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Cem Gülay | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de

1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei Von der Fremde zur Heimat Das ist meine Welt! Peitschenstriemen der Armut Der große Streik Ich kannte nur mein Dorf Skandal und Konflikt Vielfalt Türkische Minderheit Niederlassungsprozesse Das Anwerbeabkommen Anwerbestopp 1973 Portraits Selahattin Biner Ali Başar Mesut Ergün Eva und Sokrates Saroglu Sevim Celebi-Gottschlich Yahko Demir Salih Güldiken Saliha Çukur Mahir Zeytinoglu Selahattin Akyüz Suzan und Tevfik Bilge Cem Gülay Redaktion

Cem Gülay

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Cem Gülay, geboren 1070 in Hamburg, ist als Sohn eines Gastarbeiters ein sogenannter Migrant zweiter Generation ohne eigene Migrationserfahrung. Nach dem Zerwürfnis mit seinem traditionellen Vater rutscht er in das kriminelle Milieu ab.

Cem Gülay (© Bene Müller)

Geboren wird Cem Gülay 1970 in Hamburg, als Sohn eines Gastarbeiters, der in Anatolien Lehrer war, und einer Mutter, die zwangsverheiratet wurde und mit 14 Jahren nach Deutschland kam. Lange läuft für den jungen Cem alles rund. Er hat Freunde, gute Noten, Talent auf dem Fußballplatz. Überall gibt er alles, er will dazugehören. Irgendwann hat er immer häufiger das Gefühl: So ganz gehöre ich nicht dazu! Als nach dem Abitur die Lage bei ihm zu Hause eskaliert, haut er ab - und wird Gangster. Er steigt ins Warentermingeschäft ein, verspricht Anlegern satte Gewinne, die es gar nicht gibt. Vor allem aber verschafft er sich in der Hamburger Unterwelt, nicht selten mit Gewalt, was er schon immer haben wollte: Macht, Respekt, Geld. Nach seinem Ausstieg aus der Kriminalität im Jahre 2001 wird er wegen illegalen Waffenbesitzes und Betrug zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Heute warnt er Jugendliche: Ihr bekommt keine zweite Chance. Nutzt die eine!

Was bedeutet das: Heimat?

Cem Gülay: "Für mich definiert sich Heimat über ein Gefühl. Wenn ich in Hamburg bin, spüre ich sofort: Das ist meine Heimat! Wenn ich an der Alster entlangfahre, kenne ich die Bäume, die Straßen, die Cafés. Ich weiß, wo ich hinkomme, wenn ich rechts oder links abbiege, wie es dort aussieht, was es für Geschäfte gibt. Das setzt Emotionen bei mir frei, ich bekomme regelrecht Endorphin-Ausstöße. Genauso geht es mir, wenn ich mit anderen Hamburgern in ein Restaurant gehe, in dem nur Hamburger sind. Das ist etwas Besonderes, im Kreise von Menschen, die wissen: Das ist unsere Stadt! Wir alle sind von hier! Dieses Gefühl verbindet ungeheuer. Das ist für mich Heimat.

Jetzt sind Sie der Frage nach Ihrer Identität aber sehr geschickt ausgewichen! Cem Gülay: Überhaupt nicht! Ich habe lediglich beschrieben, was ich nach 40 Jahren endlich verstanden habe. Die Verbundenheit mit Hamburg, dieses Gefühl, das ich sonst nirgends auf der Welt habe, das kann mir niemand wegnehmen. Hamburger zu sein, fühlt sich einfach gut und richtig an. Ich bin kein Deutscher, es stimmt irgendwie nicht. Türke bin ich aber auch nicht. Ich kann nicht einmal die Sprache meiner Eltern richtig. Wenn ich Türkisch spreche, höre ich mich an wie ein Achtklässler. Im Deutschen habe ich keinen Akzent. Aber jeder fragt mich, warum nicht.

Was ist oder war aus Ihrer Sicht das größte Versäumnis der deutschen Politik? Cem Gülay: Über Jahrzehnte wider besseres Wissen nicht akzeptieren zu wollen, dass da Menschen sind, die bleiben werden. Und die, samt ihrer Kinder und Kindeskinder, genauso zu Deutschland gehören wie alle anderen. Kein Bildungssystem zu schaffen, das niemanden ausgrenzt und allen Chancen verschafft. Und keine Wirtschafts- und Unternehmenskultur, die Menschen vorurteilsfrei beurteilt. Bildung plus Arbeitsplatz gleich Teilhabe - so einfach ist es doch. Es hätte gar nicht viel gebraucht, damit Millionen Menschen nicht durch den Rost fallen. Das Wichtigste hätte nicht einmal etwas gekostet: Menschen danach zu beurteilen, was sie können - und nicht nach ihrer Herkunft oder nach ihrem Geschlecht. Wenn ich besser bin als ein Deutscher, habe ich den Job zu bekommen. Ist eine Frau besser als ich, wird sie genommen. So einfach ist das. Eigentlich geht es nur um das, was die Frauenbewegung seit Jahrzehnten fordert: Gleiche Rechte und gleiche Chancen für alle!

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