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Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft | Der Erste Weltkrieg | bpb.de

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Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft

Wolfgang Kruse

/ 7 Minuten zu lesen

Deutschland war nicht auf einen lange andauernden industriellen Abnutzungskrieg vorbereitet. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges kam es daher zu einer massiven Umstellungskrise der deutschen Wirtschaft. Trotz der Einberufung von Millionen Männern zum Militär wuchs die Arbeitslosigkeit rasch an. Darauf folgte eine starke Kriegskonjunktur, bedingt durch staatliche Aufträge an die Rüstungsindustrie. Gleichzeitig machte sich ein gravierender Arbeitskräftemangel bemerkbar, der starke gesellschaftliche und soziale Veränderungen mit sich brachte.

Wartende vor einem Lebensmittelgeschäft, Berlin 1917. (© picture-alliance/dpa)

Zwar wurde die deutsche Zivilgesellschaft im Ersten Weltkrieg nur in geringem Maße - durch Bombenangriffe in grenznahen Gebieten - unmittelbar durch Kampfhandlungen betroffen. Trotzdem übte der zunehmend totale Krieg beträchtliche Einflüsse auf Wirtschaft und Gesellschaft an der sogenannten Heimatfront aus. Die Wirtschaft wurde immer rigoroser auf Kriegsproduktion umgestellt, Frauen spielten eine wachsende Rolle im öffentlichen Leben. Die Menschen begannen Entbehrungen und materielle Not zu erleiden, und in der Gesellschaft bildeten sich immer deutlicher klassengesellschaftliche Gegensätze und soziale Protestpotentiale aus, die bald auch kriegsgegnerische Ausprägungen gewannen.

Quellentext„Hunger“-Flugblatt (Juni 1916)

Was kommen mußte, ist eingetreten: Der Hunger!

In Leipzig, in Berlin, in Charlottenburg, in Braunschweig, in Magdeburg, in Koblenz und Osnabrück, an vielen anderen Orten gibt es Krawalle der hungernden Menge vor den Läden mit Lebensmitteln. Und die Regierung des Belagerungszustandes hat auf den Hungerschrei der Massen nur die Antwort: Verschärften Belagerungszustand, Polizeisäbel und Militärpatrouillen.

Herr von Bethmann-Hollweg klagt England des Verbrechens an, den Hunger in Deutschland verschuldet zu haben, und die Kriegsdurchhalter und Regierungszuhälter schwätzen es nach. Indessen die deutsche Regierung hätte wissen müssen, daß es so kommen mußte: Der Krieg gegen Rußland, Frankreich und England mußte zur Absperrung Deutschlands führen. Es war auch stets Brauch unter den edlen Brüdern im Kriege, einander wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, die Zufuhr von Lebensmitteln abzusperren. Der Krieg, der Völkermord ist das Verbrechen, der Aushungerungsplan nur eine Folge dieses Verbrechens.

Die bösen Feinde haben uns ‚eingekreist‘, plärren die Kriegsmacher. Warum habt ihr eine Politik gemacht, die zur Einkreisung führte? Ist die einfachste Gegenfrage. […]

Auf das Verbrechen der Anzettelung des Weltkriegs wurde ein weiteres gehäuft: die Teuerung tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient. Weil, wenn man von Anfang an den Kampf gegen Hunger und Not durch ernsthafte Maßnahmen aufgenommen hätte, den verblendeten Massen der furchtbare Ernst der Lage klar geworden wäre. Dann wäre aber die Kriegsbegeisterung alsbald verraucht.

Deshalb hat man die Volksmassen mit Siegestriumphgeheul betäubt und sie gleichzeitig den agrarischen und kapitalistischen Lebensmittelwucherern ausgeliefert. […]

Was soll werden?

Man kann noch ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes Jahr Krieg führen, indem man die Menschen langsam verhungern läßt. Dann wird aber die künftige Generation geopfert. Zu den furchtbaren Opfern an Toten und Krüppeln der Schlachtfelder kommen weitere Opfer an Kindern und Frauen, die infolge des Mangels dem Siechtum verfallen.



Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 415f.

Vorrang und Organisation der Kriegsproduktion

Ähnlich wie in allen anderen am Krieg beteiligten Ländern war die Wirtschaft auch in Deutschland nicht auf einen lange dauernden industriellen Abnutzungskrieg vorbereitet. Erschwerend kam hier der durch die Absperrung vom Weltmarkt verursachte Mangel an erforderlichen Rohstoffen wie etwa Salpeter hinzu, das für die Produktion von Schießpulver benötigt wurde. Auf Initiative und unter Leitung des AEG-Direktors Walther Rathenau wurde deshalb schon am 13. August 1914 im Preußischen Kriegsministerium eine Kriegsrohstoffabteilung gegründet. Sie organisierte die Erfassung und Verteilung von kriegswichtigen Rohstoffen und die Produktion von Ersatzstoffen wie künstliches Salpeter nach dem Haber-Bosch-Verfahren und wurde so zur Keimzelle für den Ausbau der deutschen Rüstungswirtschaft. Ausgehend von der Metall- und Chemieindustrie wurden unter ihrer Anleitung immer mehr Wirtschaftsbereiche zu sogenannten Kriegsrohstoffgesellschaften zusammengeschlossen, in denen im Zusammenspiel von wirtschaftlicher Selbstverwaltung und militärbehördlicher Aufsicht die Verteilung von kriegswichtigen Rohstoffen organisiert wurde.

QuellentextBericht über die Entwicklung der Volksgesundheit im Ersten Weltkrieg

Die Vorträge hygienischer Sachkenner sowie die Mitteilungen von Vertretern des Reichsamtes des Innern, des Preußischen Ministeriums des Innern und des Gesundheitsamtes der Stadt Berlin enthüllen wahrhaft erschütternde Tatsachen. Das schlimmste ist, daß an maßgebenden Stellen diese Tatsachen seit langem bekannt waren, aber ihr Bekanntwerden mit allen Machtmitteln der Zensur unterdrückt worden ist.


So teilte Geheimrat Rubner u. a. mit: Die zensurierten Äußerungen der Presse ließen den Gesundheitszustand der Bevölkerung als gut erscheinen. Aber eine vertrauliche Umfrage im Dezember 1917 zeigte ein rasches Steigen der gesamten Sterblichkeit, insbesondere auch an Tuberkulose. Verzweifelt lauteten die Berichte aus Anstalten, wo nur die rationierte Ernährung gegeben wurde, Eine weitere Untersuchung scheiterte an dem Widerstand gewisser mächtiger Persönlichkeiten: Es fehlt jeder Maßstab, wie weit das Elend geht, das nicht nur die Großstädte, sondern auch Kleinstädte, und schließlich auch das Land ergriffen hat. Geheimer Medizinalrat Kraus besprach u. a. die durch Unterernährung entstehende Krankheit „Hungerödem“, die zunächst nur bei älteren und schwer arbeitenden Personen zum Tode führte, später aber auch Jugendlich und die widerstandsfähigeren Altersstufen ergriff. Geheimrat Ezernh besprach besonders die Wirkungen auf die Kinder. Bis 1916 täuschte das gute Aussehen der Kinder, aber die Kinder wurden nur dadurch ausreichend ernährt, daß die Eltern hungerten. Jetzt werden auch schon die Brustkinder in Mitleidenschaft gezogen, da die Milch der Mütter ungenügend wird.

Die Vertreter des Reichsamts des Innern und der Stadt Berlin gaben vor allem einiges statistisches Material:

Die Gesamtsterblichkeit der Zivilbevölkerung zeigte im Jahre 1917 eine Zunahme von 32 v. H., in den ersten dreiviertel Jahren 1918 von 34 v. H. gegenüber 1913. Dabei sind die Grippefälle nicht mitgerechnet. An Tuberkulose starben in Städten von mehr als 150000 Einwohnern 1913 40334 Menschen. Im ersten Halbjahr 1918 41800. An Erkrankung der Atemorgane starben 1913 46000, 1917 61000. Im ersten Halbjahr 1918 335000 Menschen, ohne die Grippefälle. Für Berlin hat sich ergeben, daß die Todesfälle an Lungen- und Halsschwindsucht sich gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 1913 und 1916 im Jahre 1917 verdoppelt haben. Besonders groß ist die Sterblichkeit der Frauen.



Aus: Sociale Praxis, 28. Jg. 1918/19, Sp. 215f.

Dieses System begünstigte in beträchtlichem Maße die schwerindustriellen Großbetriebe und Konzerne, während kleinere und nicht kriegswichtige Betriebe benachteiligt und oft auch ganz geschlossen wurden. Der Vorrang der Kriegsindustrie wurde mit dem auf Betreiben der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) im Herbst 1916 aufgelegten "Hindenburg-Programm für die Erzeugung von Heeresbedarf " noch einmal nachhaltig verstärkt. Das auf die totale Mobilmachung von Wirtschaft und Gesellschaft für die militärische Durchsetzung eines umfassenden Siegfriedens abzielende Programm führte noch einmal zu einer deutlichen Erhöhung der Produktion von Waffen und Munition. Es verschärfte aber zugleich die inneren Probleme, Gegensätze und Konflikte in der deutschen Kriegsgesellschaft, die zuvor bereits immer deutlicher hervorgetreten waren.

Arbeitskräftemangel und Arbeitszwang

Bei Kriegsbeginn war es anfangs zu einer massiven Umstellungskrise der deutschen Wirtschaft mit einer trotz der Einberufung von Millionen Männern zum Militär rasch wachsenden Arbeitslosigkeit gekommen. Sie wurde jedoch bald von einer starken Kriegskonjunktur in den von staatlichen Aufträgen begünstigten Rüstungsbetrieben abgelöst. Hier machte sich nun ein gravierender Arbeitskräftemangel bemerkbar, der durch Umschichtungen aus den Friedensindustrien nur teilweise ausgeglichen werden konnte. Staat und Industrie versuchten, dieses Problem auf verschiedene Weise zu lösen: Zum ersten durch die Rückstellung hochqualifizierter Industriearbeiter vom Kriegsdienst, was allerdings angesichts des wachsenden Bedarfs an Soldaten auf enge Grenzen stieß; zum zweiten durch die Heranziehung von Kriegsgefangenen, eine Praxis, die jedoch im Bereich der Kriegsproduktion völkerrechtswidrig war und oft nur mit Zwang durchgesetzt werden konnte; zum dritten durch Nutzung ausländischer Arbeitskräfte, wobei vor allem gegen Zivilisten aus Polen und Belgien auch rigide Zwangsmaßnahmen angewendet wurden, die vor allem im Falle der Zwangsdeportation von gut 60.000 belgischen Arbeitern ins Reich heftige internationale Proteste auslösten; zum vierten durch Versuche zur Erhöhung der Frauenarbeit, die insbesondere bei Arbeiterfrauen mit Kindern aber nur mäßig erfolgreich waren; schließlich durch die Einschränkung der Freizügigkeit und andere Zwangsmaßnahmen gegen die deutsche Arbeiterschaft.

QuellentextGröße und Zusammensetzung der deutschen Arbeiterschaft 1913 und 1918

Größe und Zusammensetzung der deutschen Arbeiterschaft
In Industriebetrieben mit 10 und mehr Beschäftigten
Absolute Zahlen jeweils in 1000 Arbeitern; relative Veränderungen in Prozent

1913 1918 Veränderung
Männer und Frauen insgesamt 7387 6787 -8%
davon erwachsen 6816 6185 -9%

davon unter 16 571 602 +6% Männer insgesamt 5794 4467 -23% davon erwachsen 5410 4046 -25% davon unter 16 384 421 +10% Frauen insgesamt 1593 2320 +46% davon erwachsen 1406 2139 +52% davon unter 16 187 181 -3%
Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 27.

Da die Kriegskonjunktur den begehrten Industriearbeitern gute Möglichkeiten eröffnete, durch häufigen Arbeitsplatzwechsel deutliche Gehaltserhöhungen zu erzielen, kam es in Groß-Berlin schon zum Jahreswechsel 1914/15 zu Einschränkungen der Freizügigkeit. Parallel dazu wurde allerdings auf Druck der Militärbehörden die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern deutlich aufgewertet. Eingerichtet wurden paritätisch aus Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeber besetzte Kommissionen unter Vorsitz eines Offiziers, die über die Berechtigung zum Arbeitsplatzwechsel entschieden. Diese Organisationsform, die den Einfluss der Gewerkschaften erhöhte, sie zugleich aber auch zu einem integralen Bestandteil der Kriegswirtschaftsorganisation werden ließen, wurde bald vielfach übernommen und Ende 1916 im "Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst " generell eingeführt. Das Gesetz verfügte jedoch vor allem die Arbeitspflicht für alle Männer von 16 bis 60. Angeregt hatte es die 3. OHL unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff, die einen allgemeinen Arbeitszwang für Männer und Frauen durchsetzen wollte. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen ", lautete die Devise, unter der Hindenburg von der Regierung ein allgemeines Arbeitszwangsgesetz forderte. Diese lehnte es allerdings aus bevölkerungs- und geschlechterpolitischen Erwägungen ab, Frauen einem allgemeinen Arbeitszwang zu unterwerfen. Und im Reichstag konnte die sogenannte Gewerkschaftsmehrheit aus SPD und Zentrum auch für Männer Ausnahmeregelungen durchsetzen, nach denen die Betriebsbindung durch das Prinzip gebrochen wurde, dass Einkommensverbesserungen einen Arbeitsplatzwechsel rechtfertigen sollten. Die so weiter steigenden Löhne in der Kriegsindustrie waren jedoch bald trotzdem nicht mehr in der Lage, die kriegsbedingte Verelendung der Arbeiterschaft aufzuhalten. Dazu trug nicht nur die Inflation bei, die von einer Finanzierung des Kriegs durch die Notenpresse angeheizt wurde, sondern auch der absolute Mangel an Lebensmitteln und Konsumgütern.

Lebensmittelbewirtschaftung und materielle Not

Das zivile Leben an der Heimatfront war von Kriegsbeginn an von Mangel und wachsender Not geprägt. Eine Ursache dafür lag in der britischen Seeblockade, doch kamen andere, hausgemachte Gründe hinzu. Während etwa in England durch die Ausweitung von Anbauflächen die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden konnte und erst im letzten Kriegsjahr Rationierungen eingeführt werden mussten, setzte das Deutsche Reich mit seinem prinzipiellen Vorrang für die Kriegsproduktion bei Lebens- und Bedarfsmitteln von Anfang an auf Mangelbewirtschaftung. Angefangen mit Grundnahrungsmitteln wie Brotgetreide und Kartoffeln, wurden frühzeitig von den Militärbehörden Beschlagnahmungen verhängt, Höchstpreise festgesetzt und Lebensmittelrationen zugewiesen.

QuellentextArbeitsverdienste und Nahrungsmittelversorgung zu Zeiten des Ersten Weltkriegs

Durchschnittliche Arbeiter-Jahresverdienste in 370 Unternehmen 1914-1918
Realverdienste männlicher Arbeiter, März 1914 = 100

Sept. 1914 März 1915 Sept. 1915 März 1916 Sept. 1916 März 1917Sept. 1917 März 1918Sept. 1918
Kriegsindustrien 90,8 91,8 89,8 88,9 78,4 76,2 78,8 77,8 77,4
Zwischengruppe 92,3 83,4 81,6 79,9 68,3 62,3 62,8 60,4 64,2
Friedensindustrien 83,5 82,6 77,5 73,5 57,9 54,3 52,7 52,2 55,5
Durchschnitt insgesamt 88,9 85,9 83,0 80,8 68,2 64,3 64,8 63,4 65,7


Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 33.


Gewicht der offiziellen Lebensmittelrationen
In Prozent des Gewichts des Friedensverbrauchs

1916/1917 1917/1918 1.7. bis 28.12.1918
Fleisch 31,2 19,8 11,8
Eier 18,3 12,5 13,3
Schmalz 13,9 10,5 6,7
Butter 22 21,3 28,1
Zucker 48,5 55,7-66,7 82,1
Kartoffeln 70,8 94,2 94,3
Pflanzliche Fette 39 40,5 16,6


Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 35.

Die lange auf unterschiedlichen Entscheidungsebenen von den Stellvertretenden Generalkommandos und verschiedenen Zivilbehörden auf kommunaler, einzelstaatlicher und Reichsebene ohne klare Zentralisierung praktizierte Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel gestaltete sich jedoch nicht nur ausgesprochen chaotisch und rief vielfältige Widerstände hervor. Sie erwies sich vielmehr auch bald als eine Form der Mangelbewirtschaftung, die vielfältige Ungerechtigkeiten hervorrief und vor allem eine ausreichende Grundversorgung der Bevölkerung nicht sicherstellen konnte. Spätestens im sog. Steckrübenwinter 1916/17 wurde deutlich, dass in Deutschland gravierende materielle Not und ein verbreiteter Hunger herrschten, dem vor allem ältere und geschwächte Menschen zum Opfer zu fallen begannen. Die offiziellen Lebensmittelrationen sanken bei großen regionalen und sektoralen Unterschieden auf etwa ein Drittel des Friedensverbrauchs. Zugleich boomte der Schwarze Markt, auf dem sich jedoch nur diejenigen zusätzliche versorgen konnten, die über größere Geldmengen oder über Sachmittel verfügten. Nicht zuletzt die großen Rüstungsbetriebe versuchten hier, die Versorgung ihrer Belegschaften zu verbessern, und trieben die Preise so immer weiter in die Höhe.

Soziale Gegensätze und Antikriegsproteste

Ein vergessener Aufstand

Der Januarstreik 1918

Ein vergessener Aufstand

Ein vergessener Aufstand - der Januarstreik 1918. Deutschlandfunk, Hintergrund Kultur, Sendung vom 18.01.2008. Autoren/Urheber: Wolfgang Kruse/Bernd Ulrich.

QuellentextBericht des Berliner Polizeipräsidenten an den Preußischen Innenminister über Unruhen vor Lebensmittelgeschäften im Oktober 1915

In den Abendstunden des 14. d. Mts. haben kleinere Zusammenrottungen vor dort befindlichen Niederlassungen der Großbutterfirma Assmann stattgefunden. Die Schaufensterscheiben des Zweiggeschäfts Evertystr. Ecke Straßmannstr, wurden eingeschlagen und die dadurch erreichbaren Lebensmittel (Butter, Eier, Käse) auf die Straße geworfen und gestohlen. Ein weiterer Angriff gegen eine andere in derselben Straße Ecke Kochhannstraße belegene Zweigniederlassung hatte nur das Ergebnis des Einschlagens der Fensterscheiben, da hier die Schutzmannschaft rechtzeitig zur Stelle sein konnte und die Versammelten auseinandertrieb. Es wurden aus diesem Anlaß im ganzen 4 Sistierungen vorgenommen. Leider haben sich diese Zusammenrottungen am gestrigen (15.) Abend in stärkerem Umfange wiederholt. Von ihr sind zunächst wieder die vorgenannten Buttergeschäfte in der Ebertystraße betroffen worden. Durch rechtzeitiges Eingreifen der Schutzmannschaft wurde jeder Angriff gegen die Geschäfte abgewehrt. Einem Schutzmann wurde durch einen der Persönlichkeit nach nicht festgestellten Arbeiter tatsächlicher Widerstand geleistet und er durch einen Faustschlag auf die Nase nicht unbedenklich verletzt. Die Unruhen dauerten von 5 Uhr nachmittags bis 11 Uhr abends. Ein weiterer Angriff gegen eine in der Proskauerstraße 24 belegene Niederlassung der gleichen Firma erfolgte um 7 ½ Uhr. Hier wurde von Kindern eine Schaufensterscheibe zertrümmert. Rechtzeitiges Eingreifen der der Schutzmannschaft war hier unmöglich, weil der zur Bewachung aufgestellte Schutzmann gerade zur Schlichtung einer Schlägerei nach der in demselben Revier belegenen Schreinerstraße 62 gerufen war und die übrigen Kräfte des Reviers teils zum Schutze des in der Schreiner- Ecke Samariterstraße belegenen weiteren Zweiggeschäftes, teils zur Unterdrückung von Ansammlungen auf Lichtenberger Gebiet vor dem Zweiggeschäft Ecke Frankfurter Allee und Niederbarnimerstraße dringend benötigt waren. Ein weiterer Angriff richtete sich gegen das Buttergeschäft von Göbel, Landsbergerstr. 54. Dieser konnte zunächst leicht zerstreut werden, da die Leiterin des Geschäfts dasselbe sofort um 6 ½ Uhr schloß. Um 8 Uhr erneuerten sich jedoch die Ansammlungen. Es wurden vereinzelt Steine nach dem Geschäft geworfen und die Schaufenster damit zertrümmert. Auch erfolgten Steinwüfe gegen die vorgehenden Aufsichtsbeamten. Ein Schutzmann wurde durch Steinwürfe hinter dem linken Ohr unerheblich verletzt, einem Schutzmann im Gedränge der Säbel entrissen, und nach dem leitenden Polizeibeamten mit einer Preßkohle geworfen, ohne ihn zu treffen. 2 Männer und 2 Frauen mußten zur Wache gebracht werden. An dieser Zusammenrottung beteiligten sich 500-600 Personen, meistens halbwüchsige Burschen. Die männlichen Teilnehmer schienen teilweise angetrunken zu sein und waren deshalb im Gegensatz zu den durch gütiges Zureden zugänglichen Frauen nur durch energischen Vorgehen von der Straße zu bringen. Um 11 ½ Uhr trat Ruhe ein.

Schließlich hat auch im Bezirk des 70. Polizeireviers im Südosten in der Reichenbergerstraße 137 um 7 ¾ Uhr ein Angriff auf das Eiergeschäft von Leo Intrators tatgefunden. Es waren 500 bis 600 Personen versammelt, denen es infolge der Plötzlichkeit des Angriffs gelang, die Schaufensterscheiben und die Vorräte im Schaufenster zu zerschlagen, ohne daß ein Einschreiten der Schutzmannschaft und Feststellung der Täter erfolgen konnte. Ein verstärkter polizeilicher Schutz hinderte dann weitere Ausschreitungen, und die Menge hatte sich um 10 Uhr verlaufen.

Die an sich in einer Großstadt wie Berlin unter dem gegenwärtigen Druck der Lebensmittelfrage nicht besonders bedenklichen Ausschreitungen trage ich deshalb so ausführlich vor, weil die Gefahr besteht, daß sie sich wiederholen und einen immer größeren Umfang annehmen werden. […]



Aus: Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 4, S. 90f.

Die Dynamik der Kriegsgesellschaft und die Eingriffe des Militärstaates, die von Nationalökonomen und Kriegsideologen als "Kriegssozialismus " oder als "deutsche Gemeinwirtschaft " verklärt wurden, führten letztlich zu einer verschärften Ausprägung klassengesellschaftlicher Gegensätze und zu einem immer weiter um sich greifenden Vertrauensverlust in die Möglichkeiten des Interventionsstaates. Die Arbeiterschaft erlebte trotz aller Bemühungen der Gewerkschaften nach dem Urteil des Sozialhistorikers Jürgen Kocka eine "Knappheits-, Verelendungs- und Ausbeutungssituation, wie sie seit Beginn der Industrialisierung nicht mehr existiert hatte". Auch weite Teile des Mittelstandes sahen sich in zunehmendem Maße sozial deklassiert, während auf der anderen Seite die industrielle Bourgeoisie enorme Kriegsgewinne verzeichnen konnte. Zugleich ballte sich in den wachsenden Riesenbetrieben der Rüstungswirtschaft eine neuartige, in hohem Maße von Jugendlichen und Frauen geprägte Arbeiterschaft zusammen, deren Bindung an die in die Kriegsanstrengungen des Militärstaates eingebundenen Gewerkschaften nachließ. So war es kaum verwunderlich, dass im Laufe des Krieges soziale Proteste immer weiter um sich griffen und bald eine kriegsgegnerische, schließlich auch revolutionäre Qualität gewannen.

QuellentextForderungen der Berliner Arbeiterräte im Januarstreik 1918

1. Schleunige Herbeiführung des Friedens ohne Annexion, ohne Kriegsentschädigung, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprechend den Ausführungsbestimmungen, die dafür von dem russischen Volksbeauftragten in Brest-Litowsk formuliert wurden.

2. Zuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Friedensverhandlungen. 3. Ausgiebigere Nahrungsversorgung durch Erfassung der Lebensmittelbestände in den Produktionsbetrieben wie in den Handelslagern zwecks gleichmäßiger Zuführung an alle Bevölkerungskreise.

4. Der Belagerungszustand ist sofort aufzuheben. Das Vereinsrecht tritt vollständig wieder in Kraft, ebenso das Recht der freien Meinungsäußerung in der Presse und in Versammlungen. Die Schutzgesetze für Arbeiterinnen und Jugendliche sind schleunigst wieder in Kraft zu setzen. Alle Eingriffe der Militärverwaltung in die gewerkschaftliche Tätigkeit sind rückgängig zu machen und neue zu verhindern.

5. Die Militarisierung der Betriebe ist gleichfalls aufzuheben.

6. Alle wegen politischer Handlungen Verurteilte und Verhaftete sind sofort freizulassen.

7. Durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen in Deutschland, und zwar zunächst die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle Männer und Frauen im Alter von mehr als 20 Jahren für den preußischen Landtag.


ENTSCHLIEßUNG

Da nur unbedingte Solidarität Erfolg verheißt, geloben wir, jede Maßregelung unserer Führer, Vertreter und Beauftragten mit aller Macht abzuwehren. Wir richten aber auch an die Proletarier Deutschlands wie der anderen kriegführenden Länder insgesamt die dringende Aufforderung, wie schon die Arbeitskollegen in Österreich-Ungarn erfolgreich uns vorangegangen sind, so nunmehr gleichfalls in Massenstreiks einzutreten, denn erst der gemeinsame internationale Klassenkampf schafft uns endgültig Frieden, Freiheit und Brot.



Aus: Dokumente aus geheimen Archiven, S. 246f.

Bereits im Jahre 1915 entwickelten sich erste Lebensmittelunruhen vor Geschäften und bei öffentlichen Lebensmittelausgaben, die von nun an nicht mehr abrissen und nach dem treffenden Urteil Ute Daniels "die Kommunen zu Nebenkriegsschauplätzen avancieren ließen". Beteiligt waren daran vor allem Jugendliche und Frauen. Mit dem Streik gegen die Verhaftung Karl Liebknechts im Juni 1916, an dem sich in Berlin immerhin etwa 60.000 Arbeiter beteiligten, begann die Protestbewegung sich deutlicher zu politisieren und auf die betriebliche Ebene überzugreifen. Vor allem in den kriegsindustriellen Großbetrieben kam es im April 1917 und im Januar 1918 zu großen Streikbewegungen gegen den Krieg und die Militärmonarchie, an denen sich Hunderttausende Arbeiter beteiligten. Eine führende Rolle spielte dabei die Gruppe der "Revolutionären Obleute", die sich vor allem aus gewerkschaftlichen Vertrauensmännern in der Berliner Metallindustrie rekrutierte. Auch wenn die Streikbewegung durch die Militarisierung der Betriebe erst einmal abgebrochen werden musste und ihre Führer teils ins Gefängnis geworfen, teils an die Front geschickt wurden, hatten insbesondere die fast alle Industriereviere in Deutschland erfassenden Januarstreiks gezeigt, wie sehr sich die Unzufriedenheit großer Teile der Arbeiterschaft in revolutionärer Weise politisiert hatte.

QuellentextForderungen der Berliner Arbeiterräte im Januarstreik 1918

1. Schleunige Herbeiführung des Friedens ohne Annexion, ohne Kriegsentschädigung, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprechend den Ausführungsbestimmungen, die dafür von dem russischen Volksbeauftragten in Brest-Litowsk formuliert wurden.

2. Zuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Friedensverhandlungen. 3. Ausgiebigere Nahrungsversorgung durch Erfassung der Lebensmittelbestände in den Produktionsbetrieben wie in den Handelslagern zwecks gleichmäßiger Zuführung an alle Bevölkerungskreise.

4. Der Belagerungszustand ist sofort aufzuheben. Das Vereinsrecht tritt vollständig wieder in Kraft, ebenso das Recht der freien Meinungsäußerung in der Presse und in Versammlungen. Die Schutzgesetze für Arbeiterinnen und Jugendliche sind schleunigst wieder in Kraft zu setzen. Alle Eingriffe der Militärverwaltung in die gewerkschaftliche Tätigkeit sind rückgängig zu machen und neue zu verhindern.

5. Die Militarisierung der Betriebe ist gleichfalls aufzuheben.

6. Alle wegen politischer Handlungen Verurteilte und Verhaftete sind sofort freizulassen.

7. Durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen in Deutschland, und zwar zunächst die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle Männer und Frauen im Alter von mehr als 20 Jahren für den preußischen Landtag.


ENTSCHLIEßUNG

Da nur unbedingte Solidarität Erfolg verheißt, geloben wir, jede Maßregelung unserer Führer, Vertreter und Beauftragten mit aller Macht abzuwehren. Wir richten aber auch an die Proletarier Deutschlands wie der anderen kriegführenden Länder insgesamt die dringende Aufforderung, wie schon die Arbeitskollegen in Österreich-Ungarn erfolgreich uns vorangegangen sind, so nunmehr gleichfalls in Massenstreiks einzutreten, denn erst der gemeinsame internationale Klassenkampf schafft uns endgültig Frieden, Freiheit und Brot.



Aus: Dokumente aus geheimen Archiven, S. 246f.

Ausgewählte Literatur:

Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag, Paderborn 2008 (Orig. Cambridge/Mass. 2007).

Hans Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, 2 Bde., Hamburg 1981.

Hans G. Ehlert, Die wirschaftliche Zentralbehörde des Deutschen Reiches 1914-1919. Das Problem der "Gemeinwirtschaft " in Krieg und Frieden, Wiesbaden 1982.

Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918, Bonn u. Berlin 1985 (Orig. 1966).

Ders., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, Oxford 1993.

Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988 (zuerst Göttingen 1973).

Kai Rawe, "… wir werden sie schon zur Arbeit bringen." Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005.

Anne Roerkohl, Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991.

A. Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart u.a. 1927.

Jens Thiel, "Menschenbassin Belgien ". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007.

Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus, Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914-1918, Düsseldorf 1974.

Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.

Fussnoten

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Apl. Prof. Dr. Wolfgang Kruse, geb. 1957, ist Akademischer Oberrat und außerplanmäßiger Professor im Arbeitsbereich Neuere Deutsche und Europäische Geschichte am Historischen Institut der Fernuniversität Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des Ersten Weltkriegs, die Geschichte der Französischen Revolution, Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und die Geschichte des politischen Totenkults. Von Kruse ist u.a. erschienen: Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009 (Geschichte Kompakt der WBG).