochgeschrieben und -geredet, zu Generalangriffen auf die freie Marktwirtschaft oder, wenn Arbeitgeber mit Aussperrungen reagierten, zu Klassenkampf von oben. Inzwischen werden Streiks niedriger gehängt, sie werden als Interessenwahrnehmungen dargestellt, über deren Berechtigung und Verhältnismäßigkeit natürlich gestritten wird, aber es wirkt doch alles unaufgeregter – trotz der Dramatisierungen die Massenmedien brauchen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Welche Rolle spielen Sprachbilder und Motive, die in der Berichterstattung verwendet werden?

Unser Denken und unser Sprechen finden im Medium Sinn statt. Alles, was wir wahrnehmen, statten wir mit – irgendeinem – Sinn aus. Deshalb hat es großen Einfluss auf unser Bild von der Wirklichkeit, welche Bedeutung die Wörter haben, die benutzt werden, ob zum Beispiel über einen "wilden Streik" oder über eine "spontane Arbeitsniederlegung" berichtet wird. "Wild" signalisiert unbeherrscht und bedrohlich, "Spontaneität" hingegen hat auch etwas Sympathisches an sich. Es macht bereits einen Unterschied, ob von "Streik" oder von "Arbeitskampf" gesprochen wird. Die Bezeichnung Streik benennt nur das Verhalten der Arbeitnehmer. Wer Arbeitskampf sagt, spricht auch das Verhalten der Arbeitgeber an, denn zu einem Kampf gehören zwei.

Welche Sprachbilder in der Berichterstattung vorherrschen, entscheidet sich an der Wahl der Perspektive: Wird die kollektive Arbeitsniederlegung vor dem Hintergrund der Arbeitsbedingungen und der Verteilungsfrage als "ultima ratio" gesehen? Oder wird sie von Anfang an als irrationale, schädliche Handlungsweise eingestuft, für die "Unruhestifter" und "Rädelsführer" verantwortlich sind, welche die an sich zufriedenen Mitarbeiter aufhetzen? Entsprechend sind zum Beispiel Beschäftigte, die trotz des Konflikts arbeiten, entweder "Streikbrecher" oder "Arbeitswillige". Wir haben es inzwischen mit einer Berichterstattung zu tun, die sich nur zum kleineren Teil an journalistischen Kriterien der sachlichen Richtigkeit, der generellen Wichtigkeit und der Überparteilichkeit orientiert. Stark vertreten ist stattdessen ein Publizismus, der primär die Aufmerksamkeitsökonomie bedient, dem Auflage, Quote und Klicks das Wichtigste sind. Journalistische Arbeit zielt darauf ab, die tarifpolitischen Konfliktpunkte und sozialen Hintergründe eines Streiks darzustellen und argumentativ-kritisch zu kommentieren. Der Publizismus, wie er vor allem im Privatfernsehen, im Boulevard und auf großen Online-Portalen wie bild.de, aber auch auf spiegel.de Platz greift, benutzt Reizschemata und Erregungsrethorik, darunter Personalisierung, Trivialisierung, Moralisierung und Positionierung. Er ergreift sofort Partei, keineswegs immer gegen die Streikenden. Trotzdem wird, wie etwa beim Arbeitskampf der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL), ein Vorsitzender dann schon mal zum "machtgeilen Buhmann" stilisiert. Kommunikation muss immer verkürzen und vereinfachen, Massenkommunikation um der schnellen Verständlichkeit willen auch Schubladen und Schablonen benutzen. Aber das ist kein Alibi für die Sensationsgier publizistischer Schreihälse.

Wie wichtig ist es für Arbeitnehmervertreter - Gewerkschaften und Verbände - selbst in den Medien Präsenz zu zeigen, um ihre Ziele durchzusetzen?

Wenn man das wirklich wüsste…, das wäre eine große Hilfe. In Krisensituationen, und Arbeitskämpfe haben durchaus Ähnlichkeit mit den zugespitzten Verhältnissen einer Krise, entsteht Medienpräsenz, ob man will oder nicht. Hier ist es ohne Zweifel wichtig, öffentlich sprech- und argumentationsfähig zu sein, Glaubwürdigkeitsdefizite abzuarbeiten oder möglichst nicht entstehen zu lassen. Mit welchem Image eine Organisation, ein Verband aus solchen Phasen großer öffentlicher Aufmerksamkeit herauskommt, hat durchaus Folgen für den Normalbetrieb. Es hat Einflüsse auf Mitarbeiter und Mitglieder, vor allem potentielle Mitglieder. Gewerkschaften haben den großen Vorteil, dass es für sie nicht nur die allgemeine Öffentlichkeit gibt, sondern auch die Betriebsöffentlichkeiten. In der Alltagsarbeit ist die Präsenz in Betrieben und Büros, ist der laufende Dialog mit den Beschäftigten für Gewerkschaften wohl wichtiger als die massenmediale Präsenz. Wobei freilich zu berücksichtigen ist, dass die Beschäftigen auch Medienkonsumenten sind, und eine "schlechte Presse" die gewerkschaftliche Kommunikation in Betrieben und Büros erschwert.

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Hans Jürgen Arlt ist Honorarprofessor für Strategische Kommunikationsplanung an der Berliner Universität der Künste im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Bis 2003 leitete er die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Er studierte zwischen 1969 und 1977 Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in München und Erlangen.