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Deutschland und der Ausnahmezustand | Risikogesellschaft | bpb.de

Deutschland und der Ausnahmezustand

Redaktion | Lea Schrenk

/ 4 Minuten zu lesen

Der Ausnahmezustand stellt eine Art juristische Hintertür zum Schutz der staatlichen Sicherheit dar. Im Falle von Angriffen, Naturkatastrophen oder Umsturzversuchen behalten sich Staaten damit das Recht vor, Teile der Verfassung zumindest vorübergehend außer Kraft zu setzen. Das deutsche Grundgesetz sieht stattdessen die Notstandsgesetze vor.

(Andreas Trojak, flickr, bearbeitet) Lizenz: cc by/2.0/de

Nach den Anschlägen von Nizza im Juli 2016 erließ die französische Nationalversammlung ein Gesetzespaket, das es den Sicherheitskräften unter anderem erlaubt, ohne einen richterlichen Beschluss Hausdurchsuchungen durchzuführen oder Verdächtige unter Hausarrest zu stellen. In der Türkei verleiht der Ausnahmezustand Präsident Erdogan seit dem gescheiterten Militärputsch die Befugnis, Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen. Der Ausnahmezustand gibt der inneren Sicherheit Vorrang und setzt dafür Bürgerrechte oder staatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung rechtmäßig außer Kraft. Eine derartige Einschränkung der Verfassung sieht das deutsche Grundgesetz nicht vor. Diese Entscheidung hat vor allem historische Gründe.

Das Ende der Weimarer Republik

Die Weimarer Verfassung sah für Krisensituationen den Ausnahmezustand vor. Das Notverordnungsrecht nach Artikel 48 der Reichsverfassung gab dem Reichspräsidenten die Möglichkeit, die parlamentarische Kontrolle zu umgehen und per Notverordnung zu regieren. Besonders in den letzten krisenhaften Jahren der Weimarer Republik wurde so die gesetzgebende Gewalt des Parlaments untergraben und die Macht an ein Interner Link: Präsidialkabinett verlagert, das schließlich das Ende der Weimarer Republik einläutete.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus

Der Ausnahmezustand gab den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung im Januar 1933 rechtliche Rückendeckung bei der Ausschaltung ihrer politischen Gegner. Schon am 4. Februar 1933 wurde die „Notverordnung zum Schutze des Deutschen Volkes“ erlassen. Auf dieser Grundlage konnten während des anschließenden Wahlkampfs zur Externer Link: Reichstagswahl Versammlungen und Zeitungen aus vermeintlichen Sicherheitsgründen verboten werden und so politische Gegner im Wahlkampf behindert werden. Eine absolute Mehrheit erreichte die NSDAP bei der Reichstagswahl trotzdem nicht.

Als nur Wochen nach der Machtergreifung am 27. Februar 1933 Externer Link: der Reichstag brannte, gab die nationalsozialistische Führung den Kommunisten die Schuld. Der Brand bot einen willkommenen Anlass, um durch die Reichstagsbrandverordnung den Ausnahmezustand auszurufen und zentrale Grundrechte dauerhaft außer Kraft zu setzen. Die Gestapo durfte Menschen in „Schutzhaft“ nehmen, also in Gefängnisse und sogenannte „wilde“ Konzentrationslager verschleppen. Außerdem wurde das Strafmaß für verschiedene “staatsgefährdende“ Delikte wie z.B. Brandstiftung auf die Todesstrafe hochgesetzt.

Durch das Interner Link: Ermächtigungsgesetz oder auch "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" entmachtete sich der Reichstag ohne die Stimmen der KPD, deren Mandate für ungültig erklärt worden waren, und der SPD am 23. März 1933 schließlich selbst und gab der nationalsozialistischen Regierung das Recht, ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Damit war der Grundstein für die uneingeschränkte nationalsozialistische Herrschaft unter dem Deckmantel der Legalität gelegt.

Der Ausnahmezustand und das Grundgesetz

Als der Parlamentarische Rat nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitete, sollte eine stabile und wehrhafte Demokratie errichtet werden. Aufgrund seiner Bedeutung für das Ende der Weimarer Republik und für die Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft fand das Notverordnungsrecht daher keinen Eingang in das Grundgesetz. Für innere und äußere Notstände waren in den ersten Jahren der Bundesrepublik keine Regelungen vorgesehen. Die Alliierten behielten sich daher notstandsrechtliche Befugnisse vor. Erst 1956 wurde das Grundgesetz um die Interner Link: Wehrverfassung ergänzt, die in der Bundesrepublik die Wiederbewaffnung einleitete. Vorschläge zur Einführung einer Notstandsverfassung konnten sich bis in die späten 1960er Jahre nicht durchsetzen, weil in den Regierungskoalitionen Uneinigkeit über die Ausgestaltung solcher Gesetze bestand. Sollte nur für den Verteidigungsfall oder auch für innere Notstände vorgesorgt werden? Wer sollte im Falle eines Notstands die Exekutivgewalt innehaben?

Im Jahr 1968 traf der Bundestag schließlich Maßnahmen für Krisenzeiten und verabschiedete unter großem Protest der Studierendenbewegung und der Gewerkschaften die Notstandsgesetze als Ergänzung zum Grundgesetz. Ursache dafür waren die Spannungen des Kalten Krieges, aber auch eine inhaltliche Einigung der Regierungskoalition und die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Außerdem konnten durch eigene Notstandsgesetze die Besatzungsrechte der Alliierten ersetzt werden. Mit ihrer Zweidrittelmehrheit erließ die regierende Interner Link: große Koalition von CDU/CSU und SPD am 30. Mai 1968 die Interner Link: Notstandsverfassung.

Notstandsgesetze und strenge Regeln

Die Notstandsgesetze können im Spannungs-, Verteidigungs-, Katastrophenfall und bei einem inneren Notstand angewendet werden. Sie ermöglichen es beispielsweise die Freizügigkeit, also das Grundrecht sich im ganzen Bundesgebiet frei zu bewegen (Art. 11 GG), oder das Briefgeheimnis einzuschränken. Um Entscheidungen in Gefahrensituationen schneller treffen zu können, gibt es außerdem den sogenannten Gemeinsamen Ausschuss - eine Art Notparlament. Er bestehtExterner Link: (Art. 53a GG) zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Gesetzte, die vom Gemeinsamen Ausschuss erlassen werden, sind jedoch höchstens sechs Monate gültig und dürfen nicht die Verfassung ändern.

Auch der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist nur unter strengen Voraussetzungen möglich. Eine Ausnahme bildet zum Beispiel die "Katastrophenhilfe": Bei Naturkatastrophen, aber auch bei einem Terroranschlag, ist der Einsatz der Bundeswehr zum Schutz der Bürger/-innen möglich. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Hürde für den Einsatz bei Terroranschlägen sehr hoch angesetzt. Erlaubt ist der Einsatz nur, wenn ein "besonders schwerer Unglücksfall" eintritt, also eine "ungewöhnliche Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes". Über die Möglichkeit, die Bundeswehr auch bei Terrorwarnung einzusetzen, wird gerade viel diskutiert.

Der Ausnahmezustand bleibt vorerst tabu

Um Missbrauch zu verhindern, darf der Kern des Grundgesetzes nicht angetastet werden. Ein Ausnahmezustand, der Gewaltenteilung und Verfassung außer Kraft setzt, ist weiterhin nicht vorgesehen. Zum Schutz vor einer neuen Diktatur garantiert das Grundgesetz den Bürger/-innen in Artikel 20 (4) GG das Externer Link: Widerstandsrecht. Wenn die rechtsstaatliche Verfassung und das Grundgesetz in Gefahr sind, dürfen die Bürger/-innen als letzte Möglichkeit Widerstand zum Schutz der bestehenden Ordnung leisten.

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Lea Schrenk studiert im Master Politische Bildung und Deutsch auf Lehramt an der Universität Potsdam. Während des Bachelors verbrachte sie ein Semester im türkischen Izmir. Als studentische Hilfskraft hat sie im Fachbereich Multimedia der bpb und am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Potsdam gearbeitet.