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"Man war neugierig auf das andere System" Gerd Schmiedel

/ 9 Minuten zu lesen

Für den Journalisten Gerd Schmiedel boten die ersten Jahre nach dem Mauerfall neue Möglichkeiten bei der Themenwahl: Er konnte sich Themen widmen, "die völlig frei waren und zu denen Westkollegen sich höchst selten bewegten".

1. Wie haben Sie den Herbst 1989 erlebt?
Die Vorzeit – Wie soll man das beschreiben? Man kann das mit dem berühmten Knistern umschreiben, dass die Situation gespannt gewesen ist, gerade auch in Berlin damals, gerade, was die Kirchen anbelangte. Dass sich dort die Friedensgebete häuften, dass es nach Leipzig zu den ersten Demos in Berlin gekommen ist, dass es dann so wellenartig von Leipzig aus auch die Hauptstadt irgendwann mal erreichte – sicherlich mit einer gewissen Verzögerung. Dass es zu Veränderungen kommen könnte, zu irgendeinem Kulminationspunkt trieb, dass war spürbar. Es gab ja dann die berühmten, nahezu täglichen, Pressekonferenzen, die wir teilweise an den Bildschirmen miterlebt haben - ich habe zu dem Zeitpunkt beim Rundfunk gearbeitet. Dann ging es beispielsweise in der Zeit darum, die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die der Sender Leipzig damals bereits übertragen hat, auch in das zentrale Programm einzuspeisen. Ich habe damals bei der "Stimme" in der DDR gearbeitet. Wir haben dann irgendwann mal gesagt: Okay, wir machen's. Der Intendant musste ja logischerweise gefragt werden – also die aktuelle Redaktion, in der ich damals tätig war. Die hatte den Vorschlag gemacht. Der Intendant hatte gesagt, er vertritt das auch vor dem staatlichen Komitee – das war also sozusagen das Reglement der jeweiligen Sender, die Führungsspitzen, die da drinne saßen. Und wir haben es dann – ich kann nicht mehr genau sagen, ab wann – auch tatsächlich gemacht.

Wir waren also, logisch, Tage vor dieser Entscheidung, vor diesem 9. November, sozusagen Tag und Nacht im Funkhaus. Aber es waren dann doch lange Abende. An dem Abend saßen wir wieder vor dem Fernseher und waren so kurz vor 19:00 Uhr der Meinung: Jetzt kann eigentlich nichts mehr kommen. Wir sind aufgestanden und der Großteil ist nach Hause gegangen. Ich kann nur sagen: Ich habe die Wende verschlafen! Ich habe dann zwar irgendwann in der Nach Knallfrösche gehört, habe mir aber dabei nichts Wesentliches gedacht: Und irgendwann früh, um 05:00 Uhr etwa, bin ich durch Zufall aufgewacht, habe das Radio eingeschaltet, weil man das in den letzten Tagen schon immer so gemacht hatte, und dann sind wir – ich weiß nicht, wann wir uns getroffen haben, im Funkhaus – relativ früh losgezogen, um die erste Stimmung einzufangen. Ich war dann auf dem Bahnhof Friedrichstraße, an diesem berühmten, jetzt nicht mehr existenten, Glaspalast, dem Palast der Tränen. Dort gab es diese Begrüßungs- und Abschiedsszenen zwischen Ost und West. Die Kontrollen waren ja in dem Sinne keine Kontrollen mehr, als der Andrang so riesig war.

Eine interessante Beobachtung war zu dem Zeitpunkt noch, dass gerade Jugendliche – die kamen dann an, teilweise mit ihren Schultaschen und DDR-Fähnchen drinne. Wir haben Umfragen gemacht: Ist heute schulfrei? Ja, wir haben alle schulfrei gekriegt und wir gucken uns das mal an. Bleibt Ihr weg oder kommt Ihr wieder? Ja, wir kommen freilich wieder, jetzt lohnt sich's ja wieder. Also, da war die Stimmung noch:'Wir sind das Volk' und 'Wir sind ein Volk'. Was sich dann in den nächsten Wochen mehr und mehr ausbreitete, war an dem Tag noch nicht in dem Maße zu spüren – gerade bei den Jugendlichen. Diese Abstimmung mit den Füßen, die ja später mal angedroht wurde, davon war zu dem Zeitpunkt noch nichts in dem Maße zu spüren. Man war neugierig auf das andere System, man hat es sich angeschaut, aber man ist in dem Bewusstsein rüber gegangen: Das Zuhause ist hier, auf der anderen Seite. Das hat sich ja dann doch wesentlich anders entwickelt.

Aber, wie gesagt, ich bedaure ein bißchen, gerade die Tonbänder von damals nicht gerettet zu haben. Die existieren sicherlich noch, aber dass man sich das noch mal umgezeichnet hatte, sozusagen für das private Archiv, um das vielleicht irgendwann mal zu rekapitulieren, das hat man einfach nicht gemacht.

2. Was hat sich nach dem Ende der DDR für Sie verändert?
Die Zeit unmittelbar nach der Wende, so bis in den März '90 hinein, das war auch für gelernte DDR-Journalisten die beste Zeit. Es war ein freier Journalismus, der sich dann entwickeln konnte, frei von der Schere im Kopf, die aber dann ab Mitte der 90er wieder einsetzte. Es gab – ich will jetzt nicht sagen politische Rücksichtnahmen – aber es gab wieder Rücksichtnahmen auf Proporz und sowas alles, politischen Proporz. Und da hat man dann schon wieder angefangen, nach bestimmten Kriterien zu arbeiten, also: Das muss man beachten, und jenes muss man beachten. Aber dieser Freiraum, der nach November existierte, weil man sich dann auch mal Themen widmen konnte, die völlig frei waren und zu denen Westkollegen sich höchst selten bewegten – über Obdachlosigkeit auch mal größere Geschichten zu machen zum Beispiel – das waren Nischen. Das war sicherlich auch für die DDR-Geschichte der Beginn. Wir waren ja Teile des Systems gewesen, und so sehe ich mich auch heute noch. Natürlich waren wir Teile des Systems, auch systemerhaltend tätig, aber das heißt ja nicht, dass wir unser Handwerk nicht beherrschten. Dieses Handwerk konnten wir nun zum ersten Mal in dem Maße ausleben; zeigen, was eigentlich auch an Fähigkeiten vorhanden gewesen ist. Das haben wir getan, in der Zeit.

Aber wie gesagt, die letzten Volkskammerwahlen waren im März, und dann hatte man schon wieder politische Rücksichten zu nehmen und solche Dinge eben zu beachten. Also, das waren sicherlich die positiven Auswirkungen. Irgendwann wurde die DDR dann aufgelöst, und damit kamen logischerweise die Konsequenzen, die natürlich auch mit dem Arbeitsplatz zusammenhingen. Da ging es um die Existenz. Die ersten zwei Entlassungswellen habe ich schadlos überstanden, dann gab es eine dritte, und da ging es nach den Sozialkriterien. Da ich weder verheiratet war, noch Kinder hatte, war ich dabei. Das war 1991, Mitte '91.Ursprünglich nahm man sofort an, dass eine Fusion oder Übernahme stattfinden würde, weil der Deutschlandfunk in der Zwischenzeit ja auch wieder "Stimme der DDR" hieß. Die "Stimme der DDR" ist ja, sozusagen, erst ein Produkt des Grundlagenvertrages der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Bis dahin hieß das Unternehmen Deutschlandsender und hatte auch den Anspruch, für beide deutsche Staaten weiter da zu sein. Und diesen alten Namen hat sich die Belegschaft um 1990 wieder geholt. Auf diesen Namen war der Deutschlandfunk relativ scharf gewesen. Aber da kam erst mal als Zwischenschaltstation das ZDF dazwischen, das sich mit dem Gedanken getragen hat, eine Rundfunkstation aufzumachen. Das war mit Massenbesetzung verbunden gewesen, aber logischerweise hat man dann beim Personal wieder relativ heftig abgespeckt.

3. Wie haben Sie sich 1989 die Zukunft vorgestellt?
Was spürbar war, das waren die wirtschaftlichen Verhältnisse in der City, die sehr drückend gewesen sind. Obwohl, auch Journalisten haben nicht alles gewusst und nicht alles mitgekriegt. Aber sie sind auch einkaufen gegangen. Und die ganze westliche Republik war – in Berlin – war sozusagen die "Insel der Glückseligkeit". Was es nicht war! Ich könnte genauso gut auch sagen – wie ich hier rüber gefahren bin, habe ich mehr hier gekauft, als da oben, weil, wenn wir Abends von der Arbeit kamen, dann hatten die aus der Republik schon alles aufgekauft, dass man nicht mehr hundertprozentig wusste, wie es wirtschaftlich weiter gehen sollte. Der Mangel eben, zu bestimmen, oder häufig zu bestimmen, war Merkmal geworden. Da gab es sicherlich kaum noch Erwartungen, dass der Knoten durchschlagen werden konnte. Es musste sich was tun. Wie, wusste keiner. Beziehungsweise die, die es vielleicht hätten wissen könnten, oder auch zu entscheiden gehabt hätten, die taten es nicht und guckten bis zu diesem Zeitpunkt tatenlos zu, immer in der Hoffnung, dass sich möglicherweise, wenn die alten Männer weg sind, was tut. Wie kann man auf sowas hoffen, dass sich beim Generationswechsel was tut? Aber da hatte man in einer gewissen Hinsicht Erfahrung. Als der Wechsel von Ulbricht zu Honecker erfolgte, gab es ja kurzzeitig sowas ähnliches, sag ich jetzt mal, wie einen Aufschwung, auch wirtschaftlicher Natur. Dass man da Exquisitläden aus dem Boden gestampft hatte, Delikatläden, war sicherlich nicht der Fall. Aber es war spürbar, dass irgend eine Veränderung kommt. Und auf diesen Generationswechsel hoffte man wieder, weil ja die Herrschaften alle etwa das gleiche biblische Alter hatten, nach dem Motto: Hereintragen des Politbüros, Abstimmen der Herzschrittmacher, und singen muss die junge Dame. Also, ich meine diese Scherze. Die Witzelandschaft war ja relativ reich an solchen Dingen, zeigte natürlich auch, was man von der Führung hielt und dass man ihr kaum noch was zutraute.

4.Welche Erinnerung an die DDR ist für Sie die Wichtigste?
Ich habe viele Erinnerungen. Ich bin da aufgewachsen und habe 40 Jahre da gelebt. Es ist nicht der Trabbi mit seinen etwas miefigen Auspuffgasen, das ist es bestimmt nicht! Sagen wir es mal so, ohne jetzt nostalgisch zu werden, weil man das damals nicht so gesehen hat: Was die Kollegen aus Finnland wieder ins Bewusstsein gerufen haben, das war das Bildungssystem. Vielleicht ist das auch ein bißchen Genugtuung im Nachhinein, dass man sagt: Es war nach der Wende alles furchtbar! Das durfte nicht sein! Es war alles schlecht! Ich meine, es gibt Leute, die jetzt sagen: Es war alles gut. Dazu würde ich mich nicht zählen. Aber Ampelmännchen und der grüne Pfeil, das ist das, was die Bundesrepublik Deutschland übernommen hatte.

Es wäre vielleicht geschickter gewesen, Teile, ich will ja nicht sagen, um Gottes Willen, das gesamte Bildungssystem, zu übernehmen. Die Finnen haben auch nicht alles übernommen. Aber sie haben wesentliche Dinge übernommen. Und hätte man das zu einem vernünftigen Konsens geführt, dann würde ich sagen, hätten wir möglicherweise bei Pisa nicht so mies abgeschnitten. Das Problem, oder ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Ost und West, ist gewesen: Das Bildungswesen in der DDR, das war relativ auf Disziplin ausgerichtet. Diese Disziplin existierte bis zur 10./12. Klasse. Kamen die jungen Menschen in die Lehre, in die Betriebe, war plötzlich diese Disziplin fast überflüssig. Also, das war sehr locker. Heutzutage ist – oder in anderen Systemen war – Schule relativ locker. Und dann setzte die Disziplin – oder Selbstdisziplin, wenn sie denn einsetzte – gezwungenermaßen mit dem Eintritt ins Berufsleben ein. Und der eine oder andere kam bei diesem Umschwung teilweise eben nicht zurecht.

5. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Zukunftswünsche gibt es viele. Allgemein würde man sagen: Mehr lernen, Arbeit, Gesundheit. In umgedrehter Reihenfolge. Das spielt jetzt keine Rolle, das sind private Dinge. Aber es wäre schon schön, wenn diese berühmten Arbeitslosenzahlen von über vier Millionen abgebaut werden könnten, weil das auch mit dem sozialen Frieden zu tun hat. Der erscheint mir in diesem Land äußerst stark gestört. Und das kann eigentlich nicht gut sein. Vor allen Dingen auch, weil diese Befindlichkeiten zwischen Ost und West, also diese berühmte Mauer im Kopf, die droht eigentlich hier höher zu werden, als sie im Moment abgebaut wird. Und jeder hat seine. Ich will nicht sagen, schiebt es auf den anderen, es ist aber so.

Also, die Transferleistungen, in Anführungsstrichen, die Wessis klagen über die Transferleistung, die in den Osten geht. Aber die, die verdienen viel mehr, als wir. Also, das sehe ich auch als große Gefahr von anderen politischen Dingen, die in der Außenpolitik eine Rolle spielen. Obwohl ich immer noch sagen würde, dass die Bundesrepublik sich für meine Begriffe noch vergleichsweise klug verhalten hat, im letzten Jahr. Irgendwo muss ja Herr Schröder beim letzten Wahlgang seine Stimmen her gehabt haben für irgendwas. Sicherlich, Konflikte mit Kriegen zu lösen, wie man das im Irak versucht hat, und mit Begründungen, die leider dumm dreist waren, die sicher aber auch erwiesen haben, solche Dinge zu vermeiden, wäre sozusagen auch noch ein Wunsch – neben dem so genannten inneren Frieden, diesen global zu erhalten, gut möglichst wieder auf sichere Füße zu stellen. Ich will jetzt nicht sagen: Als wir das Gleichgewicht des Schreckens hatten, war diese Welt friedlicher. Aber es ist leider im Ergebnis so gewesen. Dass es nicht gut war, spielt jetzt mal keine Rolle. Aber diesen Stand unter anderen Bedingungen, mit anderen Mitteln, wieder zu erreichen. Nicht, dass sich eine Nation und deren Gefolgschaft zehn weitere Jahre als Weltgendarm aufführen. Das wäre aus meiner Sicht dieser Welt sehr nützlich.

Juni 2004

Fussnoten

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