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Ungarn: Skandalisierung statt Aufarbeitung

Dr. Laszlo Levente Balogh

/ 11 Minuten zu lesen

In Ungarn gründete die Stasi eine "Balaton-Brigade". Operative Urlauber des MfS sollten Beziehungen wischen BRD- und DDR-Touristen enttarnen. Aber die Suche nach Akten ist kompliziert. Ungarn tat sich schwer mit der Aufarbeitung, viele Papiere sind vernichtet.

In zerrissenen Akten der DDR-Auslandsspionage HV A wurde 2011 dieses Informationsangebot des MfS an den ungarischen Geheimdienst über westdeutsche Parteien entdeckt. Der undatierte Schnipsel trägt die Unterschrift des bis 1986 im MfS aktiven Stasi-Generaloberst Markus Wolf. (© BStU VReko)

In Ungarn kam eine grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit der Geheimdienste erst in den letzten Jahren in Gang. Die Schwierigkeit der Forschung lag darin, dass Ende 1989 ein Großteil der Geheimdienstakten vernichtet wurde. Er reichte bis in die 1960er Jahre zurück.

Schon im Verlauf des Wendeprozesses brach der erste große Skandal namens "Dunagate" aus, in dessen Verlauf das Ausmaß der Vernichtungen öffentlich bewusst wurde. Der Name des Skandals "Dunagate" (= "Donaugate") verweist auf den amerikanischen Watergate-Skandal, obwohl es dazu viele Unterschiede gibt. Am 5. Januar 1990 hielten zwei damals außerparlamentarische oppositionelle Gruppierungen (SZDSZ= Bund der Freien Demokraten und Fidesz= Bund der Jungen Demokraten) in einem Kino in Budapest eine Pressekonferenz darüber ab, dass die Staatssicherheitsorgane des Innenministeriums weiterhin Informationen über oppositionelle Bewegungen und Politiker sammeln würden. Sie wiesen nach, dass die Sammlung der Informationen durch heimliche Abhöraktionen, fortgesetzte Briefkontrolle und Berichte verdeckter Geheimdienstagenten erfolgte.

Das Sammeln solcher Informationen war jedoch nach der Verfassungsänderung 1989 verfassungswidrig, daher verlangten die oppositionellen Gruppen die Ablösung und den Abtritt der Verantwortlichen. Nicht nur die gesetzwidrige Beobachtung war der Gegenstand des Skandals, sondern es stellte sich heraus, dass im Innenministerium ständig Akten vernichtet wurden. Dazu führten die oppositionellen Gruppen schriftliche und filmische Beweismaterialien vor. Im Dezember 1989 Externer Link: berichtete die unabhängige Redaktion "Black Box" (= Fekete doboz) über streng geheime Dokumente und zeigte Filme illegaler Aktenvernichtungen. Die bisherigen Vertreter der Macht waren sichtlich überrascht und versuchten sich vom Skandal zu distanzieren, sie wiesen eine Verantwortung von sich. Die Führer der Geheimdienste behaupteten, gesetzeskonform zu handeln. Die von Medien dokumentierten Fakten ließen sich jedoch nicht lange leugnen, da sie am 19. Januar 1990 ein bisher unbekannter Kronzeuge bestätigte, der ehemalige Offizier der Geheimdienste József Végvári. Er berichtete ausführlich über das Ausmaß von Observationen und der Aktenvernichtungen. Einige Tage später trat der Innenminister zurück.

Erschwerte Aktenlage, auch zum Thema Stasi

Forschungen zu Ungarns Geheimdienst wurden auch dadurch erschwert, dass keine einheitliche Dokumentation über Einzelthemen zur Verfügung standen. Sie lagerten zu zerstreut bei ehemaligen Einheiten der Geheimdienst-Nachfolgeinstitutionen. So musste auch das Wirken der Stasi in Ungarn aus Versatzstücken rekonstruiert werden. Doch sie reichen aus, um zumindest einzelne Teilbereiche gut zu beleuchten, beispielsweise die Zusammenarbeit mit dem MfS. Eine erste Grundsatzarbeit dazu verfasste Ágnes Jobst, Mitarbeiterin des Historischen Archivs der Staatssicherheitsdienste (=Nemzetbiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára). Sie bearbeitete in ihrem ausführlich mit Dokumenten ausgestattetem Buch ,,Die Tätigkeit der Stasi in Ungarn: die Beziehung der ostdeutschen und ungarischen Staatssicherheit 1955-1989 (Budapest, 2015)" dieses weniger bekannte Thema.

Nach ihren Erkenntnissen begann die ungarisch-ostdeutsche Geheimdienst-Zusammenarbeit ab März 1955 im Rahmen einer Geheimdienst-Kooperation der sozialistischen Staaten. Sie wurde nach dem Mauerbau 1961 intensiviert. Die Mauer erschwerte die direkten Kontakte zwischen Bürgern der beiden deutschen Staaten. Deshalb spielten Reiseländer wie die Tschechoslowakei, Bulgarien und natürlich Ungarn eine wichtige Rolle, wo Verwandte und Freunde sich wiedersehen konnten – unauffällig als Touristen. 1964 gründete die Stasi in diesen drei Ländern operative Gruppen mit der Aufgabe, ost-westliche Bürgerbeziehungen zu observieren und eventuelle Fluchtversuche zu verhindern.

Stasi-Gründung "Balaton-Brigade"

Die Tätigkeit der Stasi erstreckte sich auf ganz Ungarn, aber es gab zwei Schwerpunkte: Budapest und Balaton/Plattensee. Am Anfang wirkte die Stasi in Ungarn nur in den Sommermonaten. Ab 1975 schickten sie ständige Mitarbeiter nach Ungarn. Die sogenannte "Balaton-Brigade" bestand aus professionellen Agenten und Zivilpersonen, die allein die Aufgabe hatten, die Beziehungen der DDR- und BRD-Touristen zu enttarnen. In den 1980er Jahren arbeiteten 50-60 Personen in der Sommersaison am Plattensee, was 50-60% der diesbezüglichen Stasi-Tätigkeiten betrug. Die Agenten tarnten sich meistens als urlaubende Ehepaare, damit sie unauffällig blieben. Für sie war dies "operativer Urlaub".

Die Tätigkeit der Stasi erreichte ihren Höhepunkt in Ungarn 1989 im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Agenten wurden unter die DDR-Flüchtlinge geschleust mit der Aufgabe, fluchtwillige Personen zu identifizieren und herauszufinden, wer die Tonangeber waren. In den Flüchtlingslagern wurde die angespannte Situation deshalb noch mehr verschärft und es herrschte ein grundsätzliches Misstrauen. Solange es politische Spannungen zwischen Ungarn und der DDR gab, stand der ungarische Staatssicherheitsdienst in ständigen Kontakt mit seinen DDR-Kollegen und versuchte sie zu beruhigen.

Ein Stasi-IM berichtet im Herbst 1989 aus Budapest. (© BStU)

Die Stasi-Agenten verfügten wiederum über genaue Informationen über den ungarischen Transformationsprozess. Sie berichteten ausführlich über reformfreudige Veröffentlichungen in ungarischen Medien und waren bei den wichtigsten Protestaktionen präsent. Über ihre Beobachtungen und Beschattungsaktionen lieferten sie schriftliche Berichte, die von der Botschaft zusammengefasst und nach Berlin geschickt wurden. Das Ministerium der Staatssicherheit sammelte die Berichte in zwei eigens angelegten Dossiers über die ungarischen Reformen mit den Titeln "Die Tätigkeit der sozialismusfeindlichen Kräfte in Ungarn" und "Die alternative politische Kräfte und Gruppierungen in Ungarn". Erst im Februar 1990 wurde die operative Gruppe der Stasi in Ungarn aufgelöst, einen Monat nach dem Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin.

Eine kurze Entstehungsgeschichte des Problems

Die erschwerte Aufarbeitung solcher Geheimdienst-Kooperationen und der generellen Tätigkeit der ungarischen Geheimpolizei von Ungarns staatssozialistischem Regime hängt mit den Eigenheiten des ungarischen Transformationsprozesses von 1989-1990 zusammen. Der Umbruch spielte sich in Ungarn vor allem durch Verhandlungen am Runden Tisch ab. Es gab nicht, wie in der DDR, eine scharfe Zeitwende durch eine Revolution mit landesweiten Demonstrationen, die als symbolisches Ereignis die Zeit in ein Vorher und ein Nachher teilten.

Der ungarische Systemwechsel war ein langwierigerer Prozess, der an mehrere Wendepunkte, aber an keine scharfe Trennlinie zu knüpfen war - und an keine spektakulären Momente, wie der "Sturm auf die Stasi" am 15. Januar 1990 in Berlin. Dies hatte auch damit zu tun, dass die damaligen Vertreter der Macht beim Abbau des staatssozialistischen Systems eine prägende Rolle spielten. Die Nomenklatur wirkte im Veränderungs-Prozess mit und verzichtete gewaltfrei auf ihre politische Herrschaft. Die Transformation gestaltete sich so, dass die nichtkommunistische Opposition mit den Machthabern alles Schritt für Schritt verhandelte. Das Ergebnis wurde vom 1985 letztmalig gewählten kommunistischen Parlament in Gesetzesform gegossen und im Rahmen einer Verfassungsänderung verabschiedet. Diese Vorgehensweise ermöglichte in Ungarn einen friedlichen Übergang.

Aus diesen Umständen ergab sich, dass viele Ebenen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und besonders der staatlichen Instanzen eine starke institutionelle und persönliche Kontinuität erfuhren. Unter stark veränderten gesetzlichen Bedingungen lebten alte Strukturen weiterhin fort. Während der Verhandlungen am Runden Tisch fiel kaum ein Wort über die rechtliche und politische Verantwortung des staatssozialistischen Regimes - und damit auch nicht über die Zukunft der Geheimdienste. In der DDR rückte das Thema dagegen viel stärker in den Mittelpunkt. Nur unter den Gruppierungen von Ungarns nichtkommunistischen Opposition wurde das Thema angesprochen. Da es aber von Anfang an nicht vertieft und geklärt wurde, bildete sich bald ein politisches Konfliktpotenzial, das bis heute reicht. Diese Situation ist einerseits damit zu erklären, dass die neue politische Elite naive und falsche Vorstellungen und keine hinreichenden Kenntnisse über die undurchschaubare Struktur und die Ausdehnung der Geheimdienste besaß. Andererseits war die alte Elite am Abbau der Dienste nicht interessiert, weil sie dadurch die Prozesse der Systemtransformation weiterhin unter Kontrolle zu halten hoffte.

Schrittweise gesetzliche Aufarbeitung

Während also in Deutschland die Aufarbeitung der DDR-Geheimdienstakten beispielhaft schnell in geordnete Bahnen kam und die Aktenvernichtung gestoppt werden konnte, verlief dieser Prozess in Ungarn sehr viel komplizierter. In den Mittelpunkt der ungarischen Aufarbeitungsgeschichte rückte zunächst auch nur die Debatte um die Überprüfung und Entfernung von Mitarbeitern aus dem öffentlichen Dienst mit Geheimdienstvita (Lustration).

Zu ersten Schritten in Richtung einer solchen gesetzlichen Aufarbeitung der Vergangenheit von Ungarns kommunistischer Staatssicherheit kam es 1990, als zwei oppositionelle Abgeordnete des Partei-Bündnisses SZDSZ (Bund der Freien Demokraten) einen Antrag über die Lustration ehemaliger Agenten der inneren Abwehr stellten. Ihr Gesetzentwurf drehte sich allerdings nur um eine einzige Abteilung des Geheimdienstes, um die innere Abwehr. Frage der Wiedergutmachung und wissenschaftlichen Erforschung verknüpft war.

Die Regierungsparteien lehnten den Antrag ab und stellten im Folgejahr ihren eigenen Entwurf vor. Es gab so viele Modifizierungsvorschläge, dass die Regierung den Entwurf zur Überarbeitung zurückzog. Begann die Geschichte der Stasi-Unterlagen-Behörde in Deutschland mit ihrer Eröffnung bereits am 2. Januar 1992, so trat das erste ungarische Gesetz über eine Überprüfung von Personen, die ein öffentliches Amt ausüben, erst am 5. April 1994 in Kraft.

Am 7. April, am letzten Tag der Legislaturperiode wählte das Parlament drei von den sechs Richtern, welche die Lustration durchführen sollten. Auf diese Weise erreichte die Regierung József Antalls, dass sich das Lustrationsgesetz nicht auf die Abgeordneten des ersten freigewählten Parlaments 1990-1994 bezog. Überdies setzte das Verfassungsgericht zahlreiche Verordnungen des Gesetzes außer Kraft, und verpflichtete das Parlament sogleich ein neues Gesetz zu verabschieden. Nach dem Beschluss des Verfassungsgerichts musste das Parlament den Kreis der lustrierenden Personen genau bestimmen, das informationelle Selbstbestimmungsrecht gewährleisten und den Zugang zur Forschung sichern. Als ein großes Problem erwies sich, dass die verbliebenen Akten nicht an einem Ort aufbewahrt wurden, sondern bei verschiedenen Institutionen, die autonom darüber entscheiden konnten, ob sie diese Akten für die Forschung zur Verfügung stellen.

Stasi-Notiz der Hauptabteilung VIII vom 14. Juli 1988 über eine gemeinsame Arbeitsberatung in Budapest. (© Bürgerkomitee 15. Januar e.V.)

Datenschutz für Geheimdienstmitarbeiter

Eine Gesetzänderung aus dem Jahre 1996 versuchte den Vorschriften des Verfassungsgerichts zu entsprechen, aber so viele Aspekte im Rahmen eines einzigen Gesetzes wahrzunehmen und zur Geltung zu bringen, war kein einfacher Prozess. Doch am Ende gab es Erfolge, die sich zumindest ein wenig am deutschen Vorbild orientierten: Im Rahmen der "informationellen Wiedergutmachung" durften Bürger nunmehr Akten einsehen, in denen es sich um sie selber handelte, allerdings durften sie die Namen ihrer Agenten nicht erfahren, die über sie berichteten. Ein großer Fortschritt auf dem Weg der Institutionalisierung war, dass aufgrund des Gesetzes ein Historisches Amt (= Történeti Hivatal) ins Leben gerufen wurde, das seit 2001 als Archiv wirkt. Ein großer Teil der Unterlagen befand sich aber nach wie vor bei staatlichen Behörden, die eigenständig entscheiden konnten, ob ihre Akten weiterhin als geheim gelten sollen. Auf diese Weise waren die Dokumente der einstigen Geheimdienste auch leicht zu manipulieren. Das Recht der Staatssicherheitsmitarbeiter auf persönlichen Datenschutz und das sichere Fortbestehen der Geheimdienst-Nachfolger-Behörden schienen wichtiger als das Recht der einst Unterdrückten zum Zugang zu den Spitzel-Akten über sie.

Erst 2002 reichte der damalige Ministerpräsident Péter Medgyessy, nachdem er selber in Verruf geraten war, angeblich Geheimoffizier "D-209" der Spionageabwehr gewesen zu sein, zwei Gesetzentwürfe unter den Nummern T/541 und T/542 ein. Der erste Entwurf bezog sich auf die Tätigkeit des Geheimdienstes des kommunistischen Regimes und auf die Institutionalisierung von dessen Aufarbeitung. Infolge dessen wurde das Historische Archiv der Staatssicherheitsdienste (= Nemzetbiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára) gegründet. Im zweiten Entwurf handelte es sich um die Veröffentlichung der Namen derjenigen Personen, die in der Vergangenheit in der Staatssicherheit tätig waren und in der Gegenwart eine öffentliche Position besaßen. Dieser Gesetzentwurf T/541 diente der "informationellen Wiedergutmachung", indem er ermöglichte, dass jemand nicht mehr nur seine eigene Akten, sondern auch die Namen von deren Verfassern prüfen und erfahren konnte. Das Gesetz ermöglichte es auch, dass Nachfahren zu Akten über ihre Eltern und Großeltern Zugang erhielten. Nur wenn die Eltern und Großeltern selber Agenten waren, bekamen die Kinder und Enkel keine Informationen.

Umstritten blieben auch Fälle, in denen eine Person gleichzeitig beobachtete und beobachtet wurde. Auf diese Weise wurden im Verfahren der "informationellen Wiedergutmachung" nur 4-5 Prozent der Agentennamen öffentlich. Das Gesetz ermöglichte Forschern zwar einen tieferen Einblick in das Archiv, damit sie die Geheimdienst-Vergangenheit besser aufklären konnten. Aber nicht immer diente die Forschung der wissenschaftlichen Aufarbeitung, sondern der politischen Diskreditierung. Der zweite Gesetzentwurf, T/542, bezog sich auf die Lustration von verschiedenen Formen der Staatssicherheitstätigkeiten zwischen 1944-1990. Das Parlament verabschiedete jedoch nur das erste Gesetz und so blieb die Lösung einer befriedigenden, umfassenden Lustration weiterhin ungelöst.

Weitere Fortschritte gab es erst im Sommer 2007. Die Regierung Ferenc Gyurcsánys beschloss eine Verordnung mit dem Ziel zur Erstellung einer Kommission von Historikern und Archivaren, die beauftragt wurden, zu erfassen, an wie vielen Orten und in welchem Umfang Dokumente der kommunistischen Staatssicherheit außerhalb des Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste zu finden sind. Diese Bestandsaufnahme verlief erfolgreich und wurde in einem Externer Link: umfangreichen Bericht präsentiert. Die Kommission erarbeitete weitere Vorschläge, wie die diktatorische Vergangenheit anhand von Geheimdienstdokumenten besser aufgearbeitet werden könnte. Doch nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten im April 2009 wurden diese Vorschläge nicht weiter verfolgt.

Dieses insgesamt zögerliche Herangehen an eine umfassende Aufarbeitung der Geheimdiensttätigkeit in Ungarn führte auch zu negativen Begleiterscheinungen in der Öffentlichkeit. Sie öffnete von Anbeginn das Tor zur Skandalisierung von Vergangenheit. Sie machte das Erbe der staatssozialistischen Regime und besonders der Geheimdienste zu einem vielfach missbrauchten Spielball der Parteienpolitik.

Agentenlisten zum politischen Erpressen

Seit der Wende zirkulierten außerdem Listen über angeblichen Agenten des inneren Sicherheitsdienstes, die ständig zum Spielball alltäglicher Parteienpolitik wurden. Sie eigneten sich besonders gut zur Erpressung politischer Gegner im Machtkampf Ungarns.

So überreichte am ersten Tag (3. Mai 1990) des freigewählten Parlaments der abtretende Ministerpräsident Miklós Németh dem neuen Ministerpräsidenten József Antall einen geschlossenen Briefumschlag, in dem angeblich eine Liste mit den Namen der neugewählten Abgeordneten zu finden war, die auf irgendeine Weise mit der kommunistischen Staatssicherheit zusammenwirkten. Die Liste wurde weder damals, noch später veröffentlicht, jedoch verbreiteten sich zahlreiche Legenden, die besagten, dass unter den Abgeordneten der damaligen Regierungsparteien viele ehemalige Agenten saßen.

1991 wollte der damalige Ministerpräsident József Antall seinem Koalitionspartner József Torgyán erneut einen Briefumschlag überreichen. Aber Torgyán wies die Entgegennahme des Ergebnisses seiner Lustration als Provokation zurück. 1993 versuchte der Ministerpräsident innerhalb seiner Partei seinen rechtsradikalen politischen Gegner István Csurka durch einen Agenten-Vorwurf zu marginalisieren und später zu entfernen. Csurka erkannte in einem Zeitungsartikel seine Agenten-Vergangenheit teilweise an und machte später als antikommunistischer und rechtsradikaler Parteiführer eine neue Karriere mit seiner neugegründeten Partei MIÉP.

Der Ministerpräsident als Geheimagent

Die Wahlen 2002 wurden von den Linken MSZP und von den Liberalen SZDSZ sehr knapp gewonnen. Péter Medgyessy wurde zum Ministerpräsident Ungarns. Einige Wochen nach seinem Amtstritt am 18. Juni 2002 erschien ein Artikel auf dem Titelblatt der rechtskonservativen Zeitung "Magyar Nemzet", der behauptete, dass der Ministerpräsident – wie eingangs dieses Textes schon erwähnt - als Geheimoffizier "D-209" der Spionageabwehr wirkte. Der Ministerpräsident stritt seine Tätigkeit zuerst ab, dann erkannte er an, dass er zwischen 1977-1982 aus "patriotischer Verpflichtung" motiviert für den ungarischen Geheimdienst arbeitete. Er argumentierte damit, dass Spionageabwehr eine legitime Tätigkeit sei und natürlich nichts mit der Unterdrückung der Bevölkerung zu tun habe.

Nach dem Ausbruch des Skandals forderte die Opposition den Rücktritt des Ministerpräsidenten und es entstanden heftige Spannungen in der Koalition. Später kamen noch andere mit seiner Person zusammenhängende Dokumente ans Tageslicht, aber deren Echtheit blieb stets umstritten. Der Ministerpräsident überlebte den Skandal und versprach ein neues Gesetz, das eine umfangreiche Erkenntnis und eine detaillierte Forschung über die belastete Vergangenheit ermöglichen sollte.

2014 folgte der letzte Skandal. Viktor Orbán, Ministerpräsident der rechtskonservativen, in seiner Rhetorik schrill antikommunistischen Regierungspartei Fidesz, ernannte László Tasnádi zum Staatssekretär des Innenministeriums. Tasnádi war vor der Wende Oberleutnant und später Hauptmann der kommunistischen Staatssicherheit. Nach der Wende arbeitete Tasnádi weiterhin beim Geheimdienst auf dem Gebiet der inneren Abwehr und der Spionage. Als am 16. Juni 1989 die Umbettung des 1958 hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy erfolgte, wurde er darüber von zwei Agenten informiert. Auch der Name Viktor Orbán tauchte in den Berichten auf, Ungarns seit 2010 regierender und umstrittener Ministerpräsident. Dieser Fall bekräftigt die allgemeine ungarische Annahme: "Mein Agent ist Patriot, dein Agent ist Verräter".

Fazit

Ungarn hat sich zu lange nicht mit der Frage der Geheimdienste auseinandergesetzt und es versäumt, die Geheimdienst-Akten in aller Art frei zugänglich zu machen. Zwar wurde die Situation in den letzten Jahren transparenter und die wissenschaftliche Akten-Aufarbeitung kam schrittweise voran, aber nicht so systematisch, wie in Deutschland. In erster Linie blieb das Thema der Aufarbeitung der Geheimdienstarbeit in Ungarns Vergangenheit für Zwecke der Skandalisierung interessant.

Dr. Laszlo Balogh lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Debrecen, ist Autor mehrerer Fachaufsätze über Aufarbeitung und politische Ethik sowie Referent auf internationalen Tagungen der bpb, zuletzt auf "Mapping memories" in Wien. Er schreibt deutschsprachig.