Vor der Revolte: Die Sechziger Jahre
Die Neue Linke
Die zeitgeschichtliche Forschung hat die Herausbildung einer Neuen Linken in der Bundesrepublik und - mit einem deutlichen Vorsprung - in West-Berlin bisher noch wenig untersucht. Beantwortet werden müsste vor allem die Frage, wie gerade zu jener Zeit, als der ideologische Überbau "abendländisch"-konservativen Denkens erodierte und westlich-liberales Denken in der politischen Öffentlichkeit immer stärker dominierte [26] , unter Intellektuellen zugleich sozialistische Ideen einer Neuen Linken attraktiv wurden, und dies nicht allein in der Bundesrepublik [27] , sondern auch in zahlreichen westlichen Ländern. Es können an dieser Stelle nur einige Faktoren knapp benannt werden:
- Zwischen der Sozialdemokratie, in der klassenkämpferische Traditionen und marxistisches Gedankengut marginalisiert wurden, und der Kommunistischen Partei war ein Vakuum entstanden. Die seit 1956 verbotene KPD hatte bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt einen Großteil ihrer Mitglieder und Anhänger verloren. Die Enthüllungen über Stalin auf dem 20. Parteitag der KPdSU, der Ungarn-Aufstand und die Entwicklung in der DDR hatten zur nahezu vollständigen politischen Isolierung der wenigen verbliebenen Mitglieder der illegalen Kommunistischen Partei in Westdeutschland geführt. Eine in ihren Ausmaßen und Formen rückblickend betrachtet mitunter grotesk überzogene strafrechtliche Verfolgung kam hinzu. In einer Atmosphäre, in der alle Organisationsversuche links von der SPD unter dem Generalverdacht einer Steuerung durch die SED standen, achteten selbst die wenigen marxistischen "Traditionalisten" in kleinen linkssozialistischen Gruppierungen [28] und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf strikte Abgrenzung. Der von der SPD 1960/61 verstoßene akademische Nachwuchsverband schloss selbst kurz darauf kommunistische Gruppierungen aus [29] . Die erstmals zur Bundestagswahl 1961 antretende Deutsche Friedensunion (DFU), in der neben einigen pazifistischen und linkssozialistischen Persönlichkeiten verdeckt auch kommunistische Gruppierungen mitarbeiteten, blieb wegen des Verdachts östlicher Unterstützung weitgehend erfolglos.
- Vor diesem Hintergrund kamen wichtige Anstöße aus dem westlichen Ausland, nachdem die SPD ihre Unterstützung der Anti-Atomwaffen-Bewegung [30] auf deren Höhepunkt 1958 einzustellen begann. Die Ostermarsch-Bewegung, die sich aus kleinen Anfängen zu einer Massenbewegung entwickelte, handelte nach britischem Vorbild. 1960 waren es etwa 1.000 Menschen, die gegen die atomare Kriegsgefahr demonstrierten, 1964 schon 100.000 und 1967 150.000, die nun ein erheblich breiteres Spektrum von Protestthemen artikulierten. Auch die anfangs strikt pazifistisch ausgerichtete Ostermarsch-Bewegung wurde von örtlichen Behörden - etwa hinsichtlich der Zuweisung von publikumsfernen Routen und der Zensur von Plakaten - schikaniert und war antikommunistischen Verdächtigungskampagnen ausgesetzt [31] . Innerhalb der Ostermarsch-Bewegung gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Pazifisten und Linkssozialisten, die erst zur Mitte der sechziger Jahre hin von Letzteren für sich entschieden wurden. Gemeinsam vertrat allerdings die Mehrheit der Ostermarsch-Bewegung die Abgrenzung von kommunismusverdächtigen Gruppierungen wie der DFU.
- Ende der fünfziger Jahre begann in intellektuellen Kreisen, in der Zeitschrift des SDS "Neue Kritik", in der "Konkret" und im West-Berliner Argument-Club, die Entdeckung der "Kritischen Theorie" der Zwischenkriegszeit und des Exils sowie undogmatischer marxistischer Schriften, etwa von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Korsch, Georg Lukacs und Ernst Bloch. Kaum beachtet wurde von den Rezipienten dabei allerdings der historische jüdisch-deutsche Hintergrund, das Moment des Re-Imports vormals verfemter Autoren. Biografisch interessant erscheint auch, dass etliche der jungen Intellektuellen, die sich der Exilliteratur zuwandten, aus Kreisen der bündischen Jugend stammten [32] . Vor allem der im kalifornischen Exil lebende Herbert Marcuse, der auf dem West-Berliner "Vietnamkongress" 1966 das Hauptreferat halten sollte, avancierte schon früh zum theoretischen Stichwortgeber für eine neue antiautoritäre Linke [33] . Nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die sozial ausgegrenzten oder vom spätkapitalistischen System noch nicht integrierten gesellschaftlichen Gruppen, vor allem der akademische Nachwuchs, wurden von dieser zum neuen revolutionären Subjekt erklärt, das den herrschenden "Manipulationszusammenhang" durchbrechen könne. Man wird die Hinwendung zu solchen theoretischen Ansätzen nicht gänzlich ohne sozialpsychologische Anteile erklären können, etwa den Provokationscharakter sozialistisch-antiautoritärer und marxistischer Terminologie angesichts der östlichen Bedrohung.
- Gemeinsamkeit verspürte die sich herausbildende Protestbewegung vor allem mit den jugendlich-studentischen Aufbrüchen in der westlichen Welt und zunächst in den USA [34] . Nicht zuletzt die moralischen "Empörungsmotive" [35] , etwa hinsichtlich des Krieges in Vietnam, und die euphorische Identifikation mit den Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt" verbanden die Jugendlichen diesseits und jenseits des Atlantik [36] . Die Bedeutung der diffusen Protestbewegung, die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre international ausbreitete, lag wohl im Zusammentreffen, für einen kurzen historischen Moment sogar in der Verschmelzung von politischer Bewegung und einer auch kommerziell expansiven jugendlichen Gegenkultur - eine "Kernfusion von Gegenkultur und Kulturindustrie" [37] . Nicht zuletzt die Tendenzen der Bildenden Kunst schon in den frühen sechziger Jahren bieten dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial [38] . Es war kein Zufall, dass einige der späteren Aktivisten von 1968, darunter Rudi Dutschke, aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale kamen, in der über den Zusammenhang von Ästhetik und Politik nachgedacht wurde [39] . Die Wirksamkeit des politischen Protests basierte vor allem auf seiner ästhetischen Stilisierung und Vermittlung durch die Massenmedien [40] - eine Konvergenz von Protestgeneration und Popkultur [41] . Sicherlich vermag das Generationenparadigma nicht allein die Genese der Neuen Linken erklären. Aber zum einen dominierte der jugendlich-studentische Anteil etwa bei Demonstrationen denjenigen der älteren Erwachsenen und fand zugleich die antiautoritäre gegenüber der traditionell linkssozialistischen Strömung - im Gegensatz zum Beginn des Jahrzehnts - schon zur Mitte der Dekade deutlich größere öffentliche Beachtung [42] . Zum anderen bliebe auch der Gehalt der Neuen Linken gänzlich unverstanden ohne Einbeziehung der Dimension einer "Lebensstilrevolution" [43] , der Sehnsucht nach einem anderen Leben und einer gänzlich neuen Politik, die das Private politisch werden ließ. Das darin enthaltene utopische Moment, das mit einer mitunter "erstaunlichen Ignoranz gegenüber den Errungenschaften des bürgerlichen Rechtsstaats" [44] und einer vehementen Denunziation liberalen Denkens zusammenging, barg zwar formal betrachtet ein antiwestliches Element, aber auch dieses war als Phänomen in allen westlichen Ländern anzutreffen.