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Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung

Prof. Dr. Peter Borowsky Peter Borowsky

/ 6 Minuten zu lesen

Vor allem unter der akademische Jugend war Mitte der 1960er Jahre das Unbehagen am politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik weit verbreitet. Als Reaktion auf die erste Große Koalition formierte sich die "APO".

Studenten während einer Demonstration in Frankfurt am Main im Jahr 1965. (© AP)

Die Große Koalition war im November 1966 mit der Absicht gebildet worden, die wirtschaftliche Rezession zu überwinden. Doch das Einvernehmen zwischen den beiden großen Volksparteien, die relative Bedeutungslosigkeit der parlamentarischen Opposition und der damit verbundene Funktionsverlust des Parlaments nährten vor allem bei einem großen Teil der akademischen Jugend ein bereits vorher gespürtes und artikuliertes Unbehagen am politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik.

Es entstand eine Bewegung, die sich selbst als "Außerparlamentarische Opposition" (APO) bezeichnete und Forderungen an das parlamentarische System und die "etablierten" Parteien richtete. Wichtigste Antriebskräfte der Außerparlamentarischen Opposition waren

  • die Forderung nach einer Reform der Hochschulen,

  • die Schwäche der parlamentarischen Opposition gegenüber der Regierung der Großen Koalition,

  • die geplanten Notstandsgesetze, die - so die Sichtweise der APO - den demokratischen Rechtsstaat gefährdeten,

  • und nicht zuletzt die Kriegsführung der USA in Vietnam sowie die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die gleiche Rechte für die schwarze Bevölkerung forderte.

Ursachen und Vorbilder

Eine Wurzel der APO war die "Ostermarsch"-Bewegung der Atomwaffengegner. Diese von christlichen, pazifistischen und sozialistischen Gruppen gebildete und nur locker organisierte Protestbewegung hatte 1960 mit 1.000 Marsch- und Kundgebungsteilnehmern begonnen und in den folgenden Jahren immer mehr Menschen mobilisieren können. Ihre Aufrufe zum "Kampf gegen den Atomtod" wurden von Intellektuellen, Geistlichen, Gewerkschaftsfunktionären, Betriebsräten und Vertretern von Jugend- und Studentenorganisationen unterzeichnet.

Die Bewegung wandte sich bald nicht allein gegen Atomwaffen, sondern gegen Rüstung überhaupt und nannte sich daher seit September 1963 "Kampagne für Abrüstung - Ostermarsch der Atomwaffengegner". 1964 folgten ihren Osterdemonstrationen 100.000, 1965 130.000 Menschen. Die Vorstände von SPD und DGB lehnten - ebenso wie die damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP - die Ostermarsch-Bewegung als kommunistisch gesteuert oder unterwandert ab.

Zum Kern der APO wurde Mitte der sechziger Jahre die ehemalige Studentenorganisation der SPD, der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Die SPD hatte sich im Juli 1960 vom SDS getrennt und ihm die finanzielle Unterstützung gestrichen, weil der SDS nicht bereit gewesen war, sich auf den Boden des Godesberger Programms (verabschiedet 1959) zu stellen. Im Mai 1961 wurde der SPD-treue Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) gegründet, im November 1961 erklärte die Parteiführung die Mitgliedschaft im SDS für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD.

Der SDS entwickelte sich zu einer straff organisierten politischen Studentengruppe, die in intensiven Theoriedebatten die wirtschaftlichen und politischen Problemfelder der sechziger Jahre insgesamt in den Blick nahm und ihre Aktionen nicht nur - wie die Atomwaffengegner - auf einen Krisen- oder Kritikpunkt konzentrierte.

Ausgangspunkt der SDS-Aktivität war die Lage an den Hochschulen. Unter dem Schlagwort "Demokratisierung der Hochschule" forderten der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) und der SDS die Abschaffung der alten akademischen Selbstverwaltung, in der allein die ordentlichen Professoren (Inhaber eines planmäßigen Lehrstuhls) das Sagen hatten (Ordinarien-Universität). Stattdessen forderten sie die Einführung der Drittelparität zwischen Professoren, Assistenten und Studierenden in den Entscheidungsgremien der Hochschulen, das Recht der verfassten Studentenschaften, allgemeinpolitische Stellungnahmen abzugeben (politisches Mandat), und eine grundsätzliche Reform der Studiengänge und Prüfungsordnungen.

Um die Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen, bedienten sich die Studierenden provokativer Verweigerungs- und Protestformen, wie go-in, sit-in und teach-in, die erstmals in den USA erprobt worden waren. Lehrveranstaltungen und Sitzungen akademischer Gremien wurden "blockiert", "gesprengt" oder zu Protestversammlungen "umfunktioniert". Daraus entwickelte sich seit 1965 eine Studentenrevolte, die bald über den akademischen Bereich hinausging und nicht nur die Reform der Universität, sondern auch die Umgestaltung der gesamten Gesellschaft forderte.

"Sternmarsch auf Bonn" am 11. Mai 1968. (© AP)

Grundlage der Gesellschaftskritik des SDS war die Wiederentdeckung des Marxismus und seine Verknüpfung mit Elementen der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds. Richtungsweisend war hier vor allem der in Kalifornien lehrende Philosoph Herbert Marcuse, der schon die amerikanische Studentenbewegung beeinflußt hatte. Sein 1967 auf deutsch erschienenes Buch "Der eindimensionale Mensch" kritisierte die "Überflußgesellschaft" und den "Konsumterror", dem sich die Menschen widerstandslos unterwürfen, obwohl er ihre natürlichen Bedürfnisse unbefriedigt lasse und sie an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten hindere. Der in Wissenschaft und Technik erreichte Fortschritt, so Marcuse, sollte vielmehr zur Entwicklung einer von Not und Zwang entlasteten Kultur, in der Vernunft und Sinnlichkeit versöhnt sein könnten, genutzt werden.

Einflussreich war des weiteren die "Frankfurter Schule" der Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die in ihrer Theorie von der "autoritären Persönlichkeit" psychoanalytische, soziologische und philosophische Ansätze zu einer kritischen Analyse des Faschismus und der bürgerlichen Gesellschaft verbunden hatten.

Marxistische Sichtweise

Die studentische Rezeption des Marxismus war von Anfang an durchdrungen von der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik, deren politisches System als "verkrustet" und "reaktionär" be- und verurteilt wurde: Die durch das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg kompromittierte Generation der Väter habe sich ausschließlich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentriert, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Dritte Reich möglich gemacht hatten, kritisch zu reflektieren geschweige denn zu ändern. Das Ergebnis sei eine selbstzufriedene Wohlstandsgesellschaft, fest im Griff der Interessen der Großunternehmer und ihrer publizistischen Helfer, unfähig zur Einsicht in gesellschaftliche Mängel und unwillig zur Reform. Die APO kritisierte die unvollkommene Verwirklichung der rechts- wie sozialstaatlichen Normen des Grundgesetzes und forderte die Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche und der Wirtschaft.

Die Bilder aus Vietnam schockieren die Weltöffentlichkeit. (© AP)

Einen weiteren Ansatzpunkt für fundamentale Kritik an der Realität der westlichen Demokratie bot der Vietnamkrieg: Zu offenkundig war der Gegensatz zwischen dem Anspruch der US-Regierung, Freiheit und demokratische Werte des Westens gegen den totalitären Kommunismus zu verteidigen, und der Wirklichkeit eines brutal geführten Krieges, über den das Fernsehen tagtäglich berichtete. Die gegen den Vietnamkrieg gerichteten Protestaktionen der Studenten wandten sich zugleich auch gegen die angebliche oder tatsächliche Unterdrückung antikolonialer Befreiungsbewegungen durch die USA und gegen die Unterstützung, die die USA und die Bundesrepublik autoritären Regimen in Südamerika, Asien und Afrika gewährten.

Der erste große gewaltsame Zusammenstoß zwischen Studentenbewegung und Staatsgewalt ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Anläßlich des Staatsbesuchs des Schahs von Persien Reza Pahlewi kam es am 2. Juni 1967

Die Leiche des Studenten Benno Ohnesorg wird abtransportiert. (© AP)

in Berlin zu Zusammenstößen von Demonstrierenden mit der Polizei, in deren Verlauf der 26jährige Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen wurde. Der Tod Ohnesorgs löste Studentenunruhen in vielen Städten des Bundesgebiets aus. Die Konfrontation zwischen Studentenbewegung und Polizei versetzte Berlin monatelang in eine Art Ausnahmezustand und führte nach längeren Auseinandersetzungen zum Rücktritt des Polizeipräsidenten, des Innensenators und schließlich des Regierenden Bürgermeisters und evangelischen Theologen Heinrich Albertz im September desselben Jahres.

Seit Ende 1967 richteten sich studentische Aktionen verstärkt gegen den Springer-Konzern, in dem Tageszeitungen wie "Die Welt" und "Bild" erschienen. Der Springer-Presse wurde vorgeworfen, eine Hetzkampagne gegen Studenten und "Linke" zu führen, indem sie verfälscht oder verkürzt über die Studentenbewegung berichtete und Wortführer des SDS wie den Berliner Soziologie-Studenten Rudi Dutschke geradezu als Staatsfeinde verteufelte. Mit dem Schlachtruf "Enteignet Springer!" versuchten studentische Gruppen, die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern.

Anschlag auf Rudi Dutschke

Am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, verübte der 23jährige Anstreicher Josef Bachmann einen Mordanschlag auf Rudi Dutschke, der schwer verletzt wurde (und 1979 den Spätfolgen dieses Anschlags erlag). Bachmann erklärte nach seiner Festnahme, er sei durch die Lektüre der "Nationalzeitung" und der "Bild-Zeitung" zu seiner Tat angeregt worden.

Tausende Menschen demonstrieren im Dezember 1968 vor dem Springer-Verlagshaus in Berlin. (© AP)

Das Attentat auf Dutschke löste die schwersten Straßenunruhen in der Geschichte der Bundesrepublik aus: Während der Osterfeiertage demonstrierten in West-Berlin und in zahlreichen Städten des Bundesgebiets Hunderttausende von Menschen. Versuche, Redaktionen und Druckereien des Springer-Verlages zu stürmen, führten zu teilweise blutigen Konfrontationen mit der Polizei und zu regelrechten Barrikadenkämpfen. Bei einer solchen gewaltsamen Auseinandersetzung wurden in München ein Fotoreporter und ein Student tödlich verletzt.

Bundesregierung und Sprecher der Koalitionsparteien machten den SDS für die "Osterunruhen" verantwortlich. Innenminister Ernst Benda (CDU) sah im SDS eine verfassungsfeindliche Organisation, die "die revolutionäre Transformation der bestehenden Ordnung" anstrebe.

Selbstkritisch fragte hingegen Justizminister Gustav Heinemann (SPD), "was wir selber in der Vergangenheit dazu beigetragen haben könnten, daß ein Antikommunismus sich bis zum Mordanschlag steigerte und daß Demonstranten sich in Gewalttaten der Verwüstung bis zur Brandstiftung verloren haben. Sowohl der Attentäter, der Rudi Dutschke nach dem Leben trachtete, als auch die 11000 Studenten, die sich an den Demonstrationen vor Zeitungshäusern beteiligten, sind junge Menschen. Heißt das nicht, daß wir Älteren den Kontakt mit Teilen der Jugend verloren haben oder ihnen unglaubwürdig wurden?"

Quelle: Zeiten des Wandels. Informationen zur politischen Bildung (Heft 258).

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Borowsky (3. Juni 1938 - 13. Oktober 2000) war Professor für Neuere Geschichte. Er veröffentlichte u.a. Bücher zur deutschen Zeitgeschichte.