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Obrigkeitsstaat und Basisdemokratisierung | Das Deutsche Kaiserreich | bpb.de

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Obrigkeitsstaat und Basisdemokratisierung

Wolfgang Kruse

/ 8 Minuten zu lesen

Das Kaiserreich war ein preußisch dominierte Obrigkeitsstaat. Formell ein Fürstenbund, lagen die drei Säulen des absolutistischen Staats in der Hand von Kaiser und Reichskanzler: Heer, Bürokratie und Diplomatie. Und es war ein Militärstaat, in dem der Kaiser als oberster Kriegsherr der politischen Kultur und dem zivilen Leben seinen militaristischen Stempel aufdrückte. Daneben gab es aber auch einen tiefgehenden Politisierungsprozess durch die Entstehung eines breiten Parteienspektrums.

Max Koner (1854–1900): Kaiser Wilhelm II., Öl auf Leinwand, 1890.

Die politische Ordnung des Kaiserreiches stand in einem dynamischen Spannungsverhältnis zwischen machtvollen obrigkeitsstaatlichen Herrschaftsstrukturen auf der einen und umfassenden basisdemokratischen Politisierungstendenzen der Gesellschaft auf der anderen Seite. Auch in der Verfassung fand dieses Spannungsverhältnis seinen Ausdruck: Der monarchischen Regierungsform stand in der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreichs mit dem Reichstag eine Volksvertretung gegenüber, die nach einem für die Zeit sehr demokratischen, allgemeinen Männerwahlrecht gewählt wurde. Durch die Beteiligung an Gesetzgebung und Budgetrecht stellte der Reichstag von Anfang an einen beträchtlichen Machtfaktor dar. Seinen politischen Einfluss weitete er im Laufe der Zeit aus, ohne die Regierung jedoch vor dem revolutionären Zusammenbruch von 1918 parlamentarisieren zu können.

Verkörpert wurde der Obrigkeitsstaat von überwiegend agrarisch-aristokratisch geprägten Machteliten, die versuchten, ihre überkommene Herrenstellung in einer sich rapide modernisierenden Industriegesellschaft zu verteidigen. Die Entwicklung des politischen Systems im Kaiserreich ist deshalb von der Forschung vielfach im Spannungsfeld zwischen einer Manipulation der Gesellschaft durch die Herrschaftseliten "von oben" und einer vorwärtstreibenden Dynamik durch die gesellschaftlichen Kräfte "von unten" betrachtet worden. Die politische Entwicklungsdynamik wurde dabei allerdings keineswegs allein von liberalen und sozialistischen Reformbestrebungen auf der politischen Linken getragen. Höchst einflussreich waren auch die konservativen Interessenverbände und die nationalistischen Kräfte im ehemals liberalen Bürgertum, die eine bereits konservative monarchische Regierung zunehmen von rechts unter Druck setzten.

QuellentextDer Sozialwissenschaftler Max Weber 1895 über die herrschenden Klassen und die politische Grundproblematik des Kaiserreiches

Die Erlangung ökonomischer Macht ist es zu allen Zeiten gewesen, welche bei einer Klasse die Vorstellung ihrer Anwartschaft auf die politische Leitung entstehen ließ.

Gefährlich und auf die Dauer mit dem Interesse der Nation unvereinbar ist es, wenn eine ökonomisch sinkende Klasse die politische Herrschaft in der Hand hält. Aber gefährlicher noch ist es, wenn Klassen, zu denen hin sich die ökonomische Macht und damit die Anwartschaft auf die politische Herrschaft bewegt, politisch noch nicht reif sind zur Leitung des Staates. Beides bedroht Deutschland zur Zeit und ist in Wahrheit der Schlüssel für die derzeitigen Gefahren unserer Lage. Und auch die Umschichtungen der sozialen Struktur des Ostens, mit denen die im Eingang besprochen Erscheinungen zusammenhängen, gehören in diesen größeren Zusammenhang.

Bis in die Gegenwart hinein hat im preußischen Staat die Dynastie politisch sich auf den Stand der preußischen Junker gestützt. Gegen ihn zwar, aber doch auch nur mit ihm, hat sie den preußischen Staat geschaffen. Ich weiß es wohl, daß der Name der Junker süddeutschen Ohren unfreundlich klingt. Man wird vielleicht finden, ich spräche eine “preußische“ Sprache, wenn ich ein Wort zu ihren Gunsten sage. Ich wüßte nicht. Noch heute führen in Preußen für jenen Stand viele Wege zu Einfluß und Macht, viele Wege auch an das Ohr des Monarchen, die nicht jedem Staatsbürger sich ebnen; er hat diese Macht nicht immer so gebraucht, wie er es vor der Geschichte verantworten kann, und ich sehe nicht ein, weshalb ein bürgerlicher Gelehrter ihn lieben sollte. Allein trotz alledem war die Kraft seiner politischen Instinkte eines der gewaltigsten Kapitalien, welche im Dienste der Machtinteressen des Staates verwende werden konnten. – Sie haben ihre Arbeit geleistet und liegen heute im ökonomischen Todeskampf, aus dem keine Wirtschaftspolitik des Staates sie zu ihrem alten sozialen Charakter zurückführen könnte. Und auch die Aufgaben der Gegenwart sind andere, als solche, die von ihnen gelöst werden könnten. Ein Vierteljahrhundert stand an der Spitze Deutschlands der letzte und größte der Junker (Bismarck), und die Tragik, welche seiner staatsmännischen Laufbahn neben ihrer unvergleichlichen Größe anhaftete und die sich heute noch immer dem Blick vieler entzieht, wird die Zukunft wohl darin finden, daß unter ihm das Werk seiner Hände, die Nation, der er die Einheit gab, langsam und unwiderstehlich ihre ökonomische Struktur veränderte und eine andere wurde, ein Volk, das andere Ordnungen fordern mußte, als solche, die er ihm geben und denen seine cäsarische Natur sich einfügen konnte. Im letzten Grund ist eben dies es gewesen, was das teilweise Scheitern seines Lebenswerkes herbeigeführt hat. Denn dieses Lebenswerk hätte doch nicht nur zur äußern, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen, und jeder von uns weiß: das ist nicht erreicht. Es konnte mit seinen Mitteln nicht erreicht werden. Und als er im Winter des letzten Jahres, umstrickt von der Huld seines Monarchen, in die geschmückte Reichshauptstadt einzg, da – ich weiß es wohl – gab es viele, welche so empfanden, als öffne der Sachsenwald wie ein moderner Kyffhäuser seine Tiefen. Allein nicht alle haben diese Empfindung geteilt. Denn es schien, als sei in der Luft des Januartages der kalte Hauch geschichtlicher Vergänglichkeit zu spüren. Uns überkam ein eigenartig beklemmendes Gefühl, - als ob ein Geist herniederstiege aus einer großen Vergangenheit und wandelte unter einer neuen Generation durch eine ihm fremd gewordene Welt.

Die Gutshöfe des Ostens waren die Stützpunkte der über das Land dislozierten herrschenden Klasse Preußens, der soziale Anschlußpunkt des Beamtentums, - aber unaufhaltsam rückt mit ihrem Zerfall, mit dem Schwinden des sozialen Charakters des alten Grundadels, der Schwerpunkt der politischen Intelligenz in die Städte. Diese Verschiebung ist das entscheidende politische Moment der agrarischen Entwicklung des Ostens. Welches aber sind die Hände, in welche jene politische Funktion des Bürgertums hinübergleitet, und wie steht es mit ihrem politischen Beruf?

Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und erzogen in ihren Anschauungen und Idealen. Allein es ist der Beruf gerade unserer Wissenschaft, zu sagen, was ungern gehört wird, - nach oben, nach unten, und auch der eigenen Klasse, - und wenn ich mich frage, ob das Bürgertum Deutschlands heute reif ist, die politisch leitende Klasse der Nation zu sein, so vermag ich heute nicht diese Frage zu bejahen. Nicht aus eigener Kraft des Bürgertums ist der deutsche Staat geschaffen worden, und als er geschaffen war, stand an der Spitze der Nation jene Cäsarengestalt aus anderem als bürgerlichem Holze.

Aus: Ritter, Das Deutsche Kaiserreich, S. 31-33.

Verfassungsordnung

"Exerzieren der Prinzen": Die Söhne Friedrich Wilhelms III., Friedrich Wilhelm (IV.), Wilhelm (I.) und Friedrich Karl. Holzstich, um 1890. (© picture-alliance/akg)

Gegründet wurde das Kaiserreich als ein Fürstenbund, dessen formelle Souveränität in der Vertretung der Einzelstaaten, dem Bundesrat verkörpert war. Ihm saß als Vertreter des Kaisers der Reichkanzler vor, der zugleich (von kurzen Ausnahmen abgesehen) als preußischer Ministerpräsident den größten Einzelstaat und seine machtvolle, auch die Reichsgeschäfte prägende Bürokratie verkörperte; nur langsam wurden überhaupt eigene Reichsbehörden aufgebaut. Die im sog. Bundespräsidium aus Kaiser und Reichskanzler gebündelte monarchische Staatsspitze verfügte generell über "die drei Säulen des absolutistischen Staates: Heer, Bürokratie und Diplomatie" (H.-U. Wehler) und hielt damit die wesentlichen politischen Machtmittel in ihren Händen. Der Reichstag hatte hier keine Gestaltungs- oder Kontrollrechte, und auch das Recht zu seiner Auflösung lag bei Regierung und Bundesrat. Die autoritären Strukturen des preußisch dominierten Obrigkeitsstaates reichten über die politische Verfassung aber noch weit hinaus. Der Militärstaat mit dem Kaiser als Oberstem Kriegsherren prägte auch der politischen Kultur und dem zivilen Leben in vieler Hinsicht seinen militaristischen Stempel auf. Und die Verwaltung, die ebenso wie das Offizierskorps noch immer von aristokratischen Kräften geprägt war, begriff sich als ein über der Gesellschaft stehender Herrschaftsstand. Als ein Herrschaftsstand, der den monarchischen Staat als höherwertige ideelle Kraft repräsentierte und der für die als Untertanen angesehenen Staatsbürger zu handeln beanspruchte.

QuellentextAnonymus, Die Ideologie des Offizierskorps (1889)

Der Stolz eines jeden Deutschen ist die Armee, die Blüthe des Volkes, Deutschlands Heer – Deutschlands Ehr! Der ausgezeichnetste Teil aber, die Elite des Heeres, ist das Offizierskorps. (…)

Es wiederholt sich hier, was im Leben allgemeine Erfahrung ist: die unteren Schichten sind stets das, was die oberen aus ihnen machen. So lange die höheren, führenden Klassen, die oberen Zehntausend, sittliche Tüchtigkeit und moralische Gesundheit bewahren, bleibt auch das Volk stark und lebenskräftig; während die sittliche Fäulniß der herrschenden Schichten den Verfall und den Niedergang der ganzen Nation unaufhaltsam nach sich zieht. (…)

Wenn der Offiziersberuf jetzt nicht mehr wie früher das Monopol des Adels ist, so dürfen doch nur Ebenbürtige, nur Ritter vom Geiste und Kavaliere von Erziehung und Gesinnung Mitgleider und Genossen dieses bevorzugten Standes sein. (…) Beide, der bürgerliche sowohl wie der adlige Offizier, vertreten das gleiche Prinzip, die aristokratische Weltanschauung gegen die demokratische. Der junge Offizier aus bürgerlicher Familie bekundet durch die Wahl des Offizierberufes, daß er nach Erziehung und Anschauung sich zur Aristokratie des Geistes und der Gesinnung rechnet, welche den Offizier beseelen muß; daß er der modernen Ritterschaft angehören will, die Se. Majestät von seinen Offizieren verlangt. (…)

Die hohe Stellung des Offiziers als erster und vornehmster Stand im Staate legt zugleich die höchsten Pflichten auf; denn erhöhte Rechte beruhen allein auf erhöhten Verpflichtungen. Noblesse oblige! Wer den Offiziersstand zu dem seinigen macht, übernimmt damit auch die Pflichten desselben; macht die Anschauungen zu den seinen, die dem Stande innewohnen, die aus seiner Grundidee entspringen. Wer dieselben nicht theilen kann, wer anderen Grundsätzen huldigt, muß einen anderen Beruf wählen, wenn er kein Heuchler sein will. Die dem Urgedanken des Offizierstandes entstammenden Gesinnungen sind: dynastischer Sinn, unbedingte Treue gegen die Person des Monarchen, erhöhter Patriotismus, Erhaltung des Bestehenden, Vertheidigung der seinem Schutze anvertrauten Rechte seines Königs und Bekämpfung vaterlandsloser, königsfeindlicher Gesinnung etc. Die erste Pflicht, die schönste Tugend im Strahlenkranze des Offiziers, zugleich die Grundbedingung seienr Existenz, ist die Treue. (…) Vor allen Anderen ist der Offizier berufen, die Fahne des Königthums von Gottes Gneaden voran zu tragen und hoch flattern zu lassen, die geheiligten Ordnungen Gottes auf Erden vor den finsteren Mächten der Anarchie zu schützen. Und nie war sein Beruf so wichtig, als in unseren Tagen. Das Offizierkorps, und damit die Armee, soll der Feld im tosenden Meer der tief aufgeregten Leidenschaften sein, der rocher de bronze, an welchem, vereint mit der Kirche, die Anarchie, will’s Gott, zerschellen wird. (…)

Die Stellung als Offizier erfordert gebieterisch eine Mißbilligung all jener politischen Richtungen, welche das Königthum von Gottes Gnaden bekämpfen oder seine ihm zustehenden Rechte verkürzen möchten; aller der Tendenzen, welche in ihren Konsequenzen zur Leugnung aller göttlichen und menschlichen Autorität, zur Auflösung aller bestehenden Ordnungen, zur Untergrabung des Rechtes führen. Ohne irgendwie Politiker zu sein, muß er doch instinktiv alle diejenigen Prinzipien vertreten, die man in der Politik mit dem Ausdruck „königstreu“ bezeichnet. (…) Es ist ferner von größter Wichtigkeit, daß auch die, in ihrer Civilstellung einen so außerordentlichen Einfluß auf das Volk ausübenden Offiziere der Reserve und Landwehr bei ihrer Einberufung an dem leichtenden Vorbilde ihrer aktiven Kamerade immer aufs Neue ihre eigenen Gesinnungen erwärmen und befestigen. Denn auch im Frieden fällt den Offizieren des Beurlaubtenstandes eine wichtige Aufgabe zu. Sie stehen mit einem Fuß im Heerwesen, mit dem andern im Volke. Sie sind daher am ehesten befähigt, in weiten Kreisen Lust und Liebe zu des Königs Dienst zu verbreiten und wach zu erhalten. Sie können die thatkräftigsten Vertreter für alle Interessen des vaterländischen Heeres sein.

Möchte doch die Herren Kameraden vom Beurlaubtenstande immer die Traditionen und Anschauungen des Offizierstandes auch in ihren bürgerlichen Verhältnissen als ihre Richtschnur betrachten, und ihrem Könige nicht nur den Gehorsam, sondern unter allen Umständen auch die Treue bewahren! Auch außer Dienst zählt seine Majestät auf ihre Dienste!

Aus:Ritter, Das Deutsche Kaiserreich, S. 92-94.

Basisdemokratisierung

Stimmenanteile der Parteien nach Bundesstaaten und preußischen Provinzen 1912

Unterhalb dieser Ebene jedoch vollzog sich ein ebenso dynamischer wie tiefgehender Politisierungsprozess, der weite Bereiche der Gesellschaft erfasste. In erster Linie ist hier die Entstehung eines ausdifferenzierten Parteienspektrums zu nennen, das von den zwei konservativen Parteien (Deutschkonservative Partei, Freikonservative Partei) über die katholische Zentrumspartei, die Nationalliberale Partei und verschiedene linksliberale Parteien bis zur Sozialdemokratischen Partei reichte. Beginnend mit der SPD, durchliefen diese Parteien einen Entwicklungsprozess von traditionellen Honoratiorenparteien hin zu modernen Parteiorganisationen mit einem wachsenden Stab von Berufspolitikern und Angestellten, die oft zugleich in der parteieigenen Presse tätig waren. Alleine die SPD verfügte vor 1914 über mehr als 100 parteieigene Tageszeitungen, ergänzt durch eine große Zahl von Wochen- und Monatsschriften. Der "politische Massenmarkt" (Hans Rosenberg) des Kaiserreichs wurde ferner durch große, parteiunabhängige Zeitungen mit politischer Ausrichtung geprägt, wie etwa die liberale Frankfurter Zeitung oder in Berlin die Vossische Zeitung.

Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1871 - 1912

Es waren nicht zuletzt die vielfältigen Wahlkämpfe zum Reichstag und zu den Länderparlamenten, in denen die Politisierung der Bevölkerung weiter vorangetrieben wurde. Und neben den Parteien entwickelte sich ein breites Spektrum weiterer Organisationen mit politisierenden Tendenzen. Hier sind erst einmal die großen Interessenverbände der Industrie, der Landwirtschaft und der Arbeiterschaft zu nennen, die sich keineswegs auf tarifpolitische Fragen beschränkten, sondern auch auf die allgemeine Politik Einfluss zu nehmen versuchten und eng mit politischen Parteien kooperierten. Dem Bund der Landwirte gelang es zeitweilig sogar, die Deutschkonservative Partei weitgehend zu dominieren. Am deutlichsten trat die Politisierung aber bei den Gewerkschaften hervor, die sich explizit als politische Richtungsgewerkschaften organisierten: Die Freien Gewerkschaften verstanden sich als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, hinzu kam die christlichen Gewerkschaften, die eng mit dem Zentrum kooperierten. Am kleinsten waren die liberalen, nach ihren Gründern Hirsch-Dunckersche genannten Gewerkvereine. Zur öffentlichen Politisierung trugen schließlich die vielfältigen, vor allem in der wilhelminischen Phase des Kaiserreichs entstehenden Agitationsverbände mit zumeist nationalistischer Ausrichtung bei, wie etwa der Alldeutsche Verband (1891), die Kolonialverbände, der Ostmarkenverein (1894), der Deutsche Flottenverein (1898), der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (1904) oder der Deutsche Wehrverein (1912).

QuellentextDer Liberale Friedrich Naumann 1909 über die die Probleme der Monarchie und die Schwäche von Parlamentarismus und Demokratie in Deutschland

Wir hoffen, wünschen, ersehnen mit allen Fasern unseres Wesens, daß es nicht geschehe, aber wer will es leugnen, daß wir alle im stillen uns vor einer politischen Katastrophe fürchten, die nicht kommen muß oder soll, aber die doch kommen kann?

Wir überdenken die ungeheure Macht, die durch Erbschaft, Geschichte, Verfassung, Zeitlage und Personalkraft in diese eine Hand gelangt ist, ahnen, wie alle Anforderungen an sie im Augenblicke der nationalen Gefahr sich ins unabsehbare steigern werden, und fühlen, daß eine fast übermenschliche Last in der Vereinigung aller monarchischen Rechte liegt. Die Steigerung des Heeres, der Marine, der Artillerie, des Verpflegungswesens, der öffentlichen Anteilnahme an allen Vorgängen machen den Zukunftskrieg zu einem Rätsel von grauenhafter Dunkelheit. Dieser Krieg steht im Mittelpunkte des monarchischen Problems, denn sowohl die alte wie die neue Monarchie ist in ihrem Kerne Militärhoheit und Leitung des Verteidigungssystems. Möge er gnädig an uns vorübergehen! Möge er überhaupt nicht kommen, damit der Historiker dereinst nicht nichts anderes zu behandeln habe als eine Zeit des Friedens ohne Einbuße an weltgeschichtlicher Macht. (…)

Die monarchische Person wird voraussichtlich solange an der Spitze der deutschen Reichsverwaltung stehen, als sie einen ehrenhaften Frieden zu garantieren in der Lage ist oder sich im Kriege bewährt. Welche Folgen eine Niederlage haben würde, kann niemand vorhersehen., da in diesem traurigsten Falle alles auf die Umstände ankommt, unter denen sich das Unheil vollziehen würde. Irgendwelche Absichten oder Möglichkeiten, vor einer nächsten weltgeschichtlichen Prüfung die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres Regierungssystems zu ändern, bestehen fast auf keiner Seite, um so weniger als bei allen schweren Sorgen, die man hinsichtlich der monarchischen Führung hat, jede andere Art, die nationalen Kräfte zu organisieren und zu dirigieren, als noch gefahrvoller und für jetzt geradezu undenkbar erscheint. Die Monarchie ist ja deshalb so hoch gestiegen, weil es neben ihr überhaupt keine regierungsfähigen Stellen gibt, Es gibt keine regierungsfähige Aristokratie und keine regierungsfähige Demokratie, keine regierende Parlamentsmehrheit, und nicht einmal eine Stelle, die morgen die sichere Führung der Staatsgeschäfte in die Hand nehmen könnte, wenn heute die Monarchie versänke. Um die mächtige Zentralstelle herum ist eine höchst unbehagliche Leere. Man lasse alle unsere politischen Helden am geistigen Auge vorübergehen, sowohl die Minister wie die Parlamentarier, und erst wenn man das getan hat, weiß man, worauf die Monarchie beruht. Sie beruht nicht zum kleinsten Teil darauf, daß die größten organisatorischen Talente des Deutschtums nicht in die politische Arbeit hineingehen. Wir sind ein unpolitischen Volk, und deshalb kommen wir nicht los vom Monarchen.

Das ist kein angenehmes Bekenntnis, und manche meiner Freunde würden es für klüger halten, wenn ich es nicht ausspräch. Aber was hilft es, wenn wir uns vormachen, wir würden am Morgen nach dem Tode der Monarchie eine regierungsfähige Demokratie oder irgend etwas Ähnliches besitzen? Laßt uns doch offene Augen haben! Wenn heute der Reichstag allein die Quelle der staatlichen Machtausübung wäre, wenn Königtum und Bundesrat uns aus einem seligen Jenseits dabei ironisch zuschauten, was würde diese Quelle der Macht anfangen? Würde sie das sein, was das engliche Unterhaus in seinen besten Zeiten unter Disraeli und Gladstone gewesen ist? Sicherlich nicht, denn auch dieses Unterhaus ist langsam gewachsen. Es wuchs im Kampf mit Monarchen, aber nicht indem es plötzlich an ihre Stelle trat, sondern indem es langsam anfing, sich mit ihnen in die Verantwortung zu teilen. Auch diejenigen unter uns, die für die Zukunft eine Erhöhung der Regierungsfähigkeit des Parlaments erstreben und erhoffen, können jetzt nicht vor das Volk hintreten und ihm sagen: vertraut das Schicksal eueres politischen und wirtschaftlichen Lebens irgendeiner Blockmehrheit an, wie sie zur Zeit im Reichstage möglich ist! Ganz gleichgültig, wie man diese Mehrheit herausrechnen möchte, so wird sie stets eine Zusammenfassung von starken Gegensätzen sein, mag sie mit oder ohne Zentrum geknetet werden. Es ist hier nicht der Platz, darzustellen, weshalb das alles so ist. Das ist eine Sache für sich. Genug, daß wir als Ergebnis des letzten Bismarckischen Jahrhunderts eine so bedauerliche politische Blutarmut im deutschen Volke vorfinden, daß es keine hinreichenden Gegenkräfte gegenüber der Monarchie gibt! (…)

Carlyle sagt irgendwo, daß jedes Volk die Regierung hat, die es verdient. Das antworten wir allen denen, die jetzt mit einem Male jammern und wehklagen, als sei es etwas ganz Neues, daß die deutsche Politik nicht vom deutschen Volke selber gemacht wird. (…) Dieser Kaiser, über den ihr euch aufregt, ist euer Spiegelbild! Ihr werdet in demselben Maße von seinem persönlichen Regiment freiwerden, als ihr selbst etwas Politisches tut! Ihr sagt, er redet zuviel! Gewiß! Aber was tun denn die anderen? Wer überlegt gründlich, wer studiert Politik, wer achtet die politische Geistesarbeit der Väter? Das Volk soll sagen: mea culpa, mea maxima culpa, wir selber sind schuld, daß alles so weit gekommen ist. Wir alle müssen den Staat neu begreifen lernen, den neuen Staat mit seinem Großbetriebscharakter, und müssen vor vorn an lernen, für den neuen Staat ein neues Regiment zu schaffen, eine Form des Regiments, die den Volksbedürfnissen entspricht in der Art des englischen Systems. Auch das englische System ist nur solange wirksam, als das englisch Volk ein politisch tätiges Volk ist. Sobald es erschlafft, kommt entweder der Absolutismus oder die Niederlage, oder beides. In diesem Sinne brauchen wir eine politische Reformation an Haupt und Gliedern. Sie wird den Inhalt der politischen Kämpfe der nächsten Jahrzehnte ausmachen.

Aus: Ritter, Das Deutsche Kaiserreich, S. 316-19.

Bismarck und die Zeit der "Kanzlerdiktatur"

Die erste Hauptphase des Kaiserreiches von 1871 bis 1890 stand politisch im Zeichen der Herrschaft des Reichskanzlers Otto v. Bismarck. Sie konnte teilweise als eine Art Kanzlerdiktatur erscheinen und ist von der Forschung lange mit Bewunderung, zunehmend aber mit kritischer Distanz analysiert worden. Bismarck nutzte nicht nur die Machtmittel, über die er im Namen des preußischen Königs und deutschen Kaisers verfügen konnte, sondern er brachte auch sein eigenes, alles überstrahlendes Charisma als erfolgreicher Reichsgründer in die deutsche Politik ein. Zugleich gelang es ihm, durch moderne, aber manipulativ eingesetzte Herrschaftstechniken eine zeitweilig überragende politische Bedeutung zu gewinnen. Dazu zählten vor allem der "appel au peuple", d. h. die populistische Aktivierung kaisertreuer Mehrheiten durch das allgemeinem Männerwahlrecht und die virtuos genutzte Praxis (oder Androhung) von Reichstagsauflösungen und Neuwahlen unter nationalen Parolen. Eng damit verbunden waren die bismarcksche "Kartellpolitik" vermeintlich staatstragender, auf Bismarck eingeschworener Parteien, die indirekte oder auch negative Integration von "reichsfreundlichen" Mehrheiten durch die Aktivierung von inneren (Katholiken, Sozialdemokraten, Juden) und äußeren Feindbildern sowie die "sozialimperialistische", auf nationale Expansionsbestrebungen gegründete Ableitung innerer Spannungen nach Außen.

Als Bismarck 1890 seinen Abschied nehmen musste, war dies jedoch keineswegs allein den Konflikten mit dem jungen Kaiser Wilhelm II. geschuldet. Das "System Bismarck" war auch inhaltlich längst an seine Grenzen gestoßen, wie etwa das Scheitern der Repressionspolitik gegen die Sozialdemokratie und die Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag verdeutlichte. Der doppelte Thronwechsel im Jahre 1888 brachte allerdings keineswegs den Aufbruch in eine liberalere Ära, den sich viele Zeitgenossen von Friedrich III. erhofft hatten. Der Thronfolger verstarb nur wenige Monate nach seinem Herrschaftsantritt. Und sein Sohn Wilhelm II. beanspruchte zwar Jugendlichkeit und Modernität zu vertreten, doch eine politische Liberalisierung war damit keineswegs verbunden. Bismarcks Nachfolger Caprivi, dessen "Neuer Kurs" anfangs mit Liberalisierungstendenzen verknüpft war, traf auf den erbitterten Widerstand der Konservativen und wurde vom jungen Kaiser schnell fallengelassen. Umso mehr wurde nun deutlich, dass Bismarck eine nur schwer zu füllende Lücke in der ganz auf seine Person zugeschnittenen Verfassungspraxis hinterlassen hatte.

Wilhelm II. und das "persönliche Regiment"

Wilhelm II. beanspruchte ein "persönliches Regiment", d. h. er wollte anders als sein Vorgänger die Regierungstätigkeit nicht allein von Reichskanzler und Regierung ausüben lassen, sondern ihre Führung selbst in die Hand nehmen. Doch seine Versuche, dieses Projekt umzusetzen, waren nicht nur ungeschickt, sondern sie stießen auch immer wieder auf verfassungspolitische Grenzen. Neue Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie, wie sie Wilhelm favorisierte, konnten nur begrenzt durchgesetzt werden. Besonders deutlich traten die Auseinandersetzungen über das persönliche Regiment jedoch in der Außenpolitik hervor, in der der Kaiser immer wieder für Verunsicherung und politischen Gegenwind sorgte. Nach der sog. Daily-Telegraph-Affäre von 1908/09, ausgelöst durch ein die deutsche Außenpolitik desavouierendes Interview des Kaisers, musste Wilhelm schließlich endgültig einlenken. Er wurde von Reichskanzler Bülow zu der öffentlichen Erklärung genötigt, von nun an die verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten der Regierung und ihrer Minister wahren zu wollen.

Bülow und die Fortsetzung der Sammlungspolitik

Seit der zweiten Hälfte der 1890er Jahre hatte Bernhard Graf v. Bülow gemeinsam mit Johannes v. Miquel und Alfred v. Tirpitz den Versuch unternommen, die von Bismarck inspirierte Politik einer Sammlung der "staatserhaltenden und produktiven Stände" auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Bau einer Schlachtflotte kam den ökonomischen und politischen Ambitionen des industriellen Bürgertums entgegen, während ein erneuerter Zolltarif die protektionistischen Bedürfnisse der konservativen Agrarier befriedigen sollte. Das Bündnis von Agrariern und Industriellen blieb jedoch angesichts auseinandertreibender Interessengegensätze vor allem in der überfälligen Reichsfinanzreform höchst brüchig. Und im Reichstag waren Konservative und Nationalliberale allein, anders als im Hegemonialstaat Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht, nicht mehrheitsfähig, so dass weitere Bündnispartner notwendig wurden. Zeitweilig gelang dies mit dem Zentrum, seit 1907 dann mit den Linksliberalen, die sich von ihrer Mitarbeit liberale Reformen erhofften. Der Bülow-Block brachte jedoch keine Schritte zu einer Parlamentarisierung der Reichspolitik, sondern er zerbrach 1909 an seinen inneren Gegensätzen.

Bekanntmachung von 1910: "Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch."

Krise des politischen Systems

Die Reichstagswahlen des Jahres 1912 machten schließlich deutlich, wie sehr die Politik des Kaiserreichs nicht nur polarisiert, sondern auch paralysiert war: Die oppositionellen politischen Linksparteien SPD und "Fortschrittliche Volkspartei" (FVP) errangen mit insgesamt fast 50 % der Stimmen und fast 40% der Mandate einen großen Wahlsieg, ohne jedoch mehrheitsfähig zu werden und eine gemeinsame Reformperspektive entwickeln zu können. Ihr Aufkommen bestärkte auf der anderen Seite die Radikalisierung der konservativen und nationalistischen Kräfte, so dass der Spielraum für eine nationale Sammlungspolitik immer enger wurde. Reichskanzler Theobald v. Bethmann-Hollweg sah sich stattdessen gezwungen, mit seiner bürokratischen "Politik der Diagonalen" zwischen den auseinandertreibenden politischen Kräften zu lavieren, ohne klare Perspektiven weisen zu können. Zweifellos befand sich die Reichspolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht in einer offenen Krisensituation. Doch vieles spricht dafür, dass ihre Blockade in der Julikrise 1914 die Idee einer "Flucht nach vorn" durch eine aggressive Außen- und Kriegspolitik nachhaltig bestärkt hat.

Ausgewählte Literatur:

Berghahn, Volker R.: Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971

Geoff Eley, Wilhelminismus, Nationalsozialismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991

Kühne, Thomas: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994

Lässig, Simone u. a. (Hg.), Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und Politische Kultur, Bielefeld 1995

Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995 

Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996

M. Messerschmidt, Militär und Politik in der Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975

Nipperdey, Thomas: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961

Pflanze, Otto (Hg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, München 1983

M. Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977

Ritter, Gerhard A.: Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985

Röhl, Johm C. G.: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1988

Rohkrämer, Thomas: Der Militarismus der "kleinen Leute". Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990

Sperber, Jonathan: The Kaiser’s Voters. Electors and Elections in Imperial Germany, Cambridge 1997

Stegmann, Dirk: Die Erben Bismarcks. Konservatismus und nationale Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln u. Berlin 1970

Wette, Wolfram: Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871-1945, Berlin 2005

Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, München 1999

Fussnoten

Weitere Inhalte

Apl. Prof. Dr. Wolfgang Kruse, geb. 1957, ist Akademischer Oberrat und außerplanmäßiger Professor im Arbeitsbereich Neuere Deutsche und Europäische Geschichte am Historischen Institut der Fernuniversität Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des Ersten Weltkriegs, die Geschichte der Französischen Revolution, Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und die Geschichte des politischen Totenkults. Von Kruse ist u.a. erschienen: Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009 (Geschichte Kompakt der WBG).