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Ich will ein Leben nach dem Internet

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Von Anna Miller

Anna Miller ist freie Journalistin. Gerade schreibt sie an einem Buch über Digitalisierung und Menschsein. (© privat)

Ich will ein Leben nach dem Internet. Mehr Lebendigkeit in einer immer saubereren, leiseren, zwischen 0 und 1 trennenden, digitalen Welt. Mehr echte zwischenmenschliche Nähe, eine Pause von meiner kuratierten, zweiten, digitalen Identität.

Ich fordere eine echte Debatte über die Chancen und die Schattenseiten der Digitalisierung. Mehr kritische Fragen dazu, was das ständige Online-Leben mit unserem Menschsein macht. Dass wir anfangen, hinzuschauen, warum Angststörungen massiv zunehmen, warum die Leute am Arbeitsplatz ausgebrannt sind, warum so viele Jugendliche mit zappelnden Gliedern im Minutentakt nach ihren Smartphones greifen.

Ich will, dass wir das Narrativ hinterfragen, das Politik und Wirtschaft uns fast schon ideologisch einflüstern: Digitalisierung ist die Zukunft, reiner Fortschritt, alles ist damit einfacher, günstiger, effizienter. Die Digitalisierung, vor allem, seit sie über das Smartphone 24 Stunden täglich an uns haftet verändert unser Menschsein. Die Art und Weise, wie wir fühlen, lieben, kommunizieren, bewerten.

Beim Sex wird der gleiche Botenstoff ausgeschüttet, wie bei einem Like im Internet, wir klicken mehr und schlafen weniger miteinander, weil wir im Bett stärker dem Risiko ausgesetzt sind, zurückgewiesen zu werden, als online. Wenn wir rund um die Uhr erreichbar sind und uns alle 10 Minuten, wie Studien zeigen, von unserer eigentlichen Arbeit abwenden, um am Smartphone rumzudrücken, müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir an einem Tag mit acht Stunden Arbeit kein einziges Mal in einen Flow-Zustand gekommen sind, der für Kreativität und das Gefühl von Glück zentral ist.

Wir müssten darüber reden, dass so viele Menschen sich einsam fühlen und psychisch überfordert sind, wie noch nie zuvor. Dass ständige Bestätigung im Netz die Frustrationstoleranz gegenüber Zurückweisung schwächt. Ständiges Gamen, wo kein echtes Gegenüber mal die Regeln bricht oder an den Haaren zieht, das Kind sozial nicht wachsen lässt.

Wir stecken mittendrin. Jeder, der morgens um sieben Uhr mal in einen deutschen Zug gestiegen ist, weiß, dass dort niemand mehr wirklich anwesend ist, weil alle in ihre digitalen Welten abdriften, die wir aber immer stärker der echten Welt vorziehen. Weil das einfacher ist, weil alles mit einem Klick erledigt scheint. Weil es eben einfach anstrengender ist, im echten Leben mit Widerstand, anderen Meinungen, heißen Tagen und kalten Gefühlen umgehen zu müssen. Dann melden wir uns beim Iron Man an oder buchen eine Kräuterwandern-Auszeit, weil wir uns wieder mal spüren wollen, ein paar Stunden, Auszeit vom abgestumpften Digital-Alltag.

Dabei werden wir in diesen Zeiten dazu angehalten, aus allem eine Privatsache zu machen, weil wir doch unseres Glückes Schmied sind und das Kollektiv sowieso nicht mehr existiert. Wenn du ein Opfer der Digitalisierung bist, nur noch am Handy hängst, in einem Unternehmen arbeitest, dass dich dazu drängt, bis abends um halb Zwölf deine Mails zu beantworten und wenn du denkst, dein Po sei zu groß, weil du zu vielen dünnen und trainierten Mädchen auf Instagram folgst, dann bist du eben einfach selber schuld. Geh' meditieren, hol mehr aus dir raus, dann klappt das schon, mit der Abgrenzung.

Dabei sind wir nicht allein in diesem Boot. Wir sind es millionenfach. Wir haben uns vom Internet, von dieser Welt der unendlichen Möglichkeiten, von diesem Paradies der totalen Verführung aufsaugen lassen. Wir alle.

Es ist an der Zeit, uns unser Leben wieder zurückzuholen. Ja, digital ist genial. Wissen wir alle. Wollen wir alle. Ist auch in Ordnung. Doch es ist Zeit, aus diesem Daddel-Spiel, das Stunden und Tage und Jahre unserer Lebenszeit stielt, uns kreativ, menschlich und geistig verkümmern lässt, wieder auszusteigen. Weniger Bildschirm, mehr Leben.

Es ist Zeit für ein Leben nach dem Internet.

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