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"Wahlbeteiligung ist ein Indikator für die Gesundheit der Demokratie" | Themen | bpb.de

"Wahlbeteiligung ist ein Indikator für die Gesundheit der Demokratie"

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Der Trend geht seit Jahren zum Nichtwählen. Das sei problematisch, weil vor allem bestimmte Gruppen von Bürgern ihre Stimmen nicht abgeben, erklärt der Politikwissenschaftler Thorsten Faas. Die Mehrheit von ihnen sei unzufrieden mit dem politischen System. Eine Diskussion über eine Wahlpflicht könnte einen Impuls geben.

Seit Jahrzehnten sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland. (© picture-alliance/dpa)

Herr Faas, die Landtagswahl in Bayern zuletzt war zwar eine Ausnahme, weil die Wahlbeteiligung stieg – allgemein ist aber zu beobachten, dass die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten auf allen Ebenen des politischen Systems in Deutschland sinkt. Was bedeutet das für die Legitimation der politischen Akteure?

Es gilt der Grundsatz der demokratischen Gleichheit. Und natürlich würden wir uns wünschen, dass sich dieser Grundsatz am Wahltag manifestiert: Dass es also nicht nur ein gleiches Wahlrecht gibt, sondern dass es möglichst alle Wahlberechtigten auch nutzen. Die Wahlbeteiligung ist ein wichtiger Indikator für die Gesundheit der Demokratie. In dem Maße, in dem sie rückläufig ist, wird das Gebot der Gleichheit verletzt. Das sollte man nicht mit einem Schulterzucken wegwischen, sondern genau hinschauen. Aber daran hapert es, es gibt beispielsweise keine Umfragen, die vor der Wahl die Wahlbeteiligung schätzen, dafür aber Dutzende, die die “Sonntagsfrage” stellen. Die Wahlbeteiligung fristet ein Mauerblümchendasein.

Woran liegt es, dass die Wahlbeteiligung als Indikator in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt?

Wir sind historisch gesehen verwöhnt in Deutschland. In den 70er Jahren gingen mehr als 90 Prozent zu Bundestagswahlen, das sind Werte, wie man sie sonst nur aus Ländern mit Wahlpflicht kennt.

Das Magazin “Der Spiegel” schrieb, die Nichtwahl sei salonfähig geworden. Wie ist das aus Sicht der empirischen Wissenschaft?

In dem Maße, in dem mehr über Nichtwahl gesprochen wird, wird deutlich, dass dieses Verhalten weit verbreitet ist. Alleine die schiere Masse der Nichtwähler legitimiert die Wahlenthaltung bis zu einem gewissen Grad. Man könnte sagen, das ist die normative Kraft des Faktischen. Beunruhigend finde ich, dass bei dieser Wahl viele Intellektuelle nach außen tragen, dass sie nicht wählen. Sie sagen, sie wählen nicht, weil sie kein attraktives Angebot für sich finden. Man muss aufpassen, dass dadurch nicht ein falsches Bild von Nichtwählern gezeichnet wird. Natürlich gibt es politisch hoch interessierte Nichtwähler, die sich vielleicht sogar intensiv mit den Parteiprogrammen beschäftigen – und am Ende völlig frustriert feststellen, dass für sie nichts Attraktives dabei ist. Aber das ist eine Minderheit der Nichtwähler.

Dann lassen Sie uns einen Blick auf die Nichtwähler werfen – wer wählt nicht?

Das Gros der Nichtwähler ist durch klare sozialstrukturelle Merkmale gekennzeichnet: Es sind eher jüngere Menschen, es sind Menschen mit niedriger formaler Bildung, die häufig in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Der Anteil der Nichtwähler ist in den Problemvierteln der deutschen Großstädte besonders hoch, also dort, wo viele arbeitslos sind, wo viele von Hartz IV leben. Das sind die typischen Nichtwähler – die aber in der öffentlichen Diskussion kaum präsent sind. Das stellt auch das Argument infrage, es sei eben einfach nur ihr gutes Recht, wenn sie zu Hause bleiben. Denn die Nichtwähler gehören überwiegend zu einer Gruppe, die sehr stark von politischen Entscheidungen abhängig ist. Denken Sie nur daran: Der Hartz IV-Satz ist eine politische Entscheidung. Man kann also nicht argumentieren, dass Politik für diese Menschen nicht relevant ist.

Eine Studie spricht von regelrechten Nichtwähler-Milieus – gibt es solche festen Strukturen?

Wählen ist ein sozialer Akt. Impulse aus dem Umfeld, sei aus den Medien, den Parteien oder dem persönlichen Umfeld, sind wichtig. Sie geben am Ende oft den entscheidenden Impuls, ob jemand zur Wahl geht oder nicht. Es kann mobilisierend wirken, wenn man in einem politischen Umfeld lebt. Es kann aber auch gegenteilig wirken, wenn man beobachtet, dass sich kein Mensch für eine Wahl interessiert, vielleicht sogar abschätzige Meinungen über Politik dominieren. Es gibt Hinweise, dass sich solche Nichtwähler-Milieus herauskristallisieren, in deutschen Großstädten gibt es in Problemvierteln besonders viele Nichtwähler. Dann droht eine Verfestigung.

Gehen denn die Nichtwähler dauerhaft nicht zur Stimmabgabe oder sind sie eher "Wähler im Wartestand"?

Die "Wähler im Wartestand" gibt es, aber die Größenordnung wird oft überschätzt. Die Verfestigung der Nichtwahl wird hingegen unterschätzt.

Die Politikwissenschaft bietet zwei Erklärungsstränge an, warum Menschen nicht zur Wahl gehen. Manche Forscher argumentieren, Nichtwähler verzichteten auf die Wahl, weil sie zufrieden mit dem politischen System seien. Andere Wissenschaftler interpretieren Wahlenthaltung gegenteilig: Die Nichtwahl sei Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem politischen System. Was ist aus ihrer Sicht das dominierende Motiv?

Eine kleine methodische Vorbemerkung: Wir müssten eigentlich mehr über Nichtwähler wissen. Aber das Forschungsfeld ist sehr schwierig: Wir sind mit der Frage konfrontiert, wie wir die Nichtwähler überhaupt erreichen, denn sie nehmen mit höherer Wahrscheinlichkeit als andere Gruppen nicht an Umfragen teil.

Aber die vorliegenden Daten zeigen: Es gibt die beiden Muster, die Sie angesprochen haben. Es gibt sie also durchaus, die zufriedenen Nichtwähler, die nicht zur Wahl gehen, weil sie mit der Politik zufrieden sind und keinen Änderungsbedarf sehen. Aber dominant ist eindeutig das Motiv der Unzufriedenheit: Die Nichtwähler sind entweder mit dem System an sich unzufrieden, Politik kommt bei ihnen nicht an oder sie haben die fatalistische Sichtweise, dass Politik ohnehin nichts bringt. Für viele Menschen ist zudem das Bestreiten des Alltags Problem genug. Politik, von der man nicht erkennt, dass sie den eigenen Alltag berührt, ist dann sehr weit weg. Die Wahlteilnahme scheint überflüssig zu sein.

Dieses Motiv der Nichtwahl ist problematisch. Denken Sie an den demokratischen Regelkreislauf: Unzufriedenheit artikuliert sich demnach ja am Wahltag, dann gibt es politische Veränderungen, aus Unzufriedenheit wird dann Zufriedenheit. Das funktioniert aber nicht, wenn Unzufriedene gar nicht erst zur Wahl gehen.

Resultiert aus dieser Unzufriedenheit ein allgemeines Desinteresse an Politik?

Die wissenschaftlichen Studien zeichnen an einigen Stellen das Bild, als seien Nichtwähler erstaunlich interessiert an Politik. Aber ich glaube, damit muss man vorsichtig sein. Das ist möglicherweise ein Kunstprodukt, weil die Umfragen vielleicht nur einen bestimmten Teil der Nichtwähler erreichen. Insgesamt ist das politische Interesse in der Gruppe der Nichtwähler nicht stark ausgeprägt.

Generell gibt es zwei wichtige Merkmale zur Erklärung der Wahlteilnahme. Das erste ist eine verinnerlichte Wahlnorm, also ob die Wahlberechtigten der Ansicht sind, ein guter Bürger müsse zur Wahl gehen. Der zweite Faktor ist das politische Interesse.

Der Anteil der Nicht-Wähler steigt seit Jahren. (Wikimedia, Udo Brechtel) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Das deutsche Wahlsystem gilt im internationalen Vergleich als kompliziert, Stichwort Erst- und Zweitstimme. Ist das Wahlsystem ein formaler Faktor, der Bürger vom Wählen abhält?

Das ist ein Argument, das vor allem auf kommunaler Ebene zieht. Dort kann man kumulieren und panaschieren, hat oft viele Stimmen. Auch bei Bundestagswahlen gibt es durchaus bedenkliche Signale, etwa wenn man sieht, wie viele Menschen Erst- und Zweitstimme verwechseln. Aber an dieser Stelle finden wir nicht den Hauptgrund, warum Menschen nicht zur Wahl gehen.

Lassen Sie uns die Perspektive wechseln. Viele Medien beklagen, der aktuelle Wahlkampf sei wenig polarisiert. Welche Rolle spielt dies für die Entscheidung mancher Bürger, nicht zur Wahl zu gehen?

Es gibt eine Trilogie: Menschen wählen nicht, weil sie nicht wollen, nicht können oder weil sie niemand gefragt hat. Ersteres ist die Aufgabe der Parteien: Sie müssen den Menschen klarmachen, dass es sich lohnt zu wählen, dass es Unterschiede zwischen den Parteien gibt. An einigen Stellen des aktuellen Wahlkampfs hapert es daran. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass manche Strategien darauf aufbauen, Unterschiede zwischen den Parteien möglichst kleinzureden, um Mobilisierungsmöglichkeiten abzubauen. Genauso wichtig ist der Grund, dass niemand die Wähler gefragt hat. Der Wahlkampf muss bei den Bürgern ankommen. Hier kann man anders als früher stärkere Bemühungen erkennen: Viele Kandidaten gehen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür. Das kann man als Reaktion darauf deuten, dass sie die Nichtwahl als Problem erkannt haben. Sie wollen gezielt dort mobilisieren, wo die Wahlbeteiligung zuletzt rückläufig war.

Sie haben angesprochen, dass vor allem bestimmte Gruppen nicht zur Wahl gehen. Führt das zu einer sozialen Schieflage bei der politischen Repräsentation?

Wenn man unterstellt, dass die Kandidaten überlegen, wie sie mit knappen Zeit- und Geldressourcen im Wahlkampf umgehen, dann muss man davon ausgehen, dass sie ihr Hauptaugenmerk auf die Schichten legen, die wahrscheinlich an der Wahl teilnehmen. Das hat wiederum Folgen für das, was politisch umgesetzt wird. Es drohen Spiralprozesse: Die Nichtwähler verzichten auf die Stimmabgabe, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen. Sie bekommen dann auch nicht die Politik, die sie sich gewünscht hätten – und fühlen sich noch weniger repräsentiert.

Was könnte man aus ihrer Sicht tun, um die Wahlbeteiligung stärker zu erhöhen?

Es gab immer bei denjenigen Wahlen eine hohe Wahlbeteiligung, bei denen etwas auf dem Spiel stand, bei denen es klare Alternativen gab. Denken Sie an 1998 – Schröder oder Kohl. Denken Sie an 1972 – Ostpolitik ja oder nein. Es hilft, wenn große Alternativen im Raum stehen.

Aber auch im Kleinen kann man durchaus ansetzen: Man könnte versuchen, für Parteien Anreize zu schaffen, dass sie sich stärker an der Wahlbeteiligung ausrichten. In der Weimarer Republik hing die Zahl der Mandate im Reichstag von der Wahlbeteiligung ab. Es könnten Sitze leer bleiben, die die Nichtwähler repräsentieren. Dann wären sie symbolisch präsent. Man könnte außerdem die Wahlkampfkostenfinanzierung der Parteien noch stärker von der Wahlbeteiligung abhängig machen.

Die härteste institutionelle Keule wäre natürlich eine Wahlpflicht. Nun könnte man dagegen einwenden, das würde dem Prinzip der Freiheit der Wahl widersprechen. Auf der anderen Seite: Dass Politik etwas mit Zwang zu tun hat, ist gar nicht so fremd. Wir zahlen alle nicht ganz freiwillig Steuern und leisten damit trotzdem einen unerlässlichen Beitrag zur Stützung des politischen Systems. Eine Diskussion über eine Wahlpflicht würde schon den einen oder anderen interessanten Aspekt der Nichtwahl auf die Bühne der Öffentlichkeit bringen.

Wie müsste eine wirkungsvolle Wahlpflicht gestaltet sein? Müsste Wahlenthaltung von einer drastischen Geldstrafe bedroht sein?

Eine Wahlpflicht wäre zunächst ein Statement: Die Gesellschaft erwartet von ihren Bürgern, sich an der Wahl zu beteiligen. Das wäre in gewisser Weise sogar eine Wertschätzung der Politik. Die Frage der Sanktionen stellt sich natürlich. Wir denken immer an negative Sanktionen. Man könnte es auch umdrehen: Wer wählen geht, bekommt eine Belohnung. Darüber müsste man kreativ nachdenken.

Thorsten Faas

Thorsten Faas ist Professor für Empirische Politikforschung am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. (© Peter Pulkowski)

Thorsten Faas ist Professor für Empirische Politikforschung am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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