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Zwang zur Koexistenz in den fünfziger Jahren | Deutsche Teilung - Deutsche Einheit | bpb.de

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Zwang zur Koexistenz in den fünfziger Jahren

Manfred Görtemaker

/ 18 Minuten zu lesen

Nach Stalins Tod erkannte die Politik der beiden Blöcke zunehmend die gemeinsame Verantwortung für den Frieden in der Welt und den Nutzen einer "friedlichen Koexistenz" der Staaten beider Seiten.

Ost-Berliner Aufständige und ein sowjetischer Panzer am 17. Juni 1953. (© AP)

Einleitung

Mit Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950 erreichte der Ost-West-Konflikt nach der Berlin-Blockade 1948/49 einen zweiten Höhepunkt. Der Angriff der Streitkräfte des kommunistischen Nordkorea - mit sowjetischer Rückendeckung und Ermunterung - auf das von amerikanischen Truppen eben erst geräumte Südkorea war für den Westen der klassische Beweis für die Aggressivität des internationalen Kommunismus. Es zeigte dessen Absicht, überall dort expansiv vorzugehen, wo westliche Schwäche dies zuließ. Korea war deshalb eine Auseinandersetzung von beispielhafter Bedeutung. Der Westen insgesamt fühlte sich herausgefordert: Von der sowjetischen Machterweiterung im Gefolge des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa über die kommunistische Revolution in China 1949 bis zum Korea-Krieg wurde eine gerade Linie gezogen.

Der nordkoreanische Angriff wurde sofort als Bedrohung der gesamten freien Welt aufgefaßt. Zwar hatte der amerikanische Außenminister Dean Acheson noch im Januar 1950 in einer Rede vor dem Nationalen Presseclub in Washington ausdrücklich erklärt, Korea gehöre nicht zum "amerikanischen Verteidigungsbereich", und damit möglicherweise Nordkorea und die Sowjetunion zu einer Fehlkalkulation veranlaßt. Dennoch reagierte der Westen jetzt mit weitreichenden Maßnahmen: Innerhalb weniger Tage wurden Teile der in Japan stationierten US-Streitkräfte nach Korea entsandt, um die südkoreanischen Verbände gegen die Invasion aus dem Norden zu unterstützen. Sie operierten dabei formell im Auftrag des UN-Sicherheitsrates, der zu dieser Zeit von der Sowjetunion boykottiert wurde, so daß Stalin gegen die Entscheidung des Rates, die amerikanische Intervention durch einen Beschluß der Vereinten Nationen zu legitimieren, kein Veto hatte einlegen können.

Zudem wurden die Verteidigungsausgaben der USA 1950/51 innerhalb eines Jahres von 13,5 auf 48,2 Milliarden Dollar erhöht. Die NATO, die bis zu diesem Zeitpunkt praktisch nur auf dem Papier existiert hatte, wurde - erst jetzt - zu einer wirksamen Militärallianz mit einem amerikanischen Oberkommandierenden und der dauerhaften Stationierung amerikanischer Truppen in Europa ausgebaut. Und schließlich wurden die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland und Japans sowie ihre Integration in das westliche Bündnissystem nun energisch vorangetrieben, um ihr Potential für die gemeinsame Verteidigung zu nutzen.

Deutsche Wiederbewaffnung

Der Korea-Krieg diente somit nicht zuletzt als "Katalysator" für die Wiederbewaffnung Deutschlands. So erklärte Bundeskanzler Konrad Adenauer in einem "Memorandum über die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und nach außen" vom 29. August 1950, die Entwicklung im Fernen Osten habe "innerhalb der deutschen Bevölkerung Beunruhigung und Unsicherheit ausgelöst". Die Bundesrepublik sei daher bereit, "im Falle der Bildung einer internationalen westeuropäischen Armee einen Beitrag in Form eines deutschen Kontingents zu leisten".

Die amerikanische Regierung, die ohnehin einen westdeutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas anstrebte, griff den Vorschlag Adenauers bereitwillig auf und übte Druck auf Frankreich aus, eine deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen einer Europa-Armee zu akzeptieren. Aus optischen Gründen blieb es jedoch dem französischen Ministerpräsidenten René Pleven überlassen, in einer Rede vor der Nationalversammlung in Paris am 24. Oktober 1950 das Projekt einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG) unter Beteiligung der Deutschen zu präsentieren. Grundgedanke der Europa-Armee war die Vorstellung, integrierte Verbände aus verschiedenen europäischen Ländern zu schaffen, um den traditionellen Nationalstaat im Kernbereich der Außen- und Sicherheitspolitik zu überwinden und damit zugleich den Weg in Richtung einer Politischen Union in Europa zu beschreiten.

Für die Sowjetunion war diese Vorstellung allerdings schwer zu ertragen, weil sie nicht nur zu einer Verstärkung der westeuropäischen Verteidigungsfähigkeit führen mußte, sondern auch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland einschloß. Stalin reagierte daher am 10. März 1952 - unmittelbar vor der Unterzeichnung des EVG-Vertrages - mit einer diplomatischen Note an die drei Westmächte, in der er die Wiedervereinigung Deutschlands unter der Bedingung anbot, daß die Bundesrepublik auf die Westintegration verzichtete und bereit wäre, den Status der Neutralität zu akzeptieren. In diesem Fall wollte Moskau den Deutschen sogar die Aufstellung eigener Verteidigungskräfte gestatten.

QuellentextWiedervereinigung in Neutralität? Die Stalin-Noten von 1952

(Zweite) Note der sowjetischen Regierung an die Westmächte über den Friedensvertrag mit Deutschland (vom 9. April 1952)

Im Zusammenhang mit der Note der Regierung der Vereinigten Staaten vom 25. März dieses Jahres erachtet es die Sowjetregierung für notwendig, folgendes zu erklären:

In ihrer Note vom 10. März hat die Sowjetregierung [...] vorgeschlagen, unverzüglich die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erörtern, um in unmittelbarer Zukunft einen vereinbarten Entwurf für einen Friedensvertrag vorzubereiten. [...]

Die Sowjetregierung hat dabei den Vorschlag gemacht, daß der Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung, ausgearbeitet werden soll. In der Note vom 10. März wurde weiterhin vorgesehen, daß die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, die Frage der Voraussetzungen für die möglichst baldige Bildung einer gesamtdeutschen, dem Willen des deutschen Volkes Ausdruck verleihenden Regierung prüfen sollen.

[...] Die Dringlichkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland macht es notwendig, daß die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs unverzüglich Maßnahmen zur Vereinigung Deutschlands und zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung treffen.

In Übereinstimmung hiermit erachtet es die Sowjetregierung für notwendig, daß die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs ohne Verzug die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen erörtern. [...]

Was den Vorschlag betrifft, daß eine Kommission der Vereinten Nationen im Zusammenhang mit bevorstehenden freien gesamtdeutschen Wahlen prüfen soll, ob die Voraussetzungen für solche Wahlen gegeben sind, so steht dieser Vorschlag im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen, die gemäß Artikel 107 eine Einmischung der Vereinten Nationen in deutsche Angelegenheiten ausschließt. Eine solche Prüfung könnte durch eine Kommission vorgenommen werden, die von den vier in Deutschland Besatzungsfunktionen ausübenden Mächten zu bilden wäre.

[...] Im sowjetischen Entwurf der Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland heißt es: "Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Kriege gegen Deutschland teilgenommen hat."

Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß ein solcher Vorschlag den Interessen der Mächte, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, sowie auch der Nachbarstaaten und gleichermaßen den Interessen Deutschlands selber als eines friedliebenden und demokratischen Staates entspricht. [...]

In dem sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland heißt es: "Es wird Deutschland gestattet sein, eigene nationale Streitkräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu besitzen, die für die Verteidigung des Landes notwendig sind."

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es sowohl für die Sache des Friedens als auch für die deutsche Nation bedeutend besser wäre, solche für die Verteidigung bestimmte Streitkräfte zu schaffen, als in Westdeutschland Söldnertruppen der Revanchepolitiker mit faschistischen Hitler-Generälen an der Spitze aufzustellen [...].

Quelle: Europa-Archiv, 1952, 1, S. 4866 f.

(Zweite) Note der Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten an die Regierung der Sowjetunion

(Wortlaut der britischen Note vom 13. Mai 1952)

2. Die Regierung Ihrer Majestät ist bereit, über diese Fragen Verhandlungen mit der Sowjetregierung aufzunehmen; sie wünscht, dies zu tun, sobald sie die Überzeugung gewonnen hat, daß die sowjetische Haltung die Verhandlungen nicht wieder ergebnislos machen wird. Die Regierung Ihrer Majestät sowie die Regierungen der Vereinigten Staaten, Frankreichs und der Sowjetunion müßten daher zunächst zu einer klaren Verständigung über das Ausmaß der Verhandlungen und die zu prüfenden Grundprobleme gelangen. [...]

3. In ihrer letzten Note legt die Sowjetregierung nunmehr dar, daß Deutschland "nicht in die eine oder andere Mächtegruppe einbezogen werden darf, die gegen irgendeinen friedliebenden Staat gerichtet ist". Deutschlands vorgeschlagene Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen dürfte eine derartige Bestimmung sicherlich erübrigen. Auf jeden Fall könnte die Regierung Ihrer Majestät sich nicht mit Bestimmungen einverstanden erklären, durch die Deutschland untersagt würde, eine Verbindung mit anderen Staaten einzugehen, die von einem der Unterzeichnerstaaten des Friedensvertrages willkürlich als "gegen irgendeinen friedliebenden Staat gerichtet!" angesehen werden könnte. Die Regierung Ihrer Majestät kann nicht zulassen, daß Deutschland das Grundrecht einer freien und gleichberechtigten Nation, sich mit anderen Nationen zu friedlichen Zwecken zu verbinden, vorenthalten werden soll. [...]

4. Die Regierung Ihrer Majestät wies in ihrer Note vom 25. März darauf hin, daß sie die Bestrebungen, welche die freien Staaten Westeuropas einschließlich der Bundesrepublik Deutschland zur Schaffung einer friedlichen europäischen Gemeinschaft unternehmen und damit zum Beginn einer neuen Ära, in der die internationalen Beziehungen auf Zusammenarbeit und nicht auf Rivalität und Mißtrauen begründet sind, in vollem Ausmaß unterstützt. Die Regierung Ihrer Majestät begrüßt die Entwicklung einer derartigen europäischen Gemeinschaft, an der Deutschland teilnehmen wird. Deutschland ist gespalten, weil Europa gespalten ist. Diese Politik der europäischen Einheit kann die Interessen der Sowjetunion oder die irgendeines anderen Landes, dessen Politik der Aufrechterhaltung des Friedens gilt, nicht bedrohen. [...]

6. Ein deutscher Friedensvertrag kann nur ausgearbeitet werden, wenn eine gesamtdeutsche Regierung besteht, die auf Grund freier Wahlen gebildet und in der Lage ist, in voller Freiheit an der Erörterung eines derartigen Vertrages teilzunehmen. Es ist daher nicht möglich, im gegenwärtigen Zeitpunkt Besprechungen über die Bestimmungen eines deutschen Friedensvertrages abzuhalten. Die Regierung Ihrer Majestät hat ihre Stellungnahme zu einigen der sowjetischen Vorschläge bereits mitgeteilt, insbesondere über die irrige Auslegung der territorialen Bestimmungen des Potsdamer Protokolls, sowie über die Absicht der Sowjetregierung, Deutschland in ständiger Isolierung von Westeuropa zu halten und es gleichzeitig zu zwingen, den Versuch zu machen, für seine Verteidigung lediglich durch begrenzte Streitkräfte ausschließlich nationaler Art zu sorgen. Die sowjetischen Vorschläge würden eine ständige Fesselung des deutschen Rechtes auf internationale Verbindung und einen ständigen Zustand der Spannung und Unsicherheit in Mitteleuropa bedeuten.

7. Die aus freien Wahlen hervorgehende deutsche Regierung muß selbst frei sein. Diese Freiheit ist sowohl vor als auch nach der Aushandlung eines Friedensvertrages wesentlich. [...]

8. Die Regierung Ihrer Majestät stellt zu ihrer Befriedigung fest, daß die Sowjetregierung nunmehr grundsätzlich damit einverstanden ist, daß in ganz Deutschland freie Wahlen abgehalten werden sollen. Diese freien Wahlen können jedoch nur dann stattfinden, wenn die erforderlichen Voraussetzungen in allen Teilen Deutschlands bestehen und nicht nur am Wahltage und davor, sondern auch danach aufrechterhalten werden. [...]

Quelle: Die Bemühungen der Bundesregierung um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, hrsg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1953, S. 92 ff.

Für eine Umkehr war es jedoch längst zu spät, zumal das seit dem Zweiten Weltkrieg gewachsene Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion leichtfertige Experimente in der Sicherheitspolitik nicht zuließ. Die "Stalin-Note" wurde daher zwar beantwortet, aber nicht mit der letzten Konsequenz ausgetestet. Keinesfalls sollte die EVG dadurch verzögert oder gar torpediert werden. Im übrigens bewies der Korea-Krieg im Fernen Osten, wie gespannt und gefährlich die internationale Lage immer noch war.

Dies mußte auch George F. Kennan - der "Vater der Eindämmungspolitik" - erfahren, der am 21. Dezember 1951 von Präsident Truman zum amerikanischen Botschafter in der UdSSR ernannt wurde und bald darauf sein Amt in Moskau antrat. Neun Monate lang tat die sowjetische Regierung, als ob er gar nicht vorhanden wäre. Dann wurde er im September 1952 vom Kreml zur persona non grata (zur unerwünschten Person) erklärt, so daß Truman nichts anderes übrig blieb, als ihn wieder aus Moskau abzuberufen.

Zwei Monate später fanden in den USA Präsidentschaftswahlen statt, aus denen Dwight D. Eisenhower als Sieger hervorging. Neuer Außenminister wurde John Foster Dulles, der die Eindämmungspolitik Kennans und Trumans als allzu defensiv verurteilte und den internationalen Kommunismus durch eine offensive Politik der "Befreiung" (liberation) und der "Zurückdrängung" (roll back) zu bekämpfen versprach. Die Ost-West-Konfrontation, die mit dem Korea-Krieg gerade einen weiteren gefährlichen Höhepunkt erreicht hatte, drohte sich dadurch noch mehr zuzuspitzen.

Die Eisenhower-Regierung hatte ihre Arbeit jedoch kaum aufgenommen, als am 5. März 1953 die Nachricht vom Tode Josef W. Stalins eintraf. Der Diktator hinterließ seinem Land nicht nur eine ungeklärte Nachfolgefrage, sondern auch eine Fülle ungelöster innen- und außenpolitischer Probleme. Dazu gehörten vor allem die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der sowjetischen Wirtschaft, um die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu verbessern, sowie die Überwindung der internationalen Isolation, in die Stalin die Sowjetunion durch seine expansive Macht- und Interessenpolitik zunehmend geführt hatte.

Die Lockerung der Konfrontation 1953

Die Nachfolger Stalins unternahmen deshalb sogleich den Versuch, den Ost-West-Konflikt zu entspannen und die Beziehungen zum Westen neu zu ordnen. Äußerungen des neuen Ministerpräsidenten Georgij M. Malenkow sowie von Innenminister Lawrentij P. Berija deuteten darauf hin, daß die Sowjetunion nunmehr bereit sein würde, bestehende Probleme einvernehmlich zu regeln. In Korea kam es am 27. Juli 1953 im Vertrag von Panmunjon zur Feuereinstellung, zum Austausch der Gefangenen und zur Stabilisierung des Frontverlaufs am 38. Breitengrad. In Deutschland sah es vor der Erhebung in der DDR am 16./17. Juni sogar zeitweilig so aus, als würde die Sowjetunion eine Wiedervereinigung zu westlichen Bedingungen mit freien Wahlen und Selbstbestimmung zulassen.

In der Österreich-Frage und im Indochina-Konflikt deuteten sich ebenfalls Kompromißmöglichkeiten an. Überdies konnten der sowjetische Verzicht auf eine Revision der Konvention von Montreux über die Meerengen sowie die Aufgabe des Anspruchs der UdSSR auf die türkischen Provinzen Kars und Ardahan als Gesten guten Willens seitens der neuen sowjetischen Führung verstanden werden.

Malenkow erklärte dazu am 8. August 1953 vor dem Obersten Sowjet: "Wir stehen fest auf dem Standpunkt, daß es gegenwärtig keine strittige oder ungelöste Frage gibt, die nicht auf friedlichem Wege aufgrund gegenseitiger Verständigung der Beteiligten gelöst werden könnte. Dies bezieht sich auch auf die strittigen Fragen, die zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion bestehen. Wir sind nach wie vor für ein friedliches Nebeneinanderbestehen beider Systeme. Wir sind der Ansicht, daß es keinen objektiven Grund für Zusammenstöße zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion gibt."

Für Eisenhower und Dulles waren diese Zugeständnisse und Erklärungen allerdings noch kein Beweis, daß die sowjetische Politik sich grundlegend geändert hatte. Zwar verlieh Präsident Eisenhower seiner Hoffnung auf eine Entspannung des Ost-West-Konflikts in einer vielbeachteten Rede vor dem amerikanischen Zeitungsverlegerverband am 16. April 1953 selbst Ausdruck. Doch schon auf den Vorschlag des britischen Premierministers Winston Churchill vom 10. Mai, die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Entspannungsinitiativen auf einem Gipfeltreffen mit der neuen Moskauer Führung persönlich zu testen, reagierte er eher zurückhaltend, ja ablehnend. Und als sowjetische Truppen wenig später, am 17. Juni 1953, in Ost-Berlin und der DDR den Aufstand der Bevölkerung gewaltsam niederschlugen, schwenkte er wieder ganz auf die Linie von Außenminister Dulles ein, der ungeachtet der verbreiteten Entspannungseuphorie unbeirrt an seiner Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion festhielt.

Indochina-Konferenz

Nach Auffassung von Dulles sollte es Verhandlungen - wenn überhaupt - erst nach der Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und nach der gesicherten politischen und militärischen Integration der Bundesrepublik Deutschland in das Bündnissystem des Westens geben. Dulles lehnte deshalb nicht nur ein Ost-West-Gipfeltreffen im Sinne Churchills ab, sondern sträubte sich auch lange gegen den Kompromiß einer Außenministerkonferenz der Vier Mächte, zu der es schließlich auf Drängen Bundeskanzler Adenauers doch kam und die im Januar und Februar 1954 in Berlin abgehalten wurde. Die Berliner Konferenz bestätigte allerdings die Skepsis von Dulles. Die Sowjetunion war weiterhin nicht bereit, freie Wahlen zuzulassen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren.

Auch die anschließend - von April bis Juli 1954 - in Genf abgehaltene erste Indochina-Konferenz war nach Ansicht von Dulles nicht geeignet, sowjetischen Entspannungswillen zu dokumentieren. Zwar half die UdSSR entscheidend mit, den Süden Vietnams einer antikommunistischen Regierung zu unterstellen und Laos und Kambodscha einen neutralen Status zu geben, um Frankreich einen "ehrenvollen Rückzug" aus Indochina zu ermöglichen. Aber dieses Entgegenkommen war nach amerikanischer Auffassung hauptsächlich taktisch bestimmt, um die Entscheidung der französischen Nationalversammlung über die Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu beeinflussen, über die im Frühjahr und Sommer 1954 in Frankreich heftig gestritten wurde.

Gründung der WEU

Die Vertagung der Ratifizierung des EVG-Vertrages in der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954 auf unbestimmte Zeit kam einer Ablehnung gleich. In Frankreich war die EVG nie populär gewesen. Jean Monnet hatte deren Grundgedanken nach Beginn des Korea-Krieges auf amerikanischen Druck hin entwickelt; Ministerpräsident René Pleven hatte sie ohne Begeisterung im Oktober 1950 der französischen Nation vorgetragen. Danach hatte man eineinhalb Jahre über Einzelheiten des Vertrages gestritten, anschließend noch einmal mehr als zwei Jahre die Ratifizierung vor sich her geschoben.

Jetzt war das Projekt endgültig gescheitert, weil die französischen Parlamentarier sich nicht mit der Einbuße an Souveränität im empfindlichen Bereich der nationalen Sicherheit abfinden mochten. Schlimmer noch als die Vorstellung von deutschen Truppen war die Befürchtung, nicht mehr uneingeschränkt über die eigenen Streitkräfte verfügen zu können und einem europäischen Oberkommando unterworfen zu sein.

Das Scheitern der EVG machte indessen neue Verhandlungen notwendig. Die USA und auch Großbritannien hielten weiterhin an der Forderung nach einem deutschen Wehrbeitrag fest. Dabei trat der Gedanke, mit einer Europa-Armee einen Beitrag zur europäischen Einigung zu leisten, weitgehend in den Hintergrund. Innerhalb weniger Monate wurde nun die Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem auf der Grundlage der Nationalstaatlichkeit vollzogen. Am 23. Oktober 1954 erklärte die Bundesrepublik Deutschland in den Pariser Verträgen ihren Beitritt zur Westeuropäischen Union (WEU) und zur NATO.

Die WEU war erst am selben Tag aus dem "Brüsseler Vertrag" hervorgegangen, den Frankreich, Großbritannien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande am 17. März 1948 zum gegenseitigen Beistand für den Fall "der Wiederaufnahme einer deutschen Angriffspolitik" geschlossen hatten. Im WEU-Vertrag vom 23. Oktober 1954 ersetzten die Vertragspartner den gegen Deutschland gerichteten Vertragszweck nun durch das Ziel, "die Einheit Europas zu fördern". Hinsichtlich der Verteidigungspolitik legte Artikel 5 eine Beistandspflicht für den Fall fest, daß ein Vertragsstaat in Europa das Ziel eines bewaffneten Angriffs werden sollte. Bei der Durchführung des Vertrages sollten die Vertragspartner und die Organe der WEU mit der NATO zusammenarbeiten. Eine Parallelorganisation zu den militärischen NATO-Stellen sei erwünscht. In militärischen Angelegenheiten stützte sich der WEU-Rat (als oberstes Entscheidungsorgan) auf die Auskunftserteilung und die Beratung durch die zuständigen NATO-Stellen.

Diese enge Verzahnung zwischen NATO und WEU sollte einen Ersatz für die mit dem Scheitern der EVG verlorengegangene direkte Kontrolle des künftigen deutschen Militärpotentials darstellen. Dies machte es für die Nachbarn leichter - oft sogar erst möglich -, die deutsche Wiederbewaffnung zu akzeptieren, die einerseits gewollt, andererseits aber auch gefürchtet wurde. Tatsächlich blieb die WEU jedoch bis zur Neuorientierung der westlichen Sicherheitspolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre ein "Papiertiger" ohne militärische Bedeutung. Was zählte, waren der NATO-Beitritt der Bundesrepublik und die deutsche Wiederbewaffnung, nicht die flankierenden politischen und juristischen Begleitmaßnahmen, mit denen sie vorsorglich versehen wurden, um möglicher öffentlicher Kritik vorzubeugen.

Mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 wurde die politische und militärische Konsolidierung des Westens abgeschlossen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde als souveräner Staat anerkannt und erklärte sich bereit, einen angemessenen Beitrag an den westlichen Verteidigungslasten zu übernehmen. Damit war zugleich die nach dem Scheitern der EVG für kurze Zeit aufgekeimte Hoffnung der Sowjetunion verflogen, die Aufrüstung der Bundesrepublik und ihre Eingliederung in das westliche Bündnis ließen sich in letzter Minute noch verhindern. Das Scheitern der EVG führte im Gegenteil dazu, daß der Bundesrepublik mehr nationalstaatliche Rechte zugestanden wurden, als sie politisch und militärisch im Rahmen einer EVG-Regelung erreicht hätte.

QuellentextBriefwechsel zur Außenpolitik der Bundesrepublik

Brief Ollenhauers vom 23. Januar 1955

Das deutsche Volk steht an einem entscheidenden Punkt der Geschichte der Nachkriegszeit.

Die Abstimmung der gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik über das Pariser Vertragswerk, dessen Kernstück die Aufstellung deutscher Streitkräfte im Rahmen der Westeuropäischen Union und der NATO ist, ist von schicksalsschwerer Bedeutung für die Zukunft des ganzen deutschen Volkes. Die Annahme des Vertragswerkes führt nach unserer Überzeugung zu einer verhängnisvollen Verhärtung der Spaltung Deutschlands.

Der Deutsche Bundestag dagegen hat wiederholt einstimmig beschlossen, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als die vordringlichste Aufgabe der deutschen Politik zu behandeln.

Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ist nur möglich auf dem Wege von Verhandlungen zwischen den vier Besatzungsmächten.

Die Haltung der Sowjetunion läßt erkennen, daß nach der Ratifizierung der Pariser Verträge Verhandlungen über die deutsche Einheit nicht mehr möglich sein werden.

Dies bedeutet: Die Bundesrepublik und die sogenannte "Deutsche Demokratische Republik" bleiben gegen den Willen des deutschen Volkes nebeneinander bestehen. Zugleich werden dadurch die Spannungen zwischen West und Ost verschärft, deren schwerste Last vom ganzen deutschen Volk diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs zu tragen wäre. [...]

Die deutsche Einheit kommt weder durch Versprechungen nur des Westens oder nur des Ostens. Wirklichkeit kann sie nur dadurch werden, daß die Mächte des Westens als auch des Ostens sich über die Einheit in Freiheit einigen und ohne Verzögerung alle praktischen Schritte tun, um diese Einigung in die Tat umzusetzen. [...]

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist der Überzeugung, daß noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft sind, um vor der Ratifizierung der Pariser Verträge endlich einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, auf dem Wege von Vier-Mächte-Verhandlungen die Einheit Deutschlands in Freiheit wiederherzustellen. [...]

Die Sowjetunion behauptet jetzt also, zu freien und international beaufsichtigten Wahlen bereit zu sein. Ob die Sowjetunion zu diesem Angebot steht und ob mit ihr Vereinbarungen über ein Wahlgesetz getroffen werden können, das in unserem Sinne freiheitlich ist, darf nicht vorweg beurteilt, sondern kann nur in Verhandlungen selbst geklärt werden. Man muß die Sowjetunion jetzt beim Wort nehmen. [...]

Antwortschreiben Adenauers vom 23. Januar 1955

[...] Die Sowjetregierung hat in der nicht an die drei Westmächte gerichteten, sondern gegenüber der Presse abgegebenen Erklärung vom 15. Januar nur gesagt, daß sie unter gewissen Bedingungen zu Verhandlungen über freie Wahlen bereit sei. Dabei fällt auf, daß im russischen Text nicht das Wort "Kontrolle" für diese Wahlen gebraucht wird, sondern, obwohl dieses eindeutige Wort Kontrolle in der russischen Sprache existiert, ein weniger präzises Wort, das auch im Sinne von "Beobachtung" verstanden werden kann. Über unsere anderen Verlangen hat sie entweder geschwiegen oder zu erkennen gegeben, daß sie bis auf weiteres das Nebeneinaderbestehen der Bundesrepublik und der "DDR" anstrebt. [...]

Dazu kommt, daß die Westmächte es aus berechtigen Gründen ablehnen, zur Zeit, d. i. vor der Ratifizierung der Pariser Verträge, eine Viererkonferenz vorzuschlagen, daß sie aber nach der Ratifizierung dazu bereit sind. Wenn wir jetzt trotzdem die drei Westmächte ersuchen, an die Sowjetunion heranzutreten, werden diese das Ersuchen unter Hinweis auf ihre von Sowjetrußland nicht beantwortete Note vom 29. November 1954 ablehnen. Wir laufen dann Gefahr, daß die Ratifizierung der Pariser Verträge nicht erfolgt, daß also die Verpflichtung der drei Westmächte, mit uns zusammen die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zu betreiben, nicht zustande kommt, daß andererseits die Sowjetunion ebenfalls keine solche Verpflichtung übernimmt, kurz daß sich Deutschland, wie so oft in den letzten Jahrzehnten, ohne Freunde zwischen sämtliche Stühle gesetzt hat. Wir bleiben dann im Zustand der Unfreiheit, bis sich die vier Siegermächte geeinigt haben. Unsere Wirtschaft, die auf Ein- und Ausfuhr angewiesen ist, erhält dann einen vernichtenden, alle Volksschichten treffenden Schlag, da sie auf dem Vertrauen der anderen Länder in die Stetigkeit unser politischen Entwicklung beruht.

Über alles, was die Sowjetunion in den letzten Tagen und Wochen zur deutschen Frage geäußert hat, läßt sich nach der Ratifizierung genau so gut verhandeln wie vorher. [...]

Quelle: Dokumentation zur Deutschlandfrage, Bd. 1, hrsg. v. H. v. Siegler, Bonn 1961, S. 275-279.

"Geist von Genf" 1955

Im Gegenzug zum NATO-Beitritt der Bundesrepublik wurde am 14. Mai 1955 der Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand geschlossen, der die Errichtung eines Bündnisses zwischen Albanien, Bulgarien, Ungarn, der DDR, Polen, Rumänien, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei beinhaltete. Die politische und ideologische Spaltung Europas und der Welt war damit auch militärisch institutionell vollzogen. Dies hatte jedoch keineswegs eine Rückkehr zu Formen des Kalten Krieges zur Folge, wie sie für die Zeit nach Verkündung der Truman-Doktrin und der Schdanow-Rede typisch gewesen waren. Es schien sogar die umgekehrte Entwicklung einzutreten, daß sich nach der Festigung der Blöcke nun die schon seit Stalins Tod zu beobachtende Tendenz zu einer Entspannung immer stärker durchsetzte.

Österreichischer Staatsvertrag

So unterstrich Moskau erneut seine Verständigungsbereitschaft, indem es überraschend die Möglichkeit einer Regelung der Österreich-Frage anbot. Österreich war zu dieser Zeit immer noch von den Vier Mächten besetzt. Zwar gab es - anders als in Deutschland - eine Zentralregierung in Wien. Aber die Gefahr, daß auch Österreich entlang der Grenzen zwischen der Sowjetischen Besatzungszone und den Zonen der drei Westmächte geteilt werden könnte, war nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Zumindest befanden sich die ausländischen Truppen noch im Lande, so daß eine eigenständige Entwicklung Österreichs vorerst ausgeschlossen war.

Der sowjetische Vorschlag stellte daher ein weitreichendes Angebot dar. Er forderte - analog zur auf Deutschland bezogenen Stalin-Note vom 10. März 1952 - Unabhängigkeit nur um den Preis der Neutralisierung des Landes. Doch im Falle des geographisch und bevölkerungsmäßig kleinen Österreich ließen sich die Westmächte darauf ein: Nur gut eine Woche nach Inkrafttreten der Pariser Verträge und einen Tag nach Abschluß des Warschauer Paktes wurde am 15. Mai 1955 der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet, der Österreich Neutralität, Souveränität und den Abzug der Besatzungstruppen brachte.

Als ein weiteres Signal zur Verständigung konnte die Räumung der sowjetischen Flottenbasis Porkkala in Finnland verstanden werden. Außerdem übermittelte die Sowjetunion am 7. Juni 1955 eine Einladung an Bundeskanzler Adenauer, zu politischen Gesprächen nach Moskau zu kommen.

Die Ablösung von Hypotheken der stalinistischen Politik wurde schließlich auch innerhalb der kommunistischen Staatengemeinschaft vorangetrieben, als der neue Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, der inzwischen Georgij Malenkow abgelöst hatte, im Mai 1955 zusammen mit dem ebenfalls neuen sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin nach Belgrad reiste, um sich mit Tito auszusöhnen. Tito hatte sich 1948 Stalins Forderung nach Unterwerfung unter die Politik des Kreml widersetzt und war daraufhin aus dem Kominform ausgeschlossen worden.

Alle diese Aktivitäten bereiteten das von Winston Churchill bereits im Mai 1953 geforderte Gipfeltreffen der Vier Mächte vor, das nun endlich vom 18. bis 23. Juli 1955 in Genf stattfand. Die Staats- und Regierungschefs aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion lächelten hier nach der jahrelang angespannten Atmosphäre harter Ost-West-Konfrontation derart befreiend in die Kameras der Weltpresse, daß bald das Wort vom "Geist von Genf" die Runde machte. Der französische Ministerpräsident Edgar Faure sprach sogar schon vom "Ende des Kalten Krieges".

Probleme ungelöst

Inhaltlich bot Genf jedoch kaum Grund zu Optimismus. Die alten Probleme der deutschen Teilung und der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West blieben ungelöst und wurden zur weiteren Beratung den Außenministern übergeben. Diese trafen sich im Herbst 1955 ebenfalls in Genf und gleichfalls ohne Ergebnisse. Der Westen beharrte für Deutschland auf freien Wahlen und Selbstbestimmung, während die Sowjetunion diese Fragen auszuklammern suchte und lediglich auf eine Verminderung der Rüstungen drängte. Einzig Präsident Eisenhowers Vorschlag eines "offenen Himmels" (open skies) zur Luftüberwachung von Abrüstungsvereinbarungen konnte einen späten Erfolg verbuchen. Viele Jahre später, im Februar 1990, wurde er auf einer gemeinsamen Konferenz der NATO und des Warschauer Paktes wieder aufgegriffen.

Die Genfer Konferenzen 1955 waren somit im Grunde gescheitert. Dennoch hatte sich die Stimmungslage zwischen Ost und West verbessert. Man sprach wieder miteinander und erkannte an, daß es allen Gegensätzen zum Trotz eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden in der Welt gab und daß darüber hinaus sogar politische und wirtschaftliche Interessen bestanden, die eine "friedliche Koexistenz" der Staaten sinnvoll und nutzbringend erscheinen ließen.

"Friedliche Koexistenz"

Der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 bestätigte diese Entwicklung zur Entspannung. Innenpolitisch war es der Parteitag der Entstalinisierung und der Beginn eines "Tauwetters" in der sowjetischen Kulturpolitik. Es schuf Schriftstellern und Künstlern vorübergehend größere Freiräume. Außenpolitisch führte der Parteitag zur Aufhebung der Doktrin von der Unvermeidbarkeit von Kriegen sowie zur Neuformulierung der sowjetischen Koexistenz-Doktrin, die für den weiteren Verlauf des Ost-West-Konflikts von entscheidender Bedeutung sein sollte. Die Entstehungsgeschichte der Koexistenz-Doktrin reicht zurück bis in die zwanziger Jahre, als die erwartete kommunistische Weltrevolution ausblieb und die Sowjetunion sich zum "Aufbau des Sozialismus in einem Lande" entschloß. Damit wurde von den Verfechtern der Weltrevolution akzeptiert, daß es für längere Zeit ein Nebeneinander unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen geben werde. Allerdings blieben die Koexistenzvorstellungen in der UdSSR lange Zeit vage und wurden erst zwischen 1956 und 1959 zu einer geschlossenen Doktrin ausgebaut, die danach vier zentrale Aussagen enthielt:

(1) Ein friedliches Nebeneinanderbestehen von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung sei nicht nur möglich, sondern angesichts der Gefahren von Kriegen im Atomzeitalter auch unumgänglich.

(2) An die Stelle militärischer Auseinandersetzung trete der wirtschaftliche Wettbewerb, in dem sich die Über- oder Unterlegenheit eines Systems erweisen müsse.

(3) Ungeachtet des friedlichen Nebeneinanderbestehens von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gehe der ideologische Kampf unvermindert weiter.

(4) Das Bekenntnis zur friedlichen Koexistenz bedeute nicht die Aufgabe der weltrevolutionären Zielsetzung, sondern solle im Gegenteil die Möglichkeiten für die Weltrevolution verbessern und sei damit nur eine taktische Variante im internationalen Klassenkampf.

Gegenseitige Abschreckung

Eingeschränkt wurde die Koexistenz-Doktrin durch die Feststellung Chruschtschows, daß sie nur im Verhältnis zu westlich-kapitalistischen Ländern gelte. In der Dritten Welt bestehe für die Sowjetunion eine Pflicht zur Solidarität mit den Völkern in ihrem antikolonialistischem Kampf. Innerhalb des sozialistischen Lagers sollten die Prinzipien des "sozialistischen Internationalismus" Anwendung finden.

Voraussetzung für die Koexistenz-Doktrin war die Abkehr von der Doktrin der Unvermeidbarkeit von Kriegen, die von Lenin und vor allem von Stalin vertreten worden war. Sie hatten behauptet, der Kapitalismus werde sich nicht ohne Gegenwehr dem Sozialismus ergeben. Auf dem XX. Parteitag erklärte Chruschtschow dazu, "eine verhängnisvolle Unvermeidbarkeit der Kriege" gebe es nicht. Die Sowjetunion besitze genügend Atom- und Wasserstoffbomben, um einen Angriff der USA oder eines anderen westlichen Landes abzuschrecken, so daß der Angriff gar nicht erst geführt werde. Und wenn er doch geführt würde, werde die Sowjetunion ihn mit dem Einsatz der eigenen Vernichtungswaffen beantworten.

Damit hatte die Sowjetunion einen wesentlichen Schritt getan, um ein System gegenseitiger Abschreckung zu errichten, das auf Furcht vor den Folgen eines Nuklearkrieges beruhte und deshalb zu einer begrenzten Zusammenarbeit führte. Die USA waren allerdings Anfang 1956 noch nicht bereit, sich in dieses System einzufügen. Erst als sich die Dullessche Strategie der Befreiung, die bereits am 17. Juni 1953 versagt hatte, im "polnischen Oktober" und beim Ungarn-Aufstand 1956 erneut als Illusion erwies, begann man auch in Washington, die Regeln des politischen Verhaltens zwischen Ost und West zu überdenken. 1953 - nur wenige Monate nach dem Amtsantritt von John Foster Dulles - waren die Menschen in der DDR in ihrer Hoffnung auf amerikanische Hilfe auf dramatische Weise enttäuscht worden. In Polen und vor allem in Ungarn wiederholte sich dieses Schicksal im Herbst 1956 auf tragische Weise, als die USA sich mit den Aufständischen solidarisch erklärten, aber zugleich bekundeten, daß ihre Hilfe selbstverständlich nur moralischer, nicht militärischer Art sein könne.

"Sputnik-Schock"

Mehr noch als der Fehlschlag des Ungarn-Aufstandes im Oktober und November 1956, bei dem die westlichen Regierungen ohnmächtig zusehen mußten, wie sowjetische Truppen die ungarische Volkserhebung blutig niederschlugen, löste jedoch der Start eines sowjetischen Erdsatelliten am 4. Oktober 1957 einen Schock aus, der die Grundfesten der westlichen und vor allem der amerikanischen Politik zutiefst erschütterte. Denn mit dem "Sputnik", der als erster künstlicher Satellit die Erde umkreiste, ging für die USA der Nimbus der technologischen Überlegenheit verloren. Militärisch schwerwiegend war dabei die Tatsache, daß die Sowjetunion von nun an die USA mit Interkontinentalraketen bedrohte. Amerika war damit nicht länger eine durch zwei Ozeane geschützte Festung, sondern ebenso erreichbar und verwundbar wie beispielsweise die Länder Ost- und Westeuropas.

Dieser Verlust der geostrategischen Sonderstellung zwang die USA dazu, die eigene Rolle in der Welt neu zu definieren. Vor allem das Verhältnis zur "anderen Supermacht" Sowjetunion bedurfte nun einer Korrektur. Die Sowjetunion hatte dafür mit ihrer Doktrin der friedlichen Koexistenz ein Beispiel gesetzt, wie Chruschtschow am Tag nach dem Start des "Sputnik" gegenüber dem diplomatischen Chefkorrespondenten der New York Times, James Reston, erklärte: "Wir sind für die friedliche Koexistenz nicht deshalb, weil wir schwach sind, nicht deshalb, weil wir die Imperialisten fürchten, sondern deshalb, weil ein neuer Krieg in Anbetracht der modernen tödlichen Waffenarten, wie thermonukleare Bomben und die Mittel zu ihrer Beförderung, wie die interkontinentale ballistische Rakete, den Untergang von Millionen und Aber-Millionen Menschen, die Zerstörung kolossaler materieller Werte, die durch die Arbeit vieler Generationen geschaffen wurden, bedeuten würde."

Diesen Einsichten konnte man sich jetzt auch in Washington nicht mehr verschließen. Die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten, zwischen Ost und West überhaupt, mußten in Zukunft auf der Grundlage der bestehenden Grenzen und politischen Ordnungen gestaltet werden. Dies beinhaltete keineswegs eine Anerkennung oder gar Billigung der gegnerischen Politik und Ideologie. Aber es erforderte eine zumindest vorübergehende Respektierung der jeweiligen Einflußsphären. Kernwaffen und ballistische Interkontinentalraketen schufen Bedingungen, unter denen ein allmählicher Abbau des Kalten Krieges und der Übergang zur Entspannungspolitik möglich schien. Es sollte allerdings noch mehr als ein Jahrzehnt dauern, ehe sich diese Tendenz zur Entspannung nach schwerwiegenden Krisen und Konflikten, die sogar bis an den Rand eines Atomkrieges führten, schließlich auch durchsetzte.

Berlin-Ultimatum

Bedeutete der Start des "Sputnik" für die USA einen Schock, so war dieser technologische Durchbruch für Chruschtschow ein Beweis der Überlegenheit des kommunistischen Systems. Er wollte deshalb die Sowjetunion aus der außenpolitischen Defensive, in der sie sich seit Stalins Tod befunden hatte, herausführen und einen neuen Vorstoß zur Erweiterung des sowjetischen Einflusses wagen.

Die erste Station dieser neuen außenpolitischen Offensive war im November 1958 wiederum Berlin. In einer Rede im Moskauer Sportpalast und in diplomatischen Noten an die drei Westmächte stellte Chruschtschow am 10. bzw. 27. November 1958 den Vier-Mächte-Status der Stadt Berlin in Frage und forderte Verhandlungen mit dem Ziel, West-Berlin in eine "Freie Stadt" umzuwandeln und die westlichen Alliierten zum Abzug zu bewegen. Offenbar ging es ihm darum, der DDR die Kontrolle über die Zugangswege nach Berlin zu geben und damit der Fluchtbewegung aus der DDR über West-Berlin Einhalt zu gebieten. Die Gespräche hierüber sollten innerhalb von sechs Monaten beginnen. Andernfalls werde die Sowjetunion "einseitige Maßnahmen" ergreifen und beispielsweise einen Friedensvertrag mit der DDR abschließen. Die sowjetische Verantwortung für Berlin, insbesondere die sowjetische Verpflichtung in bezug auf einen freien Zugang nach West-Berlin, würde dann auf die DDR übergehen.

Obwohl damit eine erneute Blockade drohte, um die steigende Massenflucht aus der DDR über West-Berlin in die Bundesrepublik zu stoppen, weigerten sich die Westmächte zwei Jahre lang, über das "Chruschtschow-Ultimatum" zu verhandeln. Bei seinem Treffen mit dem neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Juni 1961 in Wien wiederholte Chruschtschow daher seine Drohung. Doch der junge Präsident änderte die westliche Haltung nicht, vielmehr bekräftigte er in einer Fernsehrede am 25. Juli 1961 die "drei Grundsätze" (three essentials) der amerikanischen Berlin-Politik, die bereits im Herbst 1958 als Antwort auf das Chruschtschow-Ultimatum formuliert worden waren:

(1) das Recht der Westmächte auf Anwesenheit in Berlin,

(2) das Recht der Westmächte auf Zugang nach Berlin,

(3) die Verpflichtung der Westmächte, die Selbstbestimmung der West-Berliner und die freie Wahl ihrer Lebensform zu gewährleisten.

Tatsächlich hatte Chruschtschow sein "Ultimatum" weniger offensiv als defensiv verstanden, um der DDR zu helfen, eine Lösung für ihr schwerwiegendes Flüchtlingsproblem zu finden. Seit 1949 verließen täglich Hunderte von DDR-Bürgern durch das "Schlupfloch" West-Berlin ihr Land, um im anderen Teil Deutschlands Freiheit und Wohlstand zu suchen. Es drohte ein völliger Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, wenn die ständige Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte nicht gestoppt wurde. Durch die Umwandlung West-Berlins in eine "Freie Stadt" und die Kontrolle der Zugangswege durch die DDR wäre dieses Problem gelöst worden. Da der Westen auf das Chruschtschow-Ultimatum aber nicht einging, wurde diese "elegante" Lösung dem Osten verwehrt.

Bau der Mauer

Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 sowie der Verstärkung der Sperranlagen zwischen der DDR und der Bundesrepublik entschied sich die östliche Seite schließlich zu einer Notlösung: der völligen Abriegelung Ost-Berlins und der DDR gegenüber dem Westen. Nur so war der Zusammenbruch des SED-Regimes durch die Massenflucht, die zuletzt etwa 1500 bis 2000 Personen täglich umfaßte, noch zu verhindern. Der Mauerbau war demzufolge ein Eingeständnis östlicher Schwäche, aber auch ein Beweis für die sowjetische Entschlossenheit, das DDR-Regime auf Dauer zu stabilisieren. Im Westen kam man jetzt nicht mehr umhin, auch auf längere Sicht von der Existenz zweier deutscher Staaten auszugehen.

QuellentextUrsachen und Verursacher des Kalten Krieges

Schon vor Kriegsende stand es außer Frage, daß Rußland als eine der großen Weltmächte aus dem Krieg hervorgehen würde. Es war klar, daß es nicht nur sein Ansehen, sondern in noch stärkerem Maße seine Macht und seine Besitzungen vermehren würde; es stand ebenfalls außer Frage, daß sein Hauptehrgeiz nicht das internationale Prestige des Kommunismus betraf, sondern in erster Linie auf die Beherrschung Osteuropas gerichtet war. All das gab Stalin selbst lange vor Jalta und noch im Anfangsstadium des Krieges zu verstehen. Es stand außer Frage, daß die Westalliierten in Anbetracht des großen russischen Beitrags zum Kriege und ihrer eigenen geographischen Lage es nicht würden umgehen können, einzelne der russischen Forderungen zu erfüllen. Die Tragödie war, daß sie - insbesondere die Vereinigten Staaten - der Situation erst ins Gesicht sahen, als es schon zu spät war, denn die Russen besaßen bereits größere Gebiete, als ihre Verbündeten und vielleicht auch sie selbst jemals erwartet hatten [...].

Hier liegt der Ursprung des Kalten Krieges.

Quelle: John Lukacs, Konflikte der Weltpolitik nach 1945. Der Kalte Krieg, München 1970, S. 17 f.

Ich habe mich bemüht zu zeigen, daß die Struktur des Kalten Krieges (als "kalter Krieg") durch eine Reihe politischer, in Washington zwischen 1945 und 1947 getroffener Entscheidungen bestimmt wurde, die ihre "klassische" Formulierung in der Truman-Doktrin erhielten. Das heißt, wenn Washington zum Beispiel Walter Lippmanns strategisch-politische Empfehlungen als Alternative zur Eindämmungspolitik akzeptiert hätte, dann wäre mit Sicherheit [...] Europa heute nicht geteilt. Außerdem konnte zu einem Zeitpunkt, als die später in die Truman-Doktrin aufgenommenen maßgeblichen strategischen Entscheidungen gefällt wurden, der angebliche sowjetische Expansionsdruck lediglich ein Vorwand für die eingeschlagene Politik, nicht aber deren Ursache gewesen sein [...]. Schließlich konnte die Sowjetunion wegen ihrer schwachen Machtposition - was auch immer Ihre Pläne auf lange Sicht sein mochten - nicht gut von sich aus das Risiko eingehen, als Reaktionen genau die Maßnahmen zu provozieren, die diese Politik der USA vorschrieb. In diesem Sinne spreche ich von den strategischen Möglichkeiten, die den amerikanischen Politikern wahlweise zur Verfügung standen und ihren Kollegen im Kreml versagt waren.

Quelle: David Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Bd. 1, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1969, S. 15.

Die traditionelle Auffassung

[...] Nach Ansicht dieser Autoren waren für die Entstehung des Kalten Krieges die marxistische Ideologie in ihrer sowjetischen Interpretation mit ihrem Anspruch auf Weltrevolution als Ergebnis eines weltweiten Klassenkampfes, die historischen Erfahrungen der Sowjetführung mit einer extrem feindlichen, auf die Beseitigung des Sowjetregimes hinarbeitenden Umwelt in den Jahren 1918-1921 und die Sorge der sowjetischen Parteioligarchie um den Erhalt ihrer Macht in einer Mobilisierungs- und Entwicklungsdiktatur konstitutiv; sie legten die Sowjetführung auf eine prinzipiell feindliche Politik gegenüber den kapitalistischen Staaten fest, die sich zwar zeitweilig vorsichtig-pragmatisch des Mittels friedlicher Zusammenarbeit bediente (Koexistenz-Doktrin), zugleich aber ständig nach Möglichkeiten Ausschau hielt, die nichtkommunistischen Kräfte zu schwächen und den von Moskau dominierten kommunistischen Machtbereich zu vergrößern. Im Zweiten Weltkrieg setzte Stalin zunächst auf eine Selbstzerfleischung der kapitalistischen Staaten; durch den deutschen Angriff an die Seite der Westmächte gezwungen, suchte er über die Teilung der beiderseitigen Interessenssphären in Osteuropa hinaus, die Hitler ihm angeboten hatte, durch die konzertierte Aktion kommunistischer Kader und der Roten Armee alle Länder Ost- und Mitteleuropas, nach Möglichkeit auch das gesamte Deutschland, in "volksdemokratische", strukturell auf die Sowjetunion als Hegemoniemacht angewiesene Staaten umzuwandeln und weiterhin durch die Förderung sozialer Unruhen in Westeuropa, im Mittelmeerraum und in Asien mit Hilfe von Moskau aus gelenkter kommunistischer Parteien den sowjetischen Einflußbereich langfristig auszudehnen.

Die Führungskräfte der westlichen Welt [...] verkannten zunächst den ambivalenten und potentiell expansiven Charakter der sowjetischen Politik. In einer Mischung aus idealistischer Hoffnung auf eine Demokratisierung des Sowjetsystems und resignativer Befürchtung, daß ein längerfristiges amerikanisches Engagement in Europa sich in den USA innenpolitisch nicht durchsetzen lassen werde, waren sie bereit, Stalins Streben nach sowjetfreundlichen Nachbarstaaten als legitimes sowjetisches Sicherheitsinteresse anzuerkennen, hofften aber gleichzeitig, die Sowjetunion in das System einer liberal-demokratischen "einen Welt" integrieren zu können. Ohne konkretes Konzept für die Nachkriegs-Staatenordnung Europas und der Welt [...] suchten sie die Kooperation für Stalin durch großzügiges Entgegenkommen attraktiv zu machen, erleichterten das Vordringen der Roten Armee bis in die Mitte Europas, gewährten der Sowjetführung ein Mitspracherecht über die Zukunft Deutschlands und setzten der Sowjetisierung Osteuropas nicht den nötigen und möglichen Widerstand entgegen. [...]

Trotz zunehmender Verbitterung über die Undurchdringlichkeit des "Eisernen Vorhangs" und die sowjetische Intransigenz in der UNO blieb die Truman-Administration bei ihrer grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft mit der Sowjetunion.

Die revisionistische These [...] Die Sowjetunion, so lautet die übereinstimmende Kritik dieser Autoren an der traditionellen These, kann nicht für die Entstehung des Kalten Krieges verantwortlich gemacht werden; sie war im Zweiten Weltkrieg nur knapp der militärischen Katastrophe entgangen, hatte einen unendlichen Verlust an Menschen und Ressourcen erlitten und stand bei Kriegsende der ökonomisch prosperierenden, traditionell antisowjetischen und nun über das Atomwaffenmonopol verfügenden Weltmacht USA nahezu hilflos gegenüber. Die sowjetische Politik, seit Stalins Machtübernahme eindeutig eher an der Sicherung des russischen Staates als an der Einlösung des weltrevolutionären Anspruchs interessiert, zielte wohl auf die Schaffung eines Sicherheitsglacis nicht-sowjetfeindlicher Staaten, insbesondere im osteuropäischen Raum, und auf die definitive Sicherung vor einem neuen deutschen Angriff; diese Ziele waren jedoch nicht a priori mit dem Konzept einer außengelenkten Sowjetisierung verbunden; sie legten sogar außerhalb des unmittelbaren sowjetischen Einflußbereichs eine ausgesprochen konservative Haltung nahe (um den potentiellen amerikanischen Gegner nicht unnötig zu provozieren), die die sozialistischen Bewegungen in West- und Südeuropa gleich bei Kriegsende entscheidend hemmte und damit den europäischen Kapitalismus lange vor dem Marshall-Plan vor dem Untergang rettete.

Die Ursachen der Konfrontation sind vielmehr in der Struktur des ökonomisch-politischen Systems der Vereinigten Staaten zu finden. Zur Vermeidung existentieller Krisen war die liberal-kapitalistische Gesellschaft der USA seit ihrer Entstehung auf die permanente Erschließung neuer Handels- und Absatzmärkte und damit indirekt auch auf Ausdehnung ihres politischen Einflußbereiches angewiesen; dies führte nach der Schließung der "offenen Grenze" im amerikanischen Westen zu einer weltweiten Politik der Offenen Tür [...]. Die "eine Welt" der Kriegszielpropaganda war keine idealistische Utopie, sondern Ausdruck realistischer und entschlossener Kriegszielpolitik der amerikanischen Führungskräfte, die die Notwendigkeiten ihres Gesellschaftssystems begriffen hatten.

Quelle: Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges, München 1980.

aus: Internationale Beziehungen I, Informationen zur politischen Bildung (Heft 245)

Fussnoten

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